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Dieses Prinzip ist eine Anlehnung an Finnegans Wake (1939) von James Joyce, da der letzte Satz in den ersten übergeht. Auch wenn man diesen Aspekt nicht überbetonen sollte – eine Schleifenstruktur besitzt auch das 1973 erschienene Album The Dark Side of the Moon von Pink Floyd –, führt das Stichwort Joyce zu Delanys Erzählung Time Considered as a Helix of Semi-Precious Stones: Alle falschen Identitäten des Erzählers beginnen mit den Initialen »H. C. E.« und sind damit eine Anspielung auf die Figur des Humphrey Chimpden Earwicker aus Finnegans Wake. Tatsächlich nimmt die preisgekrönte Arbeit über einen kriminellen Händler und eine Ermittlerin viele Motive aus Dhalgren vorweg; genannt seien das subkulturelle Milieu, das Thema der Namensfindung und die Existenz einer Stadt namens Bellona. Zudem werden nicht alle Fragen beantwortet – womit die Figur handelt, bleibt genauso unklar wie der Hintergrund jener Instanz, die die Namen von Halbedelsteinen als Losungsworte verbreitet. Auch Aye, and Gomorrha weist auf Dhalgren voraus: Die Kurzgeschichte um eine Kultur, in der asexuelle »Raumer« gegen Bezahlung fetischistische Beziehungen mit Menschen beiderlei Geschlechts (den »Frelks«) unterhalten, ist bereits von jener sexuellen Ambiguität, die den späteren Roman prägt; dazu passt, dass der Erzähler erneut ein Indio-Amerikaner (wenngleich mit betont dunkler Hautfarbe) ist, dessen Name ungenannt bleibt. Auch hier würde ein genauerer Vergleich weitere Parallelen zutage fördern.
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Dhalgren lässt sich in erster Linie als die Geschichte von Kid und damit als Entwicklungsroman beschreiben. Der junge Mann betritt Bellona als Namenloser, der sich selbst nicht kennt und nun neue Erfahrungen macht, die ihn an die Spitze der Skorpione, in eine Dreierbeziehung und schließlich zum Schreiben führen. Doch er lernt auch seine negativen Seiten kennen, zum Beispiel seinen Hang zur Gewalttätigkeit, der sich in einem sinnlosen Raub – Beute: »drei Dollarnoten« (S. 886) – entlädt. Und er zweifelt an seinen kreativen Fähigkeiten. Nach einer ersten Phase, die von Anmaßungen und Größenwahn (»Selbst-Pontifikation«, S. 537) bestimmt ist, wird er mit massiver Kritik und dem Vorwurf konfrontiert, fremde Texte als die eigenen ausgegeben zu haben. Er schreibt zwar weiter, steht seiner Lyrik aber zunehmend gleichgültig gegenüber; als neue Gedichte verbrennen, gibt er sich unbeeindruckt: »Ich konnte sie nicht leiden. Deshalb ist es gut … daß sie weg sind.« (S. 958). Ob ein zweiter Lyrikband erscheint, bleibt bezeichnenderweise offen, zumal sich Kid weigert, ihn von Roger Calkins verlegen zu lassen, dem gegenüber er abstreitet, noch länger ein Schriftsteller zu sein: »Ich glaube, ich bin kein Dichter … nicht mehr, Mr. Calkins. Ich bin auch nicht sicher, ob ich je einer war.« (S. 938). Was Kid in erster Linie bleibt, sind die Vornamen »Michael Henry«, an die er sich erinnert hat. Zwar fehlt ihm der mit »F« beginnende Nachname, womit der Prozess noch nicht abgeschlossen ist, aber um ein greifbares Ergebnis handelt es sich allemal.
Kids Biographie wird im Buch vergleichsweise ausführlich dargestellt, während die meisten anderen Figuren geschichtslos bleiben. Auffällig sind zwei Eigenschaften an ihm: Sein linker Fuß ist unbekleidet (am rechten trägt er zunächst eine Sandale, dann einen Stiefel), und er hat ein Sauberkeitsproblem. Kid erscheint schmutzig, bisweilen stinkend; seine Reinigungsprozesse – wie etwa das Bad bei den Richards[15] – werden ausführlich dargestellt, vermögen an seinem Zustand aber dauerhaft nichts zu ändern. Beide Elemente lassen sich auch in anderen Texten von Delany nachweisen und werden hier als private Obsessionen gewertet, die aus Dhalgren allein nicht abzuleiten sind.[16] Kid gibt gleich zu Beginn sein Alter mit »Siebenundzwanzig« (S. 9) an und behauptet, 1948 geboren zu sein, was die Handlung auf 1975 datieren würde, dem Erscheinungsjahr des Buchs. Da er den anderen Figuren jedoch mal älter, mal jünger erscheint und das Geburtsjahr mehrfach in Zweifel gezogen wird,[17] ist die Frage ebenso wenig zu klären wie die nach seinem Aussehen. Einerseits werden seine Hände als »abstoßend« (S. 6) beschrieben, andererseits gilt er durchaus als »schön« (S. 7). Die hier aufscheinende Zerrissenheit ist typisch für Kid, der durchaus eine Figur mit Defiziten ist: Geboren im Staat New York als Kind einer Cherokee-Indianerin und eines weißen Methodisten, hatte er »ganz gute Noten in der High-School, aber nicht überragend« (S. 51); seine Zeit an der Universität war von Alkoholmissbrauch und anderen Problemen überschattet: »Ein paarmal habe ich mich beinahe umgebracht. Ich meine nicht Selbstmord. Einfach so, durch Dummheit.« (S. 51) Das College hat er ohne Abschluss verlassen und eine Zeit lang in der Provinz gearbeitet; er war zudem in Japan, Australien und kommt nun aus Mexiko. Doch Kid befand sich wegen Depressionen zwischenzeitlich auch in einer Heilanstalt, wobei zu seinen Symptomen – »ich konnte mich an bestimmte Dinge nicht erinnern« (S. 50) – eine Gedächtnisstörung und Halluzinationen gehörten. Dieses Krankheitsbild wird später aufgegriffen, wenn Kid bemerkt, dass er Probleme mit der Zeitwahrnehmung hat; auch spielt es im Gespräch mit der Therapeutin eine große Rolle, der er eingesteht: »Ich glaube, ich werde verrückt« (S. 968) und erläutert: »Ich füge schnell Dinge in mein Realitätsmodell hinein. Vielleicht zu schnell. Vielleicht macht mich das verrückt.« (S. 966). Die Therapeutin kommentiert: »Sie sind sehr verstört. Sie sind ansehnlich, intelligent, kräftig, vital, begabt. Aber die Grundstruktur Ihrer Persönlichkeit ist ungefähr so stabil wie eine gesprungene Teetasse.« (S. 973) Dies alles macht Kid sowohl zu einer beschädigten Figur als auch zu einem hochgradig unzuverlässigen Erzähler, dessen kognitive Defizite Dhalgren zumindest teilweise prägen. Zudem wird angeboten, in dem Buch das Resultat einer Geisteserkrankung zu sehen, was letztlich jedoch genauso wenig Ertrag erwirtschaftet wie jede andere ausschließliche Lesart.
Auf den ersten Blick überraschend unkompliziert ist hingegen Kids bisexuelle Neigung, die im Roman kaum problematisiert wird, sondern als selbstverständlich erscheint: Er hat homo- wie heterosexuelle Präferenzen, die in der Dreierbeziehung mit Lanya und dem minderjährigen Denny zusammenfließen. Auf die Frage, ob es ihm etwas ausmachen würde, dass er mit Frauen wie Männern gleichermaßen Verkehr hat, antwortet er: »Als ich fünfzehn oder sechzehn war, war es die Hölle für mich. Ich habe mir, glaube ich, viel Sorgen darüber gemacht. Als ich zwanzig war, habe ich gemerkt, daß ich mich sorgen konnte wie ich wollte, es hatte kaum eine Wirkung darauf, mit wem ich ins Bett ging. Jetzt mache ich mir keine Gedanken mehr darüber. So macht es mehr Spaß.« (S. 391) Die libertäre Haltung, sich im Hinblick auf seine sexuelle Identität nicht festlegen zu müssen, entstammt zwar der Aufbruchsstimmung nach 1968, dürfte jedoch in ihrer demonstrativen Lässigkeit zumindest zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung nicht gänzlich unprovokativ gewesen sein.[18] Bezeichnenderweise gerät Kids Sicherheit gegen Ende des Buchs ins Wanken: »Wenn ich anfange, mir beim Bumsen mit Typen Mädchen vorzustellen, vielleicht bin ich gar nicht so bisexuell, wie ich mir immer erzähle? Ich weiß es: Ich bin insgeheim heterosexuell.« (S. 867) Es gibt noch weitere Risse in der erotischen Utopie, die Dhalgren entwirft; etwa wenn Kid feststellt, »wie einsam« (S. 952) jeder der Skorpione um ihn herum trotz aller sexuellen Freizügigkeiten letztlich wäre. Auch ist nicht jede Figur mit der allgemeinen Freiheit einverstanden: »Gottverdammt, manchmal denke ich, niemand außer mir in der Stadt ist nicht schwul«, bemerkt der farbige und betont viril gezeichnete George Harrison, woraufhin ihn Lanya ironisch fragt: »Ist das die männlich-heterosexuelle Standardphantasie? […] Ich meine, der einzige richtige Mann zu sein in einem Haufen Schwuler?« (S. 271)
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