»Miss Renfrew«, rief die Schwester leise. Dottie fuhr zusammen und stand auf. Sie sah Kay mit einem letzten verzweifelten Blick an, wie eine Internatsschülerin, die in das Zimmer der Vorsteherin zitiert wird. Langsam, mit fast versagenden Knien, bewegte sie sich auf das Ordinationszimmer der Ärztin zu. Am Schreibtisch, im weißen Kittel, saß eine Frau mit olivfarbener Haut und einem dicken schwarzen Haarknoten. Die Ärztin sah sehr gut aus und mochte vierzig Jahre alt sein. Ihre großen glänzenden Augen ruhten kurz auf Dottie, während ihre breite Rechte mit den spitz zulaufenden Fingern auf einen Stuhl wies. Sie begann mit der Anamnese, als handle es sich um eine übliche Konsultation. Sachlich notierte ihr Bleistift Dotties Antworten über Masern, Keuchhusten, Hautekzeme und Asthma. Und doch fühlte Dottie einen warmen, hypnotischen Charme, den sie ausstrahlte und der Dottie mitzuteilen schien, dass sie sich nicht zu fürchten brauche. Fast erstaunt wurde sich Dottie klar, dass sie beide Frauen waren. Die weibliche Aura der Ärztin wirkte, ebenso wie der weiße Kittel, beruhigend auf die Patientin. Der Ehering machte auf Dottie einen ebenso vertrauenerweckenden Eindruck wie die Trägerin.
»Haben Sie schon Verkehr gehabt, Dorothy?« Die Frage schien sich so natürlich an die Liste von Operationen und früheren Krankheiten anzuschließen, dass Dottie die Frage bejahte, noch ehe sie Zeit fand, sich zu genieren. »Gut!«, meinte die Ärztin und lächelte Dottie, welche sie verwundert ansah, ermutigend zu. »Das erleichtert uns die Anprobe«, erläuterte sie in lobendem Ton, als sei Dottie ein braves Kind gewesen. Dottie staunte über die Geschicklichkeit der Ärztin und saß, von ihrer Persönlichkeit ganz benommen, mit großen Augen da, während ihr durch eine Reihe von Fragen, wie mit einer kunstvoll gehandhabten Zange, völlig schmerzlos Auskünfte entrissen wurden. Dieses schmerzlose Verhör verriet keine größere Neugier hinsichtlich der näheren Umstände von Dotties Defloration. Dick hätte genauso gut ein chirurgisches Instrument sein können. War Dottie ganz perforiert worden, hatte sie stark geblutet, große Schmerzen gehabt? Welches Verhütungsmittel war angewendet worden, hatte sich der Akt wiederholt? »Interruptus«, murmelte die Ärztin und notierte das auf einem zweiten Schreibblock. »Wir wissen immer gern«, erklärte sie mit einem raschen herzlichen Lächeln, »welche Methoden unsere Patientinnen angewendet haben, bevor sie zu uns kommen. Wann fand der Verkehr statt?« – »Vor drei Tagen«, erwiderte Dottie errötend und glaubte, nun komme die persönliche Seite zur Sprache. »Und wann war Ihre letzte Periode?« Dottie gab das Datum an und die Ärztin warf einen Blick auf ihren Tischkalender. »Sehr schön«, sagte sie. »Gehen Sie jetzt in das Badezimmer, entleeren Sie Ihre Blase, und ziehen Sie Hüftgürtel und Schlüpfer aus, das Unterkleid dürfen Sie anbehalten, aber legen Sie bitte den Büstenhalter ab.«
Dottie störte weder die Unterleibsuntersuchung noch die Anprobe des Pessars. Schlimm wurde es für sie erst, als sie lernen sollte, es sich selber einzulegen. Obwohl sie sonst recht geschickte Hände hatte, fühlte sie sich plötzlich durch die Ärztin und die Schwester irritiert, deren forschende Blicke sie so prüfend und unpersönlich abtasteten wie der Gummihandschuh der Ärztin. Beim Zusammendrücken des Pessars rutschte ihr das glitschige, salbenbeschmierte Ding aus der Hand, schoss quer durch den Raum und traf den Sterilisator. Dottie wäre am liebsten im Erdboden versunken. Aber für die Ärztin und die Schwester war das anscheinend nichts Neues. »Versuchen Sie es noch einmal, Dorothy«, sagte die Ärztin gelassen und holte ein neues Pessar der richtigen Größe aus der Schublade. Dann hielt sie, wie zur Ablenkung, einen kleinen Vortrag über die Geschichte des Pessars, wobei sie jedoch Dottie nicht aus den Augen ließ: dass schon die alten Griechen einen medizinischen Stöpsel kannten, ebenso die Juden und Ägypter, wie Margaret Sanger in Holland das moderne Pessar erfunden, welche Kämpfe man vor den hiesigen Gerichten ausgefochten hatte … Dottie hatte das alles schon gelesen, wollte das aber der brünetten, stattlichen Frau, die mit ihren Instrumenten wie eine Tempelpriesterin hantierte, nicht sagen. Wie jeder aus den Zeitungen wusste, war die Ärztin selbst erst vor ein paar Jahren im Verlauf einer Razzia in einer Klinik für Geburtenbeschränkung verhaftet und dann freigesprochen worden. Sie über ihre Lebensaufgabe sprechen zu hören war eine Ehre, gleichsam als ob man den Mantel des Propheten berührte. Dottie war gebührend beeindruckt.
»Eine Privatpraxis ist doch wohl recht unbefriedigend«, erkundigte sie sich teilnahmsvoll. Für eine so dynamische Person wie die Ärztin konnte es nicht sehr aufregend sein, jungen Mädchen Pessare anzupassen. »Wir haben immer noch eine große Aufgabe vor uns«, seufzte die Ärztin und entfernte das Pessar mit einem kurzen anerkennenden Nicken. »So viele unserer Klinikpatientinnen wollen das Pessar, das wir ihnen verordnen, nicht benutzen oder wenigstens nicht regelmäßig benutzen.« Die Schwester wiegte den Kopf unter der weißen Haube und schnalzte missbilligend. »Und gerade die haben es am nötigsten, ihre Kinderzahl zu beschränken, nicht wahr, Frau Doktor? Bei unseren Privatpatientinnen können wir uns eher darauf verlassen, dass sie unsere Vorschriften befolgen, Miss Renfrew.« Sie grinste anzüglich. »Ich brauche Sie jetzt nicht mehr, Miss Brimmer«, sagte die Ärztin, die sich am Spültisch die Hände wusch. Die Schwester ging hinaus, und Dottie, die sich mit ihren umgerollten Strümpfen und dem lose hängenden Büstenhalter ziemlich albern vorkam, wollte ihr folgen. »Einen Augenblick, Dorothy«, sagte die Ärztin, drehte sich um und fixierte sie mit ihrem leuchtenden Blick. »Haben Sie noch irgendwelche Fragen?« Dottie schwankte. Sie hätte nun, da das Eis gebrochen war, liebend gern mit dieser Frau über Dick gesprochen. Aber ihr nunmehr geschärfter Blick las Müdigkeit im abgespannten Gesicht der Ärztin. Außerdem warteten noch andere Patientinnen, und draußen saß Kay. Und was, wenn die Ärztin ihr dann raten würde, sofort in den Vassar-Club zurückzukehren, ihre Sachen zu packen, mit dem Sechs-Uhr-Zug nach Hause zu fahren und Dick niemals wiederzusehen? Dann brauchte sie das Pessar gar nicht, und alles wäre umsonst gewesen.
»Ärztliche Aufklärung«, sagte die Ärztin freundlich und musterte Dottie mit einem nachdenklichen Blick, »kann der Patientin häufig zum vollen sexuellen Genuss verhelfen. Die jungen Frauen, die mich aufsuchen, haben das Recht, vom Geschlechtsakt die größtmögliche Befriedigung zu erwarten.« Dottie kratzte sich am Kinn. Die Haut oberhalb ihrer Brust verfärbte sich fleckig. Was sie vor allem fragen wollte, musste eine Ärztin, insbesondere eine verheiratete, vielleicht wissen. Sie hatte Kay natürlich nichts von dem gesagt, was sie noch immer beschäftigte: Was bedeutete es, wenn ein Mann mit einem ins Bett ging, aber einen kein einziges Mal küsste, nicht einmal im erregendsten Augenblick? In der Fachliteratur hatte Dottie nichts darüber gefunden, vielleicht war es so selbstverständlich, dass die Wissenschaftler es gar nicht eigens erwähnenswert fanden. Vielleicht gab es, wie Dottie schon zu Anfang vermutete, eine ganz natürliche Erklärung dafür, wie Mundgeruch oder Mundfäule. Oder es handelte sich um ein Gelübde, wie manche Leute geloben, sich nicht zu rasieren oder zu waschen, bis irgendetwas Bestimmtes in Erfüllung gegangen ist. Aber es wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen und wann immer sie daran dachte, errötete sie über beide Ohren, wie eben jetzt. Im Grunde ihrer Seele befürchtete sie, Dick sei, wie Papa sagen würde, ein Tunichtgut. Hier hätte sie nun die Gelegenheit, es in Erfahrung zu bringen. Aber in dem blitzenden Ordinationszimmer wusste sie nicht, wie sie die Frage formulieren sollte. Wie drückte man sich technisch aus? »Wenn der Mann sich der Oskulation enthält?« Ihr Grübchen zuckte verlegen, nicht einmal Kay würde so etwas sagen. »Ist es vielleicht nicht normal …«, begann sie und starrte dann hilflos auf die große Frau, die völlig ungerührt schien, »wenn vor dem Geschlechtsakt …« – »Ja?«, ermutigte sie die Ärztin. Dottie hüstelte in ihrer kehligen, zögernden Art. »Es ist furchtbar einfach«, entschuldigte sie sich, »aber anscheinend weiß ich nicht, wie ich es sagen soll.« Die Ärztin wartete. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen, Dorothy. Jede Technik«, begann sie gewichtig, »die beiden Partnern Vergnügen verschafft, ist durchaus statthaft und natürlich. Es gibt keine Praktik, weder oral noch manuell, die beim Liebesspiel nicht zulässig wäre, sofern sie beiden Partnern Vergnügen bereitet.« Dottie bekam eine Gänsehaut, sie wusste ziemlich genau, was die Ärztin meinte, und konnte nicht umhin, sich mit Entsetzen zu fragen, ob sie in ihrer Ehe auch praktizierte, was sie predigte. Ihr schauderte. »Danke, Frau Doktor«, sagte sie ruhig und brach das Thema ab.
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