Der Doktor runzelte unwillkürlich die Stirn. Etwas kühl fragte er: »Also welche Erscheinungen geben Ihnen denn Anlaß zu Besorgnis?«
»In der letzten Zeit, Herr Doktor, hat der Vater Schwindelanfälle, und gestern abend, wie er vom Sessel aufstehen wollte, ist er beinahe hingefallen und hat sich nur mühselig am Tischrand 35 festgehalten. Und dann, wenn er sein Glas nimmt, um zu trinken, das merken wir schon lange, zittern ihm die Hände.«
»Hm.« Der Doktor sah von seiner Tasse auf. »Ihr Herr Vater nimmt sein Glas wohl ziemlich oft in die Hand, und wahrscheinlich ist nicht immer Wasser im Glas –?«
Der Junge sah zu Boden. »Es kann freilich auch ein wenig damit zusammenhängen, meint Sabine. Und dann raucht der Vater auch den ganzen Tag.«
»Nun, mein lieber junger Herr, Alterserscheinungen müssen das ja eben nicht sein. Also, der Herr Papa wünscht meinen Besuch?« fügte er höflich hinzu.
»So einfach ist das leider nicht, Herr Doktor. Der Vater dürfte gar nicht wissen, daß Sie seinetwegen kommen, er hat nie was von einem Doktor hören wollen. Und Sabine meint, ob man es nicht auf einen Zufall hinausspielen könnte.«
»Auf einen Zufall?«
»Zum Beispiel, wenn Herr Doktor nächstens einmal wieder am Forsthaus vorbeikämen, wie neulich am Nachmittage, da würde die Sabine 36 Sie von der Veranda aus grüßen oder anrufen, und Herr Doktor kämen heran – und – und dann müßte man eben weitersehen.«
Der Doktor fühlte sich bis in die Stirn rot werden. Und mit dem Löffel in der leeren Tasse rührend, sagte er: »Zum Spazierengehen reicht ja meine Zeit leider nicht sehr oft. Allerdings neulich einmal, ach ja, da bin ich wohl recht nah am Forsthaus vorbeigekommen.« Er wagte nun aufzuschauen und sah zu seiner Beruhigung den Blick des Knaben völlig harmlos auf sich gerichtet. In geschäftsmäßigem Ton fuhr er fort. »Wenn es nicht anders zu machen ist, so will ich denn Ihren Vorschlag – – freilich, mit einem Gespräch auf der Veranda wird wenig getan sein. Ohne gründliche Untersuchung läßt sich ja doch nichts sagen.«
»Selbstverständlich, Herr Doktor. Wir hoffen ja, daß der Vater sich allmählich auch dazu entschließen wird. Aber wenn Sie ihn zuerst nur einmal sehen würden! Herr Doktor haben ja so viel Erfahrung. Vielleicht könnten Sie’s ermöglichen, Herr Doktor, dieser Tage einmal nach Ihrer 37 Ordination, am liebsten freilich wäre es uns schon heute –«
Heute – wiederholte Gräsler bei sich – heute schon könnte ich sie wiedersehen! Wie wunderbar! Aber er schwieg, blätterte in seinem Notizbuch, schüttelte den Kopf, schien vor unüberwindlichen Schwierigkeiten zu stehen, bis er plötzlich einen Bleistift nahm, entschlossen irgend etwas ausstrich, was gar nicht dastand, und auf die nächste Seite, da ihm dieses Wort eben zuerst einfiel, »Sabine« schrieb. Und er entschied sich freundlich, aber kühl: »Also schön, sagen wir denn: heute zwischen halb sechs und sechs. Ist Ihnen das recht?«
»Oh, Herr Doktor …«
Gräsler erhob sich, wehrte die Dankbezeugungen des Knaben ab, gab ihm Empfehlungen an Mutter und Schwester mit und reichte ihm zum Abschied die Hand. Er trat dann vom Balkon in sein Zimmer und sah vom Fenster aus, wie der junge Schleheim mit seinem Rad aus dem Hausflur kam, die Kappe fester in die Stirn drückte, sich flink und geschickt aufschwang und bald um 38 die nächste Ecke verschwunden war. Wäre ich nur um zehn Jahre jünger, dachte der Doktor, so könnte ich mir einbilden, das Ganze sei nichts als ein Vorwand des Fräulein Sabine, um mich wiederzusehen. Und er seufzte leise.
Bald nach fünf Uhr, in einem hellgrauen Anzug, dessen Trauercharakter im übrigen durch den Flor um den linken Arm gewahrt blieb, fuhr er von Hause ab. Seine Absicht war es, den Wagen in der Nähe des Forsthauses halten zu lassen; aber viel früher schon, bald nachdem er das Bereich der Villen verlassen hatte, sah er zu seiner angenehmen Überraschung auf dem schmalen Wiesenpfad, der sich längs der Landstraße hinzog, Sabine und ihren Bruder sich entgegenkommen. Er sprang aus dem langsam talaufwärts fahrenden Wagen und reichte zuerst Sabinen, dann dem Knaben die Hand.
»Wir müssen Sie sehr um Entschuldigung bitten,« begann Sabine leicht erregt. »Es ist uns nämlich nicht gelungen, den Vater zu Hause zu halten; und vor dem späten Abend wird er wohl nicht zurück sein. Ich bitte sehr, seien Sie 39 mir nicht böse.« Der Doktor hätte gern eine verdrossene Miene gezeigt, es gelang ihm aber nicht, und er sagte leichthin: »Das tut ja nichts.« Er sah auf die Uhr mit gerunzelter Stirn, als gelte es eine neue Einteilung für den Rest des Tages zu treffen; dann schaute er auf und mußte lächeln, da er Sabine und ihren Bruder wie zwei Schulkinder, die eigentlich eine Rüge erwarteten, am Wegrand stehen sah. Sabine trug heute ein weißes Kleid, ein breitrandiger Strohhut hing ihr an einem losen gelben Band über den linken Arm herab, und sie sah viel jünger aus als neulich.
»Und an solch einem heißen Nachmittag,« sagte der Doktor beinahe vorwurfsvoll, »sind Sie mir zu Fuß so weit entgegengekommen! Das war wirklich nicht notwendig.«
»Herr Doktor,« entgegnete Sabine ein wenig verlegen, »ich möchte doch vor allem, zur Vermeidung jedes Mißverständnisses, ausdrücklich betonen, daß auch dieser nicht geglückte Besuch selbstverständlich geradeso wie jede ärztliche Visite –
40 Der Doktor unterbrach eilig. »Da muß ich doch bitten, mein Fräulein. Auch wenn unser Anschlag heute gelungen wäre, von einer ärztlichen Visite könnte keineswegs die Rede sein. Vielmehr bitte ich, mich bis auf weiteres nur als Mitverschworenen zu betrachten.«
»Wenn Sie die Sache so nehmen, Herr Doktor,« erwiderte Sabine, »so machen Sie es mir einfach unmöglich –«
Doktor Gräsler unterbrach nochmals. »Es war heute ohnedies meine Absicht gewesen, eine Spazierfahrt zu unternehmen. Und vielleicht gestatten Sie mir, Ihnen, da es sich schon so fügt, den Wagen zur Nachhausefahrt zur Verfügung zu stellen, ja? Und wenn Sie mich mitnehmen wollen, so darf ich mich vielleicht bei dieser Gelegenheit nach dem Befinden Ihrer Frau Mama erkundigen.« Er fühlte sich als Mann von Welt und nahm sich flüchtig vor, im nächsten Sommer doch wieder in einem größeren Badeort seine Praxis auszuüben, obwohl er in solchen bisher niemals Glück gehabt hatte.
»Der Mutter geht’s ausgezeichnet,« sagte 41 Sabine. »Aber wenn Sie den Abend schon verloren geben, Herr Doktor, wie wär’s« – und sie wandte sich an ihren Bruder –, »wenn wir dem Herrn Doktor unsern Wald zeigten, Karl?«
»Ihren Wald?«
»Wir heißen ihn so,« sagte Karl. »Er gehört wirklich uns allein. Von den Kurgästen kommt keiner so weit. Da gibt es wunderschöne Partien. Manche wie im Urwald.«
»So was muß man sich natürlich ansehen,« sagte der Doktor. »Ich nehme dankbar an.«
Der Wagen wurde für alle Fälle in die Nähe des Forsthauses dirigiert, und Doktor Gräsler, von den Geschwistern geleitet, schlug einen Feldweg ein, der ganz schmal, so daß eines sich hinter dem andern halten mußte, zuerst zwischen mannshohen Ähren, dann über Wiesengrund in den Wald hineinführte.
Der Doktor sprach davon, daß er schon sechs Jahre allsommerlich hierherkäme und die Gegend eigentlich doch nicht recht kenne. Dies aber sei nun einmal sein Los. Schon als Lloydarzt habe er meistens nur die Ufer gesehen, bestenfalls die 42 Hafenstädte und deren nächste Umgebung; tiefer ins Land zu streifen, habe der Dienst beinahe immer verwehrt. Da Karl durch wiederholte Fragen sein Interesse für ferne Gegenden und Seereisen kundgab, nannte der Doktor aufs Geratewohl die Namen mancher Küstenorte, in die oder an denen vorüber sein Beruf ihn vor Jahren geführt hatte; und daß er so als eine Art von Weltfahrer gelten durfte, gab seiner Rede eine Lebhaftigkeit und Laune, die ihm sonst nicht immer zu Gebote standen. Von einer Lichtung aus eröffnete sich ein anmutiger Ausblick nach dem Städtchen, von wo das gläserne Dach der Trinkhalle in der Abendsonne heraufglitzerte. Man beschloß, eine Weile zu rasten. Karl streckte sich der Länge nach ins Gras hin, Sabine setzte sich auf einen abgehauenen, entrindeten Baumstamm; Doktor Gräsler aber, der seinen hellgrauen Anzug keinerlei Fährlichkeiten aussetzen wollte, blieb stehen, erzählte von seinen Reisen weiter; seine Stimme, sonst trotz häufigen Räusperns etwas belegt, erklang ihm selbst mit einer neuen oder ihm wenigstens fremd gewordenen Weichheit, 43 und er fand sich mit einer Teilnahme angehört, deren er schon lange nicht genossen hatte. Am Ende erbot er sich, die Geschwister heimzubegleiten, so daß der Vater, wenn er schon zu Hause wäre, ohne weiteres an eine zufällige Begegnung glauben könnte, wodurch dann die Bekanntschaft in der harmlosesten Weise eingeleitet sei. Sabine nickte in einer kurzen, ihr ganz eigenen Art, was dem Doktor eine entschiedenere Zustimmung erschien, als Worte bedeutet hätten. Auf dem sich leicht bergab senkenden, immer breiter werdenden Waldwege war es nun hauptsächlich Karl, der die Unterhaltung führte und Reise-, ja Entdeckungspläne entwickelte, in deren kindlicher Abenteuerhaftigkeit Nachklänge kürzlich gelesener Jugendschriften nicht zu verkennen waren. Früher als der Doktor erwartet hatte, stand man vor dem Gartenzaun, und zwischen den hohen Tannen, in verdämmerndem Weiß schimmerte die Rückseite des Forsthauses mit ihren sechs schmalen, gleichförmigen Fenstern. Auf dem zertretenen Rasen zwischen Haus und Zaun, roh gezimmert, stand ein länglicher Tisch mit Bank und Sesseln.
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