Von allen Kommunikationsformen, die wir kennen, ist Sprache in Bezug auf Treue und Sparsamkeit die effektivste, zu der Menschen fähig sind, und das heißt, diejenige mit dem besten realisierbaren Verhältnis von Anwendungsbreite, Aufwand (Sparsamkeit, Beherrschbarkeit), Eindeutigkeiteindeutig (Treue), Übertragungsrate und Erfolgsaussichten. Der Schreiber der Äußerung in (4) und seine RezipientinnenRezipientin (kommunikative Rolle) sind räumlich und zeitlich voneinander getrennt. Er kann daher nicht einfach auf das Ereignis zeigen, damit sie es ebenfalls in seiner phänomenalen Fülle wahrnehmenWahrnehmung und deuten können, was hinsichtlich des Aufwands, der Eindeutigkeit, Übertragungsrate und der Erfolgsaussichten vielleicht effektiver sein könnte – unter der Voraussetzung, dass die Rezipientinnen das Ereignis vor einem vergleichbaren Horizont von NormenNorm, KonventionenKonvention und PertinenzenPertinenz deuteten. Ohne diesen gemeinsamen Horizont hätte der Schreiber es mit der Zeigegeste den Rezipientinnen selbst überlassen, die pertinenten Aspekte der gesamten Szene auszusondern, was bei ihnen ziemlich sicher zu anderen Antworten auf ihre W -FragenW-Fragen geführt hätte als bei ihm. Er verwendete also den (geschriebenen) sprachlichen Ausdruck, dessen Anwendungsbreite auch die räumliche und zeitliche Trennung zwischen Schreiber und RezipientinnenRezipientin (kommunikative Rolle) überbrückt. Eine Konsequenz dieser Anwendungsbreite ist, dass die Übertragungsrate viel geringer ist. In derselben Zeit, die eine Zeigegeste benötigt, können viel weniger Vorstellungen mitsamt ihren phänomenalen QualitätenPhänomenqualitäten sprachlich kommuniziert werden. Dadurch war der Schreiber gezwungen, das vor seinem Deutungshorizont bereits gedeutete Ereignis zum Zweck der sprachlichen Kommunikation nochmals hinsichtlich seiner – nun kommunikativ – pertinenten Aspekte zu verschlanken, denn nicht alle Aspekte seiner Vorstellung waren ihm bei dem gebotenen Aufwand gleich mitteilenswert (und für die Rezipientinnen gleich bemerkenswert). So geht auf dem Weg von der privaten, aber bestimmten Vorstellung des Ereignisses mitsamt seiner phänomenalen Fülle zu der öffentlich wahrnehmbaren und deutbaren Äußerung in (4) vieles dieser Bestimmtheit mitsamt den phänomenalen Qualitäten verloren.
2.1.4 Die Zwänge der Öffentlichkeit: symbolischeDependenzsymbolische Auslagerung Auslagerungensymbolische Auslagerung
Ich gehe aus methodischen Gründen davon aus, dass das, was die Interpretin zu ihrer interpretativen Aufgabe mitbringt, zunächst nicht mehr ist als ein genetisch ererbtesererbt (vs. erworben) und im Lebensvollzug ausgeprägteserworben (vs. ererbt) Know-how Know-how zur Unterscheidung zwischen Dingen/Gegenständen auf der einen und Eventualitäten auf der anderen Seite. Eventualitäten sind Zustände wie das Blausein eines Buches, Prozesse wie das Erkalten des Bodens, Aktivitäten wie das Singen des Vaters oder das Lächeln der Mutter, oder Kombinationen aus diesen wie das Ereignis des Aufgießens von Earl Grey. Dieses beinhaltet beispielsweise die Aktivitäten des Hebens, Neigens, Gießens und den Prozess des Fließens. Bei dieser Charakterisierung von Eventualitäten ist bereits zu erkennen, dass Eventualitäten streng genommen nichts von den Dingen Unterschiedenes, nichts neben den Dingen sind, sondern diesen zugesprochen werden, um sie zu bestimmen. Die Interpretin kann aber weder auf das Blaue zeigen, ohne gleichzeitig auf das Buch zu zeigen, noch kann sie sich ein Singen vorstellenVorstellung, ohne sich jemanden vorzustellen, der singt. Das Blausein manifestiert sich für sie am Buch und das Singen am Vater, ohne etwas von dem jeweiligen Gegenstand Verschiedenes zu sein. Der Zustand des Blauseins und die Aktivität des Singens sind Bestimmungen, die sie an den Gegenständen vornimmt. Aus der übergeordneten Perspektive der Deutung von Eventualitäten hat unsere Interpretin, so wie wir alle, gute Karten, ihr Wohlergehen zu sichern, wenn sie beispielsweise in der Lage ist, Gegenstände als Steine zu erkennen und einen Prozess, in dem die Steine involviert sind, als ein auf-sie-zu-Fliegen.
Wenn der Schreiber nun auf konventionelle Weise spricht oder schreibt und dabei an die Eigenstruktur der Sprache gebunden ist, kann die Interpretin aber nicht davon ausgehen, dass diese Eigenstruktur in einem einfachen Verhältnis zu ihrem vorsprachlichen Umgang mit Dingen und Eventualitäten steht. Die sprachliche Eigenstruktur weist ihre eigenen Einteilungsschablonen auf, die sie den Vorstellungen bisweilen aufdrücken muss. Man sagt beispielsweise die Aufmerksamkeit auf etwas richten und die Aufmerksamkeit verlieren , als ob über einen Gegenstand geredet würde – die Aufmerksamkeit –, aber man käme sehr schnell in Verlegenheit, wenn man auf ihn zeigen sollte.
Der Schreiber von (4) hat zwei Gegenstände wahrgenommen und sie anschließend als Jünger beziehungsweise Mutter Jesu bestimmt, und er hat zwischen den beiden eine Eventualität des zu-sich-Nehmens erkannt. Aber diese vorsprachliche Tatsache hat zunächst keine zwingenden Konsequenzen für seine Äußerung. Sie zwingt ihn nicht, die als Jünger beziehungsweise Mutter bestimmten Gegenstände mit Substantiven und die Eventualität mit einem Verb und einer Präposition auszudrücken, wie deutsche Muttersprachlerinnen dies vielleicht als natürlich empfinden würden. Wir könnten uns nämlich sehr gut unabgeleitete Verben wie jüngern , muttern und jesussen oder unabgeleitete Adjektive wie jünger (hier nicht als komparativ zu jung), mutter und jesus vorstellen, die so etwas bedeuten würden wie ‚tun, was ein Jünger/eine Mutter/Jesus tut‘ beziehungsweise ‚jünger-/mutter-/jesushaft‘ und wir könnten uns ein unabgeleitetes Substantiv Nehm vorstellen, das ‚jemanden, der nimmt‘ bezeichnet. Nur gibt es diese Möglichkeiten im Dudendeutschen nicht. Das normierte Standarddeutsche weist hier lexikalische Lücken auf. Aber es könnte diese Möglichkeiten geben, wie es Spitze , spitzen und spitz gibt. Abseits vom Dudendeutschen wird beispielsweise tatsächlich das Verb muttern verwendet und in der Sprache der Yuma werden Verwandtschaftsbeziehungen generell durch Verben ausgedrückt.1
Der Schreiber war also nicht gezwungen, der Jünger … nahm zu schreiben, es wären auch der Nehmer jüngerte oder Ähnliches denkbar gewesen. Seine Sprache erlaubt ihm, eine Bestimmung des Gegenstandes (Jüngersein) in das Substantiv einzulagern ( Jünger ), eine andere in das Verb und die Präposition ( nehmen … zu ) und eine dritte in das Adjektiv auszulagern (zum Beispiel langfüßig ). Bei aller hypothetischen Unbeschränktheit ist aber auffällig, dass die Sprachen der Welt nicht zufällig darin variieren, welche Bestimmungen von Gegenständen sie in welche Wortartensyntaktische KategorieWortartWortart ein- oder auslagern. Darin ähneln sie sich sogar weitgehend.2 Ich möchte jede einzelne dieser Bestimmungen als eine konventionalisierte Aspektvereinseitigung Aspektvereinseitigung des betreffenden Gegenstandes auf Kosten anderer möglicher Aspektvereinseitigungen charakterisieren. Ein Gegenstand, dem das Jüngersein zugesprochen wird, ist niemals nur ein Jünger und sonst nichts, und wenn ihm außerdem zugeschrieben wird, dass er etwas nimmt, tut er immer auch etwas anderes als zu nehmen. Wir können aber möglicherweise sagen, dass ihm das Jüngersein länger zukommt und für uns eher als ein konstantes Unterscheidungsmerkmal dienen kann als sein Nehmen. Raumzeitlich konstante Eigenschaften wie Menschsein, Steinsein, Baumsein, Telefonsein, Jüngersein, Muttersein oder Jesussein, die für uns pertinentePertinenz Kriterien für die Unterscheidbarkeit, Erkennbarkeit und Handhabbarkeit von Gegenständen sind, finden wir eher in (unabgeleitete) Substantive eingelagert, während wir dynamische, variable Bestimmungen, die einem Gegenstand bald zukommen, bald nicht zukommen, wie zu greifen, zuzuhören, betrunken zu sein oder etwas zu nehmen, eher in (unabgeleitete) Verben ausgelagert finden.
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