44 Da Karl vorausgelaufen war, um Nachschau zu halten, blieb der Doktor eine Weile mit Sabinen allein unter den Tannen stehen. Sie sahen einander an, der Doktor lächelte etwas verlegen; da Sabine ernst blieb, bemerkte er, die Blicke langsam nach verschiedenen Seiten wendend: »Welch ein Friede hier,« und räusperte leise. Karl erschien an einem offenen Fenster und winkte lebhaft. Der Doktor verlieh seinem Antlitz beruflichen Ernst und folgte Sabinen durch den Garten auf die Veranda, wo der Förster und seine Frau sich eben von dem Sohn die Geschichte der nachmittägigen Begegnung berichten ließen. Gräsler, durch die falsche Bezeichnung Förster noch immer irre gemacht, hatte erwartet, sich einem langbärtigen, derben Mann im Jägeranzug mit der Tabakspfeife im Mund gegenüberzusehen und war nun verwundert, als ihn ein schlanker, glattrasierter Herr mit schwarzem, eben erst ergrauendem, sorgfältig gescheiteltem Haar freundlich, aber mit einer irgendwie theatralisch wirkenden Vornehmheit begrüßte. Doktor Gräsler begann damit, den schönen Wald zu preisen, mit dessen 45 ganzer Herrlichkeit ihn erst Karl und Sabine bekanntgemacht hätten; und während sich ein Gespräch über das trotz der reizvollsten Umgebung doch so langsame Aufblühen des Badestädtchens entspann, unterließ Doktor Gräsler keineswegs, an dem Herrn des Hauses seine ärztlichen Beobachtungen anzustellen, vermochte aber vorerst nichts Auffallendes an ihm zu entdecken als eine gewisse Unruhe des Blicks sowie ein oft wiederkehrendes wie verächtliches Zucken der Mundwinkel. Als Sabine das Abendessen meldete, wollte Doktor Gräsler sich verabschieden, doch der Förster, in übertriebener Liebenswürdigkeit, ließ es nicht zu, und so saß der Doktor bald mit Eltern und Kindern am Familientische, über dem von der holzgetäfelten Decke eine grünbeschirmte Lampe herabhing. Er sprach von dem bevorstehenden Samstagkränzchen im Kursaal und wandte sich mit der Frage an Sabine, ob sie an derlei Veranstaltungen manchmal teilnehme.
»In den letzten Jahren nicht mehr,« erwiderte Sabine. »Früher, als ich noch jünger war –.« Und dem abwehrenden Lächeln des Doktors zur 46 Erwiderung fügte sie gleich und, wie ihm schien, nicht ohne Bedeutung bei: »Ich bin nämlich schon siebenundzwanzig.«
Der Vater warf eine spöttische Bemerkung über die kleinlichen Verhältnisse des Badestädtchens ein, fing an, mit Lebhaftigkeit vom Zauber der großen Städte und des bewegten Weltlebens zu reden, und aus seinen weiteren Äußerungen war zu entnehmen, daß er früher Opernsänger gewesen war und diese Laufbahn erst lange nach seiner Verheiratung aufgegeben hatte. Während er nun allerlei Namen nannte von Künstlern, an deren Seite er gewirkt, von Gönnern, die ihn hochgeschätzt, und endlich von Ärzten, deren falschen Behandlungsmethoden er den vorzeitigen Verlust seiner Baritonstimme verdankte, leerte er ein Glas nach dem anderen, bis er ganz plötzlich ermüdet schien und mit einem Male einem verbrauchten und alten Manne gleichsah. Nun hielt es der Doktor an der Zeit, sich zu empfehlen. Die Geschwister begleiteten ihn zum Wagen und erkundigten sich ängstlich nach dem Eindruck, den er von ihrem Vater gewonnen hätte. Doktor 47 Gräsler, wenn er sich auch heute schon getrauen wollte, eine ernstere Erkrankung auszuschließen, sprach die Erwartung aus, bald zu weiterer Beobachtung und lieber noch zu einer ordentlichen Untersuchung Gelegenheit zu finden, ohne die er als gewissenhafter Arzt doch nichts Bestimmtes aussagen könnte.
»Findest du nicht,« wandte sich nun Karl an seine Schwester, »daß der Vater schon lange nicht so gesprächig war wie heute abend?«
»Das ist wohl wahr,« bestätigte Sabine, – und zu Doktor Gräsler gewendet mit einem dankbaren Blick, »Sie sind ihm gleich sympathisch gewesen – man hat es deutlich merken können.«
Mit einer bescheidenen Handbewegung wehrte der Doktor ab, versprach auf der Geschwister Bitte, in den nächsten Tagen seinen Besuch zu wiederholen, und stieg ein. Die Geschwister blieben beide noch eine Weile am Straßenrande stehen und schauten dem Wagen nach. Unter einem kühlen Sternenhimmel fuhr der Doktor nach Hause. Sabinens Vertrauen erfüllte ihn mit Befriedigung, und mit einer um so süßeren, als er vermuten 48 durfte, es nicht allein seinen ärztlichen Fähigkeiten zu verdanken. Es war ihm wohl bewußt, daß er, insbesondere in den letzten Jahren, müder und gleichgültiger geworden, seinen Kranken gegenüber es oft genug an wahrer menschlicher Teilnahme hatte fehlen lassen, und nach langer Zeit ging ihm heute wieder einmal die Hoheit eines Berufes auf, den er in verflossenen Jugendjahren zwar mit Begeisterung erwählt, dessen er sich aber gewiß nicht stets auf gleiche Weise innerlich wert erwiesen hatte.
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Als Doktor Gräsler am nächsten Tag die Tür zu seinem Wartezimmer öffnete, sah er zu seiner Verwunderung unter anderen Patienten Herrn Schleheim sitzen, der als Ersterschienener dem Arzte sofort in den Sprechraum folgte. Der Sänger stellte vorerst die Forderung, daß die Familie niemals von seinem Besuch erfahren dürfte, und war nach erhaltenem Versprechen ohne 49 weiteres bereit, seine Beschwerden vorzutragen und sich einer Untersuchung zu unterziehen. Doktor Gräsler vermochte kein ernstliches körperliches Leiden zu entdecken, doch war eine tiefere seelische Verstimmung unverkennbar, wie sie bei einem Mann nicht überraschend erschien, der in seinen besten Jahren gezwungen war, einen äußerlich glänzenden Beruf aufzugeben, für den er weder in seiner Häuslichkeit und in der Liebe zu den Seinen, noch in eignem inneren Reichtum genügenden Ersatz zu finden verstand. Daß er sich mit jemandem einmal gründlich aussprechen durfte, tat ihm sichtlich wohl. Und so nahm er es gern an, als der Doktor, der erklärte, ihn überhaupt nicht als Patienten betrachten zu können, scherzhaft gewandt um die Erlaubnis ersuchte, bei gelegentlichen Spaziergängen im Forsthaus einsprechen und dort mit ihm plaudern zu dürfen.
Als er nächsten Sonntag vormittag von dieser Erlaubnis Gebrauch machte, traf er den Sänger vorerst allein an, der ihm sofort mitteilte, daß er es doch für klüger gehalten habe, die »Familie«, wie er sich immer zusammenfassend ausdrückte, 50 von der stattgehabten Untersuchung und von deren günstigem Ausgang zu unterrichten, schon um die besorgten Mienen, die ihm widerwärtig seien, nicht mehr sehen und das langweilige Gerede, das ihn zur Verzweiflung bringe, nicht mehr hören zu müssen. Als der Arzt daraufhin die freilich übertriebene, aber dabei doch rührende Besorgnis der Kinder zu rühmen sich anschickte, stimmte der Vater leicht zu und erklärte, an ihnen überhaupt nichts anderes aussetzen zu wollen, als daß sie eben gar so gute und brave Menschen seien. »Darum,« setzte er hinzu, »werden sie beide nicht viel vom Leben haben; wahrscheinlich werden sie es nicht einmal kennen lernen.« Und in seinem Auge schimmerte eine blasse Erinnerung von fernen und verruchten Abenteuern.
Sie hatten nur eine kurze Weile auf der Bank vor der Eingangstür gesessen, als die übrigen Mitglieder der Familie Schleheim herankamen, alle etwas sonntagsmäßig angetan und gerade dadurch kleinbürgerlicher aussehend als sonst. Sabine, die sich dessen bewußt zu sein schien, nahm gleich den bewimpelten Hut ab und strich 51 sich dann wie beruhigt über ihre schlichte Frisur. Der Doktor wurde über Mittag hiergehalten; das Gespräch bei Tische hielt sich durchaus an der Oberfläche der Dinge, und als die Rede darauf kam, daß der Leiter einer dem Badestädtchen ganz nahe gelegenen Heilanstalt sich mit Rücktrittsabsichten trage, fragte die Mutter den Gast beiläufig, ob ihn denn eine solche Stellung nicht lockte, wo ihm vielleicht Gelegenheit geboten würde, seine berühmten Hungerkuren systematisch anzuwenden. Nachdem Gräsler den Scherz lächelnd abgewehrt hatte, bemerkte er, daß er sich zu einer Stellung solcher Art bisher niemals habe entschließen können. »Ich kann auf das Bewußtsein meiner Freiheit nicht verzichten,« sagte er, »und wenn ich auch schon ein halbes dutzendmal hintereinander da unten im Ort praktiziert habe und aller Wahrscheinlichkeit nach in den nächsten Jahren wiederkommen werde, jeder Zwang würde mir die Freude an dieser Gegend, ja an meinem Berufe überhaupt erheblich stören.«
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