Samuel R. Delany
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Welche Perspektiven ergeben sich nun auf Dhalgren, wenn man das Buch vierzig Jahre nach Erscheinen liest? Lässt man die Tatsache beiseite, dass die fünfeinhalb Zentimeter Buchrücken in der Tat schwer handhabbar sind, zeigt sich der Roman trotz seiner zeitgenössischen Bezüge – wie Raumfahrt, Vietnamkrieg und Jugendkultur – kaum gealtert, zumal überzeitliche Aspekte dominieren: Selbsterfahrung, kreative Entfaltung und das Ausleben der eigenen Sexualität sind ebenso zeitlos wie der nach wie vor schwelende Konflikt zwischen Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe. Auch wenn Dhalgren in vielen Dingen ein »typischer« Roman aus den USA der 1970er-Jahre ist, lässt er sich keineswegs auf die Dekade festlegen. Vor allem erzählerisch erscheint er weiterhin frisch: Die größte Herausforderung beim Lesen besteht darin, die bewusste Vagheit und Verschwommenheit zu akzeptieren, die das Buch von der ersten bis zur letzten Zeile durchzieht – der Erklärungsmangel wird »zu einem wesentlichen Faktor«[12] in der literarischen Ausgestaltung. Dhalgren ist fragmentarisch, sprunghaft und gegen jede lineare Lektüre entworfen, was eine kausale Interpretation erschwert. Obwohl der Roman durchaus eine wiedergebbare Geschichte erzählt, bleiben viele Details – wie etwa die Zeitstruktur und die Beschaffenheit bestimmter Ereignisse – dauerhaft offen und müssen in dieser Offenheit auch akzeptiert werden. Dies ist speziell aus der auf Eindeutigkeit abzielenden Genreperspektive eine Herausforderung, und so schreibt William Gibson treffend: »Dhalgren is not there to be finally understood. I believe its ›riddle‹ was never meant to be ›solved‹.«[13]
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Zunächst kurz zum Autor und zur Handlung. Der 1942 geborene Samuel R. Delany hatte bereits mit zwanzig Jahren begonnen, SF zu veröffentlichen, wobei seine frühen Arbeiten literarisch weniger ergiebig sind. Ab 1966 jedoch publizierte er in rascher Folge ambitionierte und vielschichtige Bücher, die beinahe durchgehend preisgekrönt wurden: Babel-17 (1966; dt. Babel-17), The Einstein Intersection (1967; dt. Einstein, Orpheus und andere) sowie Nova (1968; dt. Nova) gehören mit den beiden Erzählungen »Time Considered as a Helix of Semi-Precious Stones« (1968; dt. »Zeit, angenommen als eine Helix aus Halbedelsteinen«) und »Aye, and Gomorrha« (1966; dt. »Jawohl, und Gomorrha«)[14] zu den wichtigsten modernen Science-Fiction-Arbeiten überhaupt und sind im US-amerikanischen Kontext dieser Zeit mit den besten Texten von Thomas M. Disch, Robert Silverberg und Roger Zelazny gleichzusetzen; ihre Zugehörigkeit zur »New Wave« dürfte unstrittig sein. Delanys Talent und seine breit gefächerten Interessen sollten ihn mit Dhalgren (1975) erstmals in einen Bereich bringen, der mit dem Etikett »Science Fiction« nur ungenügend erfasst wird; dies gilt auch für seine nachfolgenden Romane Triton (1977) und Stars in My Pocket Like Grains of Sand (1984; dt. In meinen Taschen die Sterne wie Staub), die aber formal konventioneller ausfallen. Seither hat Delany Science Fiction weit weniger beschäftigt als etwa die Fantasy (RETURN TO NEVÈRŸON-Serie, 1979–1987), auch wenn er vereinzelt Bücher mit entsprechenden Elementen publiziert.
Dhalgren lässt sich wie folgt zusammenfassen: Ein siebenundzwanzigjähriger »Indio-Amerikaner« (S. 95) macht sich, nachdem er in einer Höhle eine Kette aus Prismen gefunden hat, auf den Weg nach Bellona, einer verbotenen Stadt, die von einer unbestimmten und lokal begrenzten Katastrophe heimgesucht wurde. Beim Betreten erhält er, der seinen Namen nicht kennt, von zwei jungen Frauen eine als »Orchidee« bezeichnete Waffe und kurz darauf vom Ingenieur Tak Loufer einen Namen: Kid (auch »Kidd« oder »The Kid«). Er lernt Mitglieder einer Jugendgang kennen, die sich als »Skorpione« bezeichnen und auf der Straße hinter Hologrammen verstecken. Von der attraktiven Lanya, die kurz darauf seine Geliebte wird, bekommt er ein bereits benutztes Notizbuch, auf dessen leeren Seiten er Lyrik und spontane Beobachtungen festhält; dabei gibt es Hinweise darauf, dass die Aufzeichnungen zumindest Teile des Texts von Dhalgren enthalten. Kid bemerkt am Nachthimmel einen zweiten Mond und lernt nach und nach verschiedene Subkulturen von Bellona kennen, die sich auf ihre Weise mit der zerstörten Infrastruktur der Stadt arrangiert haben. Familie Richards beispielsweise simuliert eine »Heile Welt«, in welcher der Vater jeden Tag zur Arbeit geht, wohingegen ihre (weiße) Tochter unentwegt versucht, eine sexuelle Beziehung mit dem (schwarzen) George Harrison einzugehen, obwohl er sie einem – allerdings fragwürdigen – Zeitungsbericht nach vergewaltigt haben soll. Als ihr Bruder droht, ihre Neigung publik zu machen, stößt sie ihn in einen Fahrstuhlschacht. Kid hilft den Richards bei einem Umzug, wird aber um seinen Lohn geprellt. Seine Gedichte finden bei dem Dichter Ernest Newboy Anklang, und er erhält von dem Zeitungsverleger Roger Calkins das Angebot, sie in Buchform erscheinen zu lassen. Kid entscheidet sich für den Titel Messing Orchideen. Er nimmt am Überfall auf ein Kaufhaus teil und bemerkt, dass er fortgesetzte Schwierigkeiten mit der Zeitwahrnehmung hat. Sein Buch wird wunschgemäß anonym veröffentlicht; kurz darauf erscheint über Bellona eine riesenhaft aufgeblähte Sonne, die jedoch keine Hitze ausstrahlt. Kids Versuche scheitern, dieses Phänomen wie auch das Rätsel um den zweiten Mond mit dem Astronauten Captain Michael Kamp zu lösen, der ebenfalls keine Erklärung findet. Kid und Lanya gehen mit dem fünfzehnjährigen Denny eine dauerhafte Ménage à trois ein, die aber weitere sexuelle Eskapaden nicht ausschließt. Kid rutscht immer mehr in die Rolle eines Anführers der Skorpione hinein, was bisweilen zu ruppigem Verhalten bei Streitereien führt. Zufällig entdeckt er, dass die hochgeachteten Insignien der Skorpione – wie etwa seine Kette – Produkte industrieller Massenfabrikation sind. Das Erscheinen der Messing Orchideen wird bei Roger Calkins gefeiert, dabei muss sich Kid anhören, er habe die Gedichte gar nicht selber geschrieben, sondern in besagtem Notizbuch vorgefunden. Nach einer Phase vorübergehenden Selbstbewusstseins wachsen nun seine Selbstzweifel.
Während die ersten sechs Teile von Dhalgren größtenteils personal erzählt werden, dominiert im siebten und letzten Kapitel die Ich-Perspektive. Der Text zerfällt in zahlreiche, teilweise mehrspaltig montierte Fragmente, die bisweilen Streichungen aufweisen und von einer Herausgeberinstanz kommentiert sind. – Kid hat mit George Harrison Kinder gerettet und wundert sich, dass der Farbige in dem entsprechenden Zeitungsartikel nicht vorkommt. Kurz darauf wird Kid aufgrund seiner vergleichsweise hellen Hautfarbe verdächtigt, für ein rassistisches Attentat verantwortlich zu sein, was er abstreitet. Kid bringt die Arbeit am Notizbuch zu Ende und hört von einem zweiten Gedichtband, den er geschrieben haben soll, von dem er jedoch nichts weiß. Er begegnet endlich Roger Calkins, der sich in ein Kloster zurückgezogen hat und als Politiker versteht; an Kids Literatur hat er kein Interesse, wohl aber an dessen Rolle in Bellona. Schließlich schreibt Kid in der dritten Person über sich selbst und stellt fest, dass sein Leben mehr und mehr einem Buch ähnelt, bei dessen Lektüre sich der Eindruck einstellt, »der Autor habe den Faden verloren« (S. 956). Es kommt zu einer psychoanalytischen Sitzung bei Madame Brown, in deren Verlauf Kid äußert, dass er Bellona – die »vage, verschwommene Stadt« (S. 489) – verlassen will. Bei einem ausgelassenen Fest erinnert er sich an seine Vornamen »Michael Henry«; der Reporter Bill, mit dem er sich kurz darauf unterhält, ist offenbar jener »William Dhalgren«, dessen Name Kid auf einer Liste begegnet ist, die dem Notizbuch beilag. Kurz darauf findet eine unbestimmte Katastrophe statt, bei der es sich auch um jene handeln könnte, die Bellona vor Handlungsbeginn zerstört hat. Kid verlässt die Stadt und gibt seine Orchidee einer jungen Frau, die nach Bellona will; dabei kommt es zu zahlreichen spiegelbildhaften Entsprechungen der Szene zu Beginn des Romans. Der letzte Satz des Buchs geht (beinahe) nahtlos in den allerersten über: »Warte hier, weg von dem schrecklichen Waffenarsenal, heraus aus den Hallen aus Dunst und Licht, jenseits der Leinwand und in die Berge bin ich gekommen / um / die herbstliche Stadt zu verwunden.« (S. 1011 und S. 5) Der Roman erweist sich als Text ohne Anfang und Ende, der nach dem Prinzip einer Möbiusschleife funktioniert; er könnte daher auch an einem anderen Punkt beginnen oder abschließen.
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