Während Beate diesen Erinnerungen nachhing, fühlte sie immerfort, wie irgend etwas anderes gespenstisch quälend und gleichsam auf Erlösung wartend, in ihrer Seele hin und her ging. Erst nach einigem Besinnen ward ihr bewußt, daß der letztbegonnene Satz ihres unvollendeten Briefes, in dem sie von Hugo erzählen wollte, ihr keine Ruhe ließ, und daß sie sich entschließen mußte, den zu Ende zu denken. Sie war sich klar darüber, daß sich in Hugo irgend etwas vorbereitete oder vollzog, was sie längst erwartet und was sie doch nie für möglich gehalten hatte. In früheren Jahren, als er noch ein Kind war, hatte sie gern den Gedanken gehegt, ihm später einmal nicht nur Mutter, sondern auch Freundin und Vertraute zu bedeuten; und noch bis in die letzte Zeit, da er ihr zugleich mit seinen kleinen Schulsünden auch die ersten knabenhaften Verliebtheiten zu beichten kam, durfte sie sich einbilden, daß ihr so seltenes Mutterglück beschieden sein könnte. Hatte er sie nicht die rührend-kindischen Verse lesen lassen, die er der kleinen Elise Weber, der Schwester eines Schulkollegen, gewidmet, und die diese selbst niemals zu Gesichte bekommen hatte? Und im vergangenen Winter erst, hatte er der Mutter nicht gestanden, daß ein kleines Fräulein, dessen Namen er ritterlich verschwieg, ihn in der Tanzstunde während eines Walzers auf die Wange geküßt hatte? Und im letzten Frühjahr, hatte er ihr nicht, verstört beinahe, von zwei Buben aus seiner Klasse berichtet, die in fragwürdiger Gesellschaft einen Abend im Prater verbracht und sich gerühmt hätten, erst des Morgens um drei wieder nach Hause gekommen zu sein? So hatte Beate zu hoffen gewagt, daß Hugo sie auch zur Vertrauten ernsterer Empfindungen und Erlebnisse erwählen, und sie imstande sein würde, ihn durch Zuspruch und Rat vor mancher Trübsal und Gefahr der Jünglingsjahre zu bewahren. Nun aber erwies sich, daß all dies nur Träume eines verwöhnten Mutterherzens gewesen waren; denn da die erste seelische Bedrängnis ihn anfiel, zeigte Hugo sich fremd und verschlossen, und die Mutter stand solchem ihr neuen Wesen scheu und ratlos gegenüber.
Sie zuckte zusammen. Denn im ersten Windhauch des späten Nachmittags, gleich einer höhnischen Bestätigung ihrer Seelenangst, sah sie in der Tiefe unten von dem Giebel der lichten Villa am See die verhaßte weiße Fahne wehen. Frech gezackt, der zudringlich lockende Gruß einer Verworfenen an den Knaben, den sie verderben wollte, flatterte sie zur Höhe auf. Unwillkürlich wie drohend erhob Beate die Hand; dann aber trat sie rasch ins Zimmer zurück, in einem unbezwinglichen Drang, ihren Sohn zu sehen und sich mit ihm auszusprechen. Sie legte ihr Ohr an die Verbindungstüre, um ihn nicht etwa aus gutem Schlummer aufzustören; und wirklich war ihr, als hörte sie wie früher seinen ruhigen starken Knabenatem gehen. Vorsichtig öffnete sie nun die Türe mit der Absicht, Hugos Erwachen abzuwarten und dann, neben ihm am Diwan sitzend, in mütterlicher Zärtlichkeit sein Geheimnis zu erfragen. Aber erschrocken gewahrte sie, daß das Zimmer leer war. Hugo war nicht mehr da. Er war fortgegangen, ohne wie sonst der Mutter Adieu zu sagen und sich den gewohnten Kuß auf die Stirne zu holen; — offenbar aus Scheu vor der Frage, die er seit Tagen auf ihren Lippen sich hatte vorbereiten gesehen und die sie, nun erst wußte sie’s, heute, jetzt, in dieser Viertelstunde an ihn gerichtet hätte. So weit also war er, so entrückt ihr durch seine Unruhe, durch seine Wünsche allein. Das hatte aus ihm der erste Händedruck jener Frau gemacht, neulich auf der Landungsbrücke; das ihr Blick, der ihn gestern von der Galerie der Schwimmanstalt aus lächelnd gegrüßt hatte, da sein lichter Knabenleib aus den Wellen emporgetaucht kam. Freilich, — er war siebzehn vorüber; und niemals hatte die Mutter sich eingebildet, daß er sich aufbewahren würde für eine, die ihm bestimmt wäre, vom Anbeginn aller Tage, und die ihm begegnen würde, jung und rein wie er selbst. Nur dies eine ersehnte sie für ihn: daß er nicht mit Ekel aus seinem ersten Rausch erwachte, mit seiner duftenden Jugend nicht der Lust einer Frau zum Opfer fiele, die ihren halbvergangenen Bühnenruhm nur einer schillernden Dirnenhaftigkeit verdankte und deren Wandel und Ruf auch in ihrer späten Ehe keine Änderung erfahren hatten.
Beate saß auf Hugos Diwan im halbdunklen Zimmer, mit geschlossenen Augen, den Kopf in die Hände gestützt, und überlegte. Wo mochte Hugo sein? Bei der Baronin am Ende? Das war undenkbar. So rasch konnten diese Dinge sich nicht vollziehen. Aber, bestand überhaupt noch eine Möglichkeit, den geliebten Buben vor einem so kläglichen Abenteuer zu bewahren? Sie fürchtete, nein. Denn sie ahnte ja: wie Hugo die Züge seines Vaters trug, so rann auch dessen Blut in ihm, das dunkle Blut jener Menschen aus einer andern, gleichsam gesetzlosen Welt, die als Knaben schon von männlich-düsteren Leidenschaften durchglüht werden und denen noch in reifen Jahren Kinderträume aus den Augen schimmern. Das Blut des Vaters nur? Rann das ihre etwa träger? Durfte sie sich das heute einbilden, einfach darum, weil seit dem Tode des Gatten keine Versuchung an sie herangetreten war? Und weil sie niemals einem andern gehört hatte, war darum minder wahr, was sie dem Gatten einstmals gestanden: daß er nur darum ihr ganzes Leben als Einziger erfüllt hatte, weil in den tiefen Nächten, da ihr sein Antlitz verdämmerte, er ihr immer wieder einen andern, einen neuen bedeutete, — weil sie in seinen Armen des königlichen Richard Geliebte war und Cyranos und Hamlets und all der andern, die er spielte: die Geliebte von Helden und Bösewichtern, Gesegneten und Gezeichneten, spiegelklaren und rätselvollen Menschen? Ja, hatte sie nicht, halb unbewußt, nur darum schon als junges Mädchen den großen Schauspieler sich zum Gatten gewünscht, weil eine Verbindung mit ihm ihr die einzige Möglichkeit bot, den ehrbaren Lebensweg zu gehen, der ihr nach ihrer bürgerlichen Erziehung vorgezeichnet schien, und doch zugleich das abenteuerlich-wilde Dasein zu führen, nach dem sie in verborgenen Träumen sich sehnte? Und sie erinnerte sich, wie sie sich Ferdinand, nicht nur gegen den Willen ihrer Eltern, deren frommer Bürgersinn den leisen Schauder vor dem Komödianten auch nach vollzogener Heirat nie ganz verwinden konnte, sondern auch gegen einen viel bedenklicheren Feind zu erobern verstanden hatte. Zur Zeit, als sie Ferdinand kennenlernte, stand er in stadtbekannten Beziehungen zu einer nicht mehr jungen, reichen Witwe, die den jungen Schauspieler in seinen Anfängen vielfach gefördert, ja öfters seine Schulden bezahlt haben sollte, und von der loszureißen es ihm, wie es hieß, nun an der nötigen Willenskraft fehlte. Damals hatte Beate den romantischen Entschluß gefaßt, den herrlichen Mann aus so unwürdigen Banden zu befreien: und in Worten, wie sie nur das Bewußtsein einer niemals wiederkehrenden Stunde einzugeben vermag, von der alternden Geliebten Ferdinands die Lösung eines Verhältnisses gefordert, das an seiner inneren Unwahrheit doch über kurz oder lang, und dann vielleicht zu spät für das Heil des großen Künstlers und der Kunst zusammenbrechen müßte. Wohl erfuhr sie damals eine spöttisch-verletzende Abweisung, an der sie lange trug, und es dauerte noch ein volles Jahr bis zu Ferdinands endgültiger Befreiung; aber daß jene Unterredung den ersten Anlaß hierzu bedeutet, daran hätte Beate nicht zweifeln können, auch wenn ihr Gatte nicht selbst, immer wieder, auch vor Leuten, die es nicht im geringsten kümmerte, die Geschichte mit heiterem Stolz zum besten gegeben hätte.
Beate ließ die Hände von den Augen sinken und erhob sich in plötzlicher Erregung vom Diwan. Wohl lagen bald zwanzig Jahre zwischen jenem törichtkühnen Schritt und heute; aber war sie seither eine andere geworden? War in ihr heute nicht die gleiche Zielbewußtheit und der gleiche Mut? Durfte sie sich heute nicht mehr zutrauen, das Schicksal eines Menschen, der ihr teuer war, nach ihrem Sinn zu lenken? War sie die Frau, die stumm warten mußte, bis ihres Sohnes junges Leben beschmutzt und für immer zerstört war, statt, wie einst vor jene andere, heute vor die Baronin hinzutreten, die am Ende doch auch eine Frau war und es irgendwo, wenn auch im verstecktesten Winkel ihrer Seele, verstehen mußte, was es bedeutete, Mutter zu sein? Und dieses Einfalles wie einer Erleuchtung froh, trat sie zum Fenster, öffnete die Läden, und in neuer Hoffnung nahm sie das Bild der lieben Landschaft wie einen Gruß der Verheißung in sich auf. Doch sie fühlte, daß es darauf ankam, den kühnen Entschluß noch mit dem Selbstvertrauen des ersten Augenblicks zur Tat zu machen; ohne weiteres Zögern begab sie sich daher in ihr Schlafzimmer und klingelte dem Mädchen, das ihr beim Ankleiden heute mit besonderer Sorgfalt behilflich sein mußte. Sobald dies zu ihrer Zufriedenheit besorgt war, setzte sie ihren breitkrempigen Panamahut mit dem schmalen schwarzen Band auf das dunkelblonde, dichtgewellte Haar, wählte aus dem Blumenglas, das auf dem Nachtkästchen stand, von den drei roten Rosen, die sie heut Morgen vom Stock geschnitten, die frischeste, steckte sie in den weißen Ledergürtel, nahm ihren schlanken Bergstock in die Hand und verließ das Haus. Sie fühlte sich froh, jung und ihrer Sache gewiß.
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