In Bellona trifft Kid schließlich auf William Dhalgren. Die Figur erscheint zunächst als Name auf einer Liste, die im Notizbuch enthalten ist[25] und verloren geht; schließlich kann sich Kid nur noch an ihn erinnern.[26] Er begegnet Dhalgren bezeichnenderweise auf jenem Fest, bei dem ihm seine Vornamen einfallen; dabei wird deutlich, dass es sich um jenen Bill handelt, der zuvor ein Interview mit ihm gemacht hat.[27] William weigert sich spaßhaft, Kid seinen Nachnamen zu nennen, solange der nicht den seinigen sagt, doch Kid erkennt, wen er vor sich hat: »Aber ich weiß, wie er heißt. Das kann nicht anders sein! Er kann nicht irgend jemand anders sein!« (S. 990) Die Figur ist eng mit Kids Selbstfindungsprozess verknüpft, auch wenn dieser unabgeschlossen bleibt und es letztlich erneut dem Rezipienten überlassen wird, in ihr den »William Dhalgren« der Liste zu identifizieren und sie mit dem Titel des Romans in Verbindung zu bringen. Dass hierbei letzte Gewissheiten verweigert werden, bestätigt erneut Delanys Grundkonzept.
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Dhalgren ist ein Experiment zum Thema Freiheit und der Frage, wie weit Freiheit gehen und wie die dazu passende Gesellschaft aussehen könnte. Freiheit meint hier Unbestimmtheit, nämlich die weitgehende Abwesenheit von Gesetzen, selbst Naturgesetzen, aber auch von Identität. Diesem Ansatz entspricht die äußere Form, die Eindeutigkeiten vermeidet, um der Rezeption Spielräume zu eröffnen und Material zum intellektuellen Jonglieren zur Verfügung zu stellen. Damit ragt Dhalgren konzeptuell, thematisch wie stilistisch deutlich über die Grenzen der Science Fiction hinaus und ist für diese Rolle im Sinne eines emanzipatorischen Akts bewusst entworfen worden. Dies belegen nicht zuletzt die Bücher, die in Dhalgren erwähnt werden: Tak Loufer liest John Keats und Rimbaud, aber ebenso Titel zu den Hell’s Angels, den Thriller Deliverance (1970; verfilmt 1972) von James Dickey und den Sexroman Evil Companions (1968) von Michael Perkins,[28] dessen Einbandmotiv von der Surrealistin Leonor Fini ausdrücklich erwähnt wird. Diese Mischung ist betont unkonventionell und wird in dieser Eigenschaft auch ausgestellt. Und: »Es gab noch reichlich Science Fiction von Russ (etwas, das sich The Female Man nannte), Zelazny und Disch.« (S. 58) Tatsächlich ist Dhalgren unter anderem Thomas M. Disch, Judith Merril und Joanna Russ gewidmet; mit Disch, dessen Roman 334 (1972; dt. Angoulême) im Hinblick auf übereinstimmende Motive noch zu prüfen wäre, verband ihn damals eine intensive Freundschaft.[29] Das literarische Panorama, das hier aufscheint, ist so heterogen und egalitär wie Dhalgren selbst und macht zugleich deutlich, wie sich Delany die ideale Rezeption des Buchs vorstellt: Nämlich als unvoreingenommene Lektüre, die sich aus dem Bereich der Science Fiction ebenso speist wie aus dem der Nicht-Science-Fiction. Eine solche Ausrichtung wirkt unterdessen vertrauter, als dies 1975 der Fall gewesen sein mag; eine Herausforderung für das deutschsprachige Publikum bleibt sie weiterhin. Umso mehr wäre es an der Zeit, Dhalgren eine zweite Chance zu geben.
Der Verfasser bedankt sich bei
Annette Charpentier, Christopher Ecker
und Guido Sprenger für wertvolle Hinweise
und hilfreiche Kommentare.
[1]Alle Seitenangaben aus: Samuel R. Delany, Dhalgren, Bastei Lübbe, Bergisch Gladbach 1980.
[2]Jürgen Joachimsthaler: »Dynamisierung der Bilder, Zeichen und Imagines. Samuel R. Delanys Intervention ins Reich der Imagination(en)«. In: Spiegelungen. Entwürfe zu Identität und Alterität, hg. v. Sandra Kersten & Manfred Frank Schenke, Frank & Timme, Berlin 2005, S. 71–120, hier: S. 91.
[3]Kevin J. Ring: Corrections for the Vintage Books Edition of »Dhalgren«, 3rd, 4th, and 5th printings. http://www.oneringcircus.com/dh_errata.html.
[4]Annette Charpentier ist seit 1979 Übersetzerin und hat u. a. Bücher von Piers Anthony, Brian W. Aldiss, Marion Zimmer Bradley, Samuel R. Delany, William Morris und Mervyn Peake (Gormenghast, 1946–1959) übertragen. In ihrer Eigenschaft als Gesprächstherapeutin und Familienmediatorin wurden mehrere Ratgeber von ihr veröffentlicht.
[5]E-Mail an den Verfasser vom 12. Mai 2020.
[6]E-Mail an den Verfasser vom 13. Mai 2020.
[7]Reclams Science Fiction Führer, hg. v. Hans-Joachim Alpers, Werner Fuchs & Ronald M. Hahn, Reclam, Stuttgart 1982, S. 121.
[8]E-Mail an den Verfasser vom 13. Mai 2020.
[9]Jürgen Joachimsthaler: Dynamisierung der Bilder, Zeichen und Imagines. Wie Anm. 2, S. 74.
[10]Kenneth R. James, Introduction. In: Samuel R. Delany, 1984. Selected Letters, Voyant Publishers, Rutherford 2000, S. IX. Hier zit. n. Jürgen Joachimsthaler: Dynamisierung der Bilder, Zeichen und Imagines. Wie Anm. 2, S. 74.
[11]Florian F. Marzin: Mythologie und Sprache. Die Beziehung von Sprache und Mythologie in den Romanen Samuel R. Delanys. In: Das Science Fiction Jahr #7, Ausgabe 1992, hg. v. Wolfgang Jeschke, Heyne, München 1992, S. 526–558, hier: S. 548.
[12]Ebd., S. 557.
[13]William Gibson: The Recombinant City. A Foreword. In: Samuel R. Delany, Dhalgren, Vintage Books, New York, USA 2001, S. XI–XIII hier: S. XI. Das Vorwort erschien zuerst 1996 in der Dhalgren-Ausgabe der Wesleyan University Press.
[14]Beide Texte wurden mehrfach ins Deutsche übertragen und erschienen übersetzt von Waltraud Götting in: Samuel R. Delany, Treibglas. Erzählungen vom Rand der Wirklichkeit, Bastei Lübbe, Bergisch Gladbach 1982.
[15]»Er hatte gewußt, daß er schmutzig war, doch dieser ungeheure Dreck hier im Wasser war schon erstaunlich«, S. 177.
[16]Vgl. hierzu etwa: »Maus schlenderte neben Hölle³ dahin, und sein Stiefelabsatz klapperte und sein nackter Fuß klatschte«. Samuel R. Delany, Nova, Bastei Lübbe, München 1981, S. 16. Schmutz findet sich als (marginales) Element auch in den beiden weiter oben genannten Erzählungen.
[17]Vgl. S. 10 und S. 391f.
[18]Delany hat diesen Gedanken in Triton beträchtlich weiterentwickelt: »Das Buch schildert eine Gesellschaft, in der jeder über sein Geschlecht, seine sexuelle Orientierung und über die Gesetze, denen er unterliegt, selbst entscheiden kann.« Guido Sprenger, E-Mail an den Verfasser vom 22. Mai 2020.
[19]Die Verwendung des Begriffs »Nigger« wird unterdessen speziell in der US-amerikanischen Öffentlichkeit kritisch bewertet. Annette Charpentier: »Nicht, dass es damals kein Problem war, aber die Rezeption war nicht so ›woke‹ wie heute, vierzig Jahre später.« Entsprechend wäre die Verwendung der Vokabel nur noch mit Erklärung denkbar: »Das würde auch für eine bearbeitete Neuausgabe von Dhalgren gelten.« E-Mail an den Verfasser vom 21. Mai 2020.
[20]Eine biographische Anspielung: »Samuel R. Delany muss aufgrund seiner (relativ) hellen Hautfarbe immer wieder betonen, dass er Schwarzer ist.« Jürgen Joachimsthaler: Dynamisierung der Bilder, Zeichen und Imagines. Wie Anm. 2, S. 77.
[21]Vgl. S. 94, S. 601, S. 877.
[22]Vgl. hierzu S. 333 und S. 1011. Die kursive Passage (»Der Himmel ist gestreift …«) entspricht im Original exakt der Formulierung am Romanende. Vgl. Samuel R. Delany, Dhalgren, Vintage Books, New York 2001, S. 261 und S. 801.
[23]Das Motiv des zweiten Erdmonds findet sich auch in: Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1994.
[24]In der Realität wäre dies Apollo XVI (1972).
[25]Vgl. S. 83, S. 679, S. 682 und S. 745. Vgl. zudem »Grendal, Grendal, Grendal …« auf S. 863 bzw. »Grendalgrendalgrendalgrendalgrendalgren …« und die nachfolgende Erklärung auf S. 865.
[26]Vgl. S. 981.
[27]Vgl. S. 813–818.
[28]Die Ausgaben 1992 und 2012 enthalten ein Vorwort von Delany.
[29]Vgl. hierzu: Samuel R. Delany, The American Shore. Meditations on a Tale of Science Fiction by Thomas M. Disch – »Angoulême«, Dragon Press, Elisabethtown 1978; Neuausgabe Wesleyan University Press, Middletown 2014. Die Studie beschäftigt sich mit der zuerst in New Worlds Quarterly 1 (1971) abgedruckten Kurzgeschichte Angoulême, die das 5. Kapitel des Romans 334 bildet.
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