Auf dem Weg zur Ärztin, auf dem Oberdeck eines Fifth-Avenue-Busses, berichtete Kay Dottie alles, was Harald ihr über die Regeln der Verhütung gesagt hatte. Er behauptete, es sei eine Etikette wie jede andere – nämlich ein Sittenkodex, der sich aus den sozialen Gegebenheiten entwickle und vom wirtschaftlichen Standpunkt aus zu betrachten sei. Ein Ehrenmann (und das war Dick in Haralds Augen) würde einem Mädchen niemals zumuten, das Geld für die ärztliche Konsultation, das Pessar, die Salbe und den Irrigator auszugeben, wenn er nicht beabsichtigte, so lange mit ihr zu schlafen, bis ihre Auslagen sich amortisiert hatten. Davon könne Dottie überzeugt sein. Ein Mann, der nur an ein flüchtiges Abenteuer denke, würde lieber dutzendweise Präservative kaufen, selbst wenn sie sein eigenes Vergnügen beeinträchtigten. Auf diese Weise sei er nicht an das Mädchen gebunden. Die unteren Klassen zum Beispiel würden die Verhütung niemals der Frau überlassen. Das mache nur der Mittelstand. Ein Arbeiter mache sich entweder keine Gedanken wegen einer möglichen Schwangerschaft oder misstraue dem Mädchen zu sehr, um ihr die Sache zu überlassen.
Dieses Misstrauen, hatte Harald gesagt, das tief in der männlichen Natur wurzele, hindere selbst Männer des Mittelstandes oder gehobener Berufe, Mädchen wegen eines Pessars zur Ärztin zu schicken. Zu viele Blitzhochzeiten hätten ihre Ursache darin, dass der Mann sich darauf verließ, dass das Mädchen das Pessar eingelegt hatte. Außerdem war da noch das ganze problematische Drum und Dran. Das unverheiratete Mädchen, das bei seinen Eltern lebte, benötigte für Pessar und Irrigator ein Versteck, das die Mutter beim Aus- und Aufräumen der Kommodenschubladen nicht sofort entdecken konnte. Das hieß, dass der Mann – außer er war verheiratet – ihre Sachen in seinem eigenen Badezimmer aufbewahren müsse. Die Obhut dieser Gegenstände nehme die Form einer heiligen Hüterschaft an. Wenn ihr Hüter nun einigermaßen feinfühlig sei, so schließe das Vorhandensein der betreffenden Gegenstände in seiner Wohnung den Besuch anderer Frauen aus, die womöglich im Medizinschrank herumstöberten oder sich gar für berechtigt hielten, ihren geheiligten Irrigator zu benutzen.
Bei einer verheirateten Frau sei, wenn es sich um eine ernsthaftere Beziehung handle, die Situation die gleiche: Sie kaufe sich ein zweites Pessar und einen zweiten Irrigator, die sie in der Wohnung ihres Liebhabers deponiere, und das Vorhandensein dieser Gegenstände habe auf die Dauer einen hemmenden Einfluss, wenn er die Neigung verspürte, sie zu betrügen. Ein Mann, dem diese wichtige Ausrüstung anvertraut wird, so Harald, sei gewissermaßen wie ein Bankangestellter gebunden. Wenn er sich mit einer anderen Frau einlasse, so tue er das wahrscheinlich in ihrer Wohnung oder einem Hotelzimmer oder sogar in einem Taxi – an irgendeinem Ort, der nicht durch jene geheiligten Mahner geweiht sei. So verpfände auch die verheiratete Frau ihre Liebe, indem sie das zweite Pessar ihrem Liebhaber anvertraue. Nur eine sehr grob gestrickte Frau würde für ihren Mann wie für ihren Liebhaber dasselbe Pessar benützen. Solange der Liebhaber das Pessar in seiner Obhut habe, wie der mittelalterliche Ritter den Schlüssel zum Keuschheitsgürtel seiner Dame, könne er sich ihrer Treue sicher sein. Obwohl auch das einen Irrtum nicht ausschließe. Harald hatte die Geschichte von einer abenteuerlustigen Ehefrau erzählt, die in der ganzen Stadt Pessare deponiert hatte, wie ein Matrose, der in jedem Hafen eine Frau hat, wohingegen ihr Mann, ein vielbeschäftigter Theaterdirektor, sich ihrer ehelichen Treue zu vergewissern glaubte, indem er täglich das Kästchen im Medizinschrank inspizierte, wo wohleingepudert das eheliche Pessar lag.
»Harald hat die Sache offenbar eingehend studiert«, bemerkte Dottie verschmitzt. »Ich habe es sehr schlecht erzählt«, erwiderte Kay ernst. »Wenn Harald es erzählt, sieht man die ganze Sache unter dem Gesichtspunkt des Besitzes, dem Fetischismus des Besitzes. Ich riet ihm, für den Esquire darüber zu schreiben. Der bringt manchmal ganz gute Sachen. Findest du nicht auch, dass er es tun sollte?« Dottie wusste darauf keine Antwort. Sie fand Haralds Auffassung ziemlich unerfreulich, so kalt und durchdacht, wenn er auch eine Menge davon verstehen mochte. Es war jedenfalls etwas völlig anderes als das, was man den Prospekten über Empfängnisverhütung entnahm.
Ferner, zitierte Kay, bereite die Beseitigung von Pessar und Irrigator gewisse Schwierigkeiten, wenn eine Beziehung zu Ende sei. Was soll der Mann mit diesen hygienischen Reliquien anfangen, wenn er – oder die Frau – des anderen überdrüssig ist? Man könne sie nicht wie Liebesbriefe oder einen Verlobungsring durch die Post zurückschicken, obwohl auch das schon mancher Rohling getan hätte. Andererseits könne man sie auch nicht in den Abfalleimer werfen, wo Hausmeister oder Zimmerwirtinnen sie finden würden. Sie ließen sich nicht verbrennen, ohne einen fürchterlichen Gestank zu verursachen, und sie für eine andere Frau aufzuheben sei bei unseren bürgerlichen Vorurteilen undenkbar. Man könne sie eventuell, eingewickelt in Papier, spätnachts zu einem der öffentlichen Abfallkörbe tragen oder in den Fluss werfen, aber Freunde von Harald, die das einmal getan hatten, waren dabei tatsächlich von der Polizei ertappt worden. Wahrscheinlich hatten sie sich zu auffällig benommen. Die Beseitigung von Pessar und Irrigator, dem Corpus delicti einer Liebesaffäre, sei, wie Harald sich ausdrückte, genauso schwierig wie die Beseitigung einer Leiche. »Ich sagte, man könne es doch genauso machen wie die Mörder in einem Kriminalroman: sie in der Kofferaufbewahrung der Grand Central Station abgeben und dann den Aufbewahrungszettel wegwerfen.« Kay lachte in ihrer schallenden Art, aber Dottie schauderte. Es würde absolut nicht komisch sein, wenn sich ihr und Dick das Problem einmal stellen sollte. Sooft sie an die Zukunft dachte, an die entsetzlichen Komplikationen, die eine heimliche Liebesbeziehung mit sich brachte, hätte sie am liebsten aufgegeben. Und Kays Ratschläge, wenn auch zweifellos gut gemeint, schienen darauf angelegt, sie durch ihre Unerbittlichkeit und ihren Zynismus zu deprimieren.
Infolgedessen, fuhr Kay fort, schicke ein Junggeselle, der bei Verstand sei, ein Mädchen nur dann wegen eines Pessars zum Arzt, wenn ihm viel an ihr liege. Schwierigkeiten träten lediglich bei bürgerlich verheirateten Frauen oder bei Mädchen der Gesellschaft auf, die mit den Eltern oder anderen Mädchen zusammenwohnten. Es gebe freilich auch Frauen leichteren Kalibers, geschiedene Frauen und alleinstehende Sekretärinnen und Büroangestellte mit eigener Wohnung, die sich ihre Ausrüstung selbstständig besorgten und ihren Irrigator an die Badezimmertür hängten, für jeden sichtbar, der bei einer Cocktailparty einmal das Bad benutzen musste. Einer von Haralds Freunden, ein erfahrener Regisseur, besehe sich grundsätzlich immer erst das Badezimmer, bevor er etwas mit einem Mädchen anfange. Hinge der Irrigator an der Tür, könne er mit neunzig Prozent Wahrscheinlichkeit beim ersten Versuch bei ihr landen.
Sie verließen den Bus an der unteren Fifth Avenue. Dotties Gesicht war voller Flecken – ein sicheres Zeichen dafür, dass sie nervös war. Kay gab sich mitfühlend. Dies sei ein wichtiger Schritt für Dottie, sie habe Dottie eine Vorstellung davon vermitteln wollen, wie wichtig es sei, viel wichtiger als der Verlust ihrer Jungfräulichkeit. Für eine verheiratete Frau sei es natürlich etwas anderes. Harald sei gleich dafür gewesen, dass sie Dottie begleite und sich ebenfalls ein Pessar anpassen lasse. Sowohl sie wie auch Harald verabscheuten Kinder und hatten nicht die geringste Absicht, welche in die Welt zu setzen.
Kay hatte in ihrer eigenen Familie erlebt, welche Belastung Kinder für eine Ehe bedeuten können. Der vielen Geschwister wegen musste Papa schwer schuften. Hätte er nicht so viele Kinder gehabt, wäre er vielleicht ein berühmter Spezialist geworden statt ein hart schuftender praktischer Arzt, an dessen Leistungen auf orthopädischem Gebiet und in der Meningitisforschung nun eine Station des Krankenhauses erinnerte. Dem armen Papa hatte es richtig Spaß gemacht, sie in den Osten nach Vassar zu schicken. Sie war die Älteste und Gescheiteste, und sie war davon überzeugt, dass er ihr zu dem Leben verhelfen wollte, das er selbst hätte haben können, draußen in der großen Welt, wo er die Anerkennung gefunden hätte, die er verdiente. Er wurde heute noch zu Forschungsarbeiten in die großen Laboratorien des Ostens eingeladen. Aber er meinte, er sei jetzt zu alt, um noch zu lernen, er verkalke schon. Er hatte Kay und Harald gerade einen fürstlichen Scheck geschickt. Sie waren darüber zu Tränen gerührt gewesen – es war viel mehr, als Mutter und er jemals für die Fahrt und Unterkunft ausgegeben hätten, wenn sie zur Hochzeit gekommen wären. Es sei ein Vertrauensbeweis, hatte Harald gesagt. Und sie und Harald hatten nicht die Absicht, dieses Vertrauen dadurch zu enttäuschen, dass sie Kinder kriegten, bevor Harald sich in der Theaterwelt einen Namen gemacht hatte. Das Theater – seltsamer Zufall – war eine von Papas großen Passionen. Er und Mutter besuchten in Salt Lake City alle Vorstellungen durchreisender Theatergruppen und gingen, wenn sie zu Ärztekongressen nach New York kamen, fast jeden Abend in eine Vorstellung.
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