Die Interpretin könnte so ihren interpretativen Anker in die Entäußerung des Schreibers werfen und nun Antworten auf die W -FragenW-Fragen suchen, die durch die Äußerung provoziert werden.
Ich möchte wenigstens versuchen, prinzipiell nachzuvollziehen, über welche Kenntnisse die Interpretin verfügen muss, um ihren Anker in die Äußerung werfen und Antworten auf die W -Fragen geben zu können. Welche Antworten kann sie geben, welche wird sie nicht geben, und warum? Dies darzustellen muss einerseits sehr allgemein und kursorisch ausfallen. Es ist leicht zu sehen, dass eine ausführliche Beschreibung der Ursachen, warum die Deutungen sprachlicher Äußerungen nicht willkürlich erfolgen, einer Universalgrammatik nahekäme, die erklärt, warum Sprache als menschliches Phänomen sowie Einzelsprachen als ihre Instanzen jeweils als Kommunikationsmittel funktionieren. Sie muss andererseits auch zu spezifisch ausfallen, weil ich mich im vorliegenden Buch primär für das Deutsche und Englische interessiere sowie für die W -Fragen in Bezug auf den Äußerungsinhalt. Zum Dritten kann eine schrittweise, das heißt methodische Rekonstruktion der Geregeltheit von Deutungen nicht geleistet werden. Der Grund ist folgender: Bei der Beschreibung, wie die Interpretin ihren interpretativen Anker werfen kann, haben wir bereits auf einige Ausdrucksmittel Bezug genommen, die bereits zur konventionalisierten Eigenstruktur von Sprache gehören, zum Beispiel auf WortartenWortart, SatzgliedreihenfolgeReihenfolge, ProsodieProsodie und FlexionMorphologie. Wenn wir diese Regelungen, denen Deutungen unterliegen, schrittweise einführen wollten, könnten wir sie uns in Form von Wenn …, dann … -Instruktionen denken, so zum Beispiel: Wenn die Äußerung Jünger aufweist, stelle Dir einen bestimmten Jünger vor! Die Schwierigkeiten sind leicht zu erkennen: Der Ausdruck Jünger benötigt für seine Bestimmtheit einen Determinierer. Um die Bestimmung nachzuvollziehen, wird ein Ko(n)text benötigt. Der Determinierer muss in KasusKasus, Numerus und Genus mit Jünger kongruierenKongruenz. Jünger kann auch ein Plural sein. Jünger kann überdies auch als Komparativ von jung verwendet werden. Und warum sollte Jünger ein Ausdruck für einen Gegenstand sein und nicht für eine Tätigkeit oder eine Eigenschaft? Die Anweisung müsste also in der Wenn -Klausel alle unerwünschten Deutungen ausschließen. Dafür müssten wir die Wenn -Klausel um weitere Wenns erweitern, bis die Dann -Klausel erfolgreich befolgt werden könnte. Konsequent durchgeführt, würde das darauf hinauslaufen, dass jede einzelne dieser Wenn …, dann … -Anweisungen unzählige, wenn nicht alle Wenn -Klauseln für eine Sprache, das heißt alle eigenstrukturellen Regelungen für erfolgreiche Interpretationen enthielte. Der erste Schritt der Rekonstruktion wäre damit unter Umständen schon der letzte.
2.2.2 Vom Öffentlichen zum Privaten: ein erster geschummelter Versuchsymbolische Auslagerung
Unabhängig davon, dass die Äußerung des Schreibers ein kooperativer kommunikativer Akt ist, fordert sie bereits als salientesSalienz Phänomen von der Interpretin eine Deutung. Dass die Äußerung ein kooperativer kommunikativer Akt ist, ist bereits das Resultat einer Deutung. Die Interpretin erkennt in der ÄußerungshandlungÄußerungshandlung eine kooperative kommunikative Absicht. Nun muss sie für das Geäußerte selbst Antworten auf die W -FragenW-Fragen finden. Diese Aufgabe ist – um noch einmal daran zu erinnern – umso anspruchsvoller dadurch, dass ihre Deutung etwas mit der Vorstellung des Schreibers gemeinsam haben muss, obwohl diese doch in ihrer sprachlichen Verpackung der meisten Bestimmungen entledigt ist. Denn das Gemeinsame bildet den Kern des Ausdrucks Kommunikation .
Als kooperativer kommunikativer Akt ist die Äußerung für die Interpretin so etwas wie eine Handlungsaufforderung im Sinne von Werde angesichts meiner Äußerung tätig! In welcher Weise sie tätig werden soll, ist damit natürlich noch nicht spezifiziert. Wir haben versucht, mit der Interpretin einen interpretativen Anker in der Äußerung in (4) zu werfen, was sie einer Antwort auf diese Frage näherbringt. Wir konnten über die flektierte Form des Verbs eine Behauptung identifizieren. Als Behauptung zeigt die Äußerung der Interpretin an, wie sie das Behauptete nun praktisch verwerten, also beispielsweise zur Kenntnis nehmen, anerkennen, ihm zustimmen oder es bestreiten und ablehnen kann. Wir mussten dabei aber Bezug auf diverse andere sprachliche Ausdrucksmittel nehmen, die alle ebenfalls Funktionen für die Interpretation haben und kaum unabhängig voneinander charakterisiert werden können. Kraft ihrer Geregeltheit stellen Äußerungen für die Interpretin nun so etwas wie Instruktionen Instruktion zum Aufbau von komplexen Vorstellungen Vorstellung und zum praktischen Verfahren mit diesen Vorstellungen dar .Instruktionsgrammatik1 Sowohl beim Vorstellen als auch beim praktischen Handhaben der Vorstellungen können wir noch weitere Unterscheidungen treffen, die in Abbildung 2 aufgeführt sind.
Abb. 2:
Der Instruktionscharakter von Äußerungen
Die Unterscheidungeninstruktive Leistungen können sicher auch feingliedriger getroffen werden, aber für mein Erkenntnisinteresse reichen sie aus. Das Vorstellen von etwas betrifft die einzelnen Vorstellungen, die durch Ausdrücke oder Ausdrucksteile hervorgerufen werden (a). Hierhin gehören bereits die DependenzenDependenz, die durch symbolische Auslagerungen entstehen. Ein Ausdruck, der eine symbolischesymbolische Auslagerung Auslagerung enthält, instruiert zwar zum Vorstellen von etwas, aber um die Instruktion zu befolgen, muss zuerst dasjenige vorgestellt werden, aus dem der betreffende Aspekt ausgelagert wurde. Eventualitäten können darüber hinaus auf verschiedene Art und Weise vorgestellt werden, wie beispielsweise das zu-sich-Nehmen der Mutter Jesu durch den Jünger aus der – durchaus wörtlich zu verstehenden – Perspektive des Jüngers oder aus der Perspektive der Mutter vorgestellt werden kann (b). Dabei ändert sich der Inhalt der komplexen Vorstellung nicht. Wenn mit Ausdrucksmitteln zum HandelnHandlung instruiert wird, betrifft dieses nun nicht mehr den Vorstellungsinhalt oder die Vorstellungsart und -weise. Dabei geht es einerseits um das Ko(n)textualisieren der Vorstellungen durch ihre Erdung und die Herstellung von Kohärenz . Indem die komplexe Vorstellung in verschiedenen Spannungsfeldern verortet wird, erfährt sie eine Erdung (c). Diese Spannungsfelder betreffen beispielsweise solche zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Abgeschlossenheit und Unabgeschlossenheit, zwischen Wirklichkeit, Möglichkeit, Unmöglichkeit, zwischen Wunsch und Notwendigkeit oder zwischen zuverlässiger und unzuverlässiger Evidenz. Dadurch, dass einzelne oder komplexe Vorstellungen zu anderen Vorstellungen in Bezug gesetzt werden, seien sie im Kotext, im Kontext oder im gemeinsamen (Welt-)Wissen präsent, werden sie ko(n)textualisiert, wodurch Kohärenz entsteht (d). Andererseits betreffen Instruktionen zum Handeln die praktische Verwertung von (geerdeten und ko(n)textualisierten) Vorstellungen, wie wir bereits gesehen haben (e).
Eine konkrete sprachliche Äußerung instruiertinstruktive Leistungen zu diesen Tätigkeiten auf spezifische Weise, aber diese Tätigkeiten sind im Allgemeinen nicht auf die Interpretation sprachlicher Äußerungen beschränkt. Wenn der Schreiber Zeuge der Ereignisse des Evangeliums geworden ist, hat er etwas wahrgenommen, genauso wie die Interpretin der Äußerung sich etwas vorstellt (a); er hat es auf eine bestimmte Weise wahrgenommen, wie die Interpretin sich etwas auf eine bestimmte Weise vorstellt (b); ebenso musste er es deutend in Bezug zu bereits WahrgenommenemWahrnehmung setzen, dabei Beziehungen zwischen diesen erkennen, wie dies die Interpretin mit ihren Vorstellungen ebenfalls tun muss (d); und er nahm die WahrnehmungenWahrnehmung zum Anlass für eigenes Handeln, ebenso wie die Interpretin dies mit der Deutung ihrer Äußerung tun muss (e). Sogar die Aktivität des Erdens übernehmen sowohl der Deutende eines wirklichen Ereignisses als auch die Interpretin eines sprachlich ausgedrückten Ereignisses (c): Während ein wahrgenommenes Ereignis durch seine bloße Gegebenheit für den Wahrnehmenden bereits geerdet ist, gilt dies für eine Vorstellung von einem Ereignis noch nicht, oder nicht mehr. Denn dahingehend, ob die Vorstellung eines Jordanienurlaubs beispielsweise eine Erinnerung an Geschehenes, eine bloße Fiktion oder eine Wunschvorstellung über die Zukunft ist, ist die Vorstellung selbst unbestimmt. Je nachdem, um was es sich handelt, veranlasst sie aber zu unterschiedlichem HandelnHandlung. Dann muss – ähnlich wie bei der Konfrontation mit einer Äußerung – zwischen der Bestimmung des Was Was steht womit in welcher Beziehung? steht womit in welcher Beziehung? und des Was Was kann ich tun? kann ich (jetzt) tun? die Vorstellung erst einmal geerdet werden.
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