Die Zärtlichkeit
der Fische
Erzählungen
Marie Levy, geboren 1967, lebt in München. Sie studierte Ethnologie und arbeitet seit vielen Jahren als Journalistin im In- und Ausland. „Marie Levy“ ist ein Pseudonym.
Copyright: © 2014 Marie Levy
Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
ISBN 978-3-7375-1818-5
Umschlagbild: Lilly Gaza
Reproduktion: Garnet Polivka
Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren der Liebe,
die wir hinterlassen, wenn wir gehen.
Albert Schweitzer
„Yo soy la Colombiana“ sagt sie, um der Welt zu zeigen, dass sie, Lorena, einundzwanzig, ihr keine Rechenschaft schuldet. „Ich bin die Kolumbianerin“.
„Wenn ich in ein Restaurant gehe und mir ist danach, dann ziehe ich einfach die Schuhe aus und setze mich so – weil es mir so gefällt“. Und zum Beweis zieht sie sich die Schuhe aus und kreuzt die Beine auf dem Stuhl.
Klein, zart, mit burschikosen Bewegungen duldet sie keine Traurigkeit oder schlechte Laune in ihrer Umgebung. „Was machen wir nun?“, fragt sie in diesem Fall. „Lasst uns Spaß haben!“ Und sie lacht.
Spielen sie in der Disko keinen Reggae, dann tanzt sie eben Salsa. Nicht so elegant wie die anderen, nicht so gekonnt, aber dafür mit doppelt so viel Energie.
Findet sie keine Touristen, denen sie einen Ausflug in die Umgebung organisieren kann, dann macht sie eben Schmuck aus Silberdraht. Ist der Vorrat noch groß genug, sitzt sie an ihrem Schmuckstand am Fluss bei den anderen, handelt ein bisschen, lernt diesen oder jenen kennen, tauscht Informationen aus. Findet heraus, was für sie wichtig ist.
Die Polizei ist wieder auf der Suche nach den Führern, die illegal arbeiten? Gut, keine Touren in den nächsten Tagen. Hat sie Geld, kann sie die Sache mit den Polizisten auch anders regeln.
Manchmal genügt es, eine Nachricht in Umlauf zu setzen, ich brauche dieses oder jenes, endlich eine Lizenz als Führer vielleicht. Möglich, dass Tage später einer, den sie gar nicht kennt, am Stand vorbeikommt, der aber bereits weiß, was sie braucht und wo sie es findet. Wenn nicht morgen, dann vielleicht übermorgen. Geld zum Leben kann man sich leihen. Der Freund am Hot-Dog-Stand hat für den Notfall auch mal ein Hot-Dog übrig. Ein Bierchen allemal.
Wenn sie mit jemandem reden möchte, den sie nicht kennt, winkt sie den einfach zu sich und sagt: „Setz dich, ich will dir etwas sagen“. Und die meisten Leute setzen sich, denn sie hat Charme.
Jeden Morgen bauen sie den Schmuckstand auf, jeden Abend bauen sie ihn ab. Er besteht aus ein paar Kisten, über die roter Stoff gebreitet wird. Darauf wird der Schmuck dekoriert. Mit viel Liebe machen sie das. Ihre Wohnung ist immer irgendein Hotel, möglichst billig natürlich, hässlich natürlich, aber das stört sie nicht. Ihr Zuhause ist die Straße.
Am Schmuckstand arbeitet sie zusammen mit ihrem Freund Antonio und einem halbwüchsigen Kariben, Pablo. Der Kleine ist ihr Sohn, sagt sie, denn sie passt auf ihn auf. Und er, ab und zu im Spaß, nennt er sie Mama, und man sieht, dass es ihm gut tut. Seine eigenen Eltern hat er schon vor Jahren verlassen.
Antonio, Lorenas Freund, ist der Papa. Ein Papa mit Händen, die immer irgendeine Beschäftigung suchen, immer etwas schaffen. Meistens ist es Schmuck. Ausdrucksvollen, glatten, sehnigen Händen, die in irritierendem Gegensatz zu seinem vernarbten Gesicht mit unergründlich ernsten Augen stehen. Neunundzwanzig Jahre, tief eingekerbt.
Dass sie ein Paar sind muss man wissen. Nur manchmal sieht man seinen Arm um sie gelegt. Kommen Bekannte, erhebt sie sich sofort. Er lässt sie gehen. Aber dass sie sich Wärme geben müssen, alle drei, das sieht man. Das Nötigste zum Überleben.
Zigaretten holen und Bier, das macht immer der Kleine. Kommt ein Freund an den Stand, dann bekommt er Bier, Wasser, Pepsi, was er möchte. Danach bleibt er vielleicht eine Stunde, vielleicht einen Tag und hilft mit.
Ist der Markt zu Ende, dann ziehen sie weiter, in Venezuela, Brasilien, manchmal, wenn es gut läuft, auch nach Europa, wie Antonio, der mit seinem Schmuck bereits in Frankreich war. Ab und zu haben sie eben Geld, ab und zu nicht.
„Es gefällt mir zu reisen“, sagt Lorena. Ihr Traum ist Italien. „Bald“, sagt sie.
Bietet sich die Gelegenheit, dann fährt sie auch alleine weiter. Vielleicht, wenn sie Menschen trifft, die ihre Freunde werden, mit denen sie reden kann, die ihr Wärme geben und mit ihr lachen. Und die sie abends in den Schlaf streicheln, wenn sie krank ist, ohne mit ihr schlafen zu wollen. Dann gibt es Tränen beim Abschied, wenn sie wieder alleine zurückbleibt.
Irgendwann ist es dann auch an der Zeit, dass sie sich wieder trennt, von Antonio, der vielleicht schon eine Andere hat, und von dem kleinen Kariben, den sie nur „Sohn“ nennt. „Er geht mir immer aus dem Weg, wenn ich fahre, weicht mir aus, um sich nicht verabschieden zu müssen“, erklärt sie. „Er hat Angst, dass ich dann nicht wiederkomme.“ Manchmal frage er sie, ob er mitkommen könne. „Ich sage dann zu ihm: Du musst arbeiten, bleib bei Antonio“.
Nur manchmal, ganz selten, erzählt sie wirklich von ihrem Leben. Eine kleine dunkle Bar braucht sie dazu, ein, zwei Gläser Wein, jemanden, der wirklich zuhört. Ja, mit fünfzehn sei sie von zuhause weggegangen, aus Kolumbien, da sie nicht für die Mafia arbeiten wolle, sagt sie, nach Brasilien. Zwei Jahre später nach Venezuela.
Und noch viel seltener erzählt sie mehr.
Dass ihre Eltern ermordet wurden, als sie sechzehn war, dass sie seitdem nicht mehr heimfahren kann, weil sie die Erinnerung in dem Haus nicht ertragen würde. Dass sie einen zweijährigen Sohn hat, von einem Brasilianer, der sie verlassen hat, als sie schwanger war.
Wo der Sohn ist? Im Moment bei einer Freundin. Sie besucht ihn ein- bis zweimal die Woche und spielt mit ihm.
„Es ist schön, ein Kind zu haben“, erklärt sie, und ihre Augen weiten sich vor Freude, als sie sein Gesicht beschreibt. Sie will ihn nach Kolumbien bringen, wenn sie genug Geld beisammen hat, zu ihrer Schwester, die hat eine Familie, dort wird er es gut haben.
Wohl, bis er in das Alter kommt, von zu Hause wegzugehen, oder für die Mafia zu arbeiten, oder bis seinen Pflegeeltern etwas zustößt. Aber davon spricht sie nicht. Möglich, dass sie nicht darüber nachdenkt, in dem Bestreben, sich zumindest für ihr Kind eine heile Welt zu erträumen.
„Ich hoffe, dass er es versteht, wenn er größer ist, ich kann das nicht, an einem Ort bleiben“ entschuldigt sie sich dafür, dass sie den Sohn nicht bei sich hat.
Sie erzählt in diesen seltenen Momenten auch von ihrer großen Liebe, einem Italiener, mit dem sie einen Monat unterwegs war. Zur Erinnerung an diese Zeit trägt sie in ihrer Tasche eine Visitenkarte von einem Luxushotel mit sich herum, in das er sie eingeladen hat.
Erst als er wieder in Italien war, teilte er ihr telefonisch mit, dass er eine Verlobte hat, Italienerin, sehr schön. Er hat ihr eine Wohnung in Italien angeboten – natürlich ohne die Verlobung zu lösen, wo denkt sie hin.
Viele Male hat sie versucht, ihn anzurufen, jedes Mal hat ihr die Stimme versagt, erzählt sie, als sie ihm ein paar Wochen später mitteilen wollte, dass sie ein Kind erwartet, von ihm. Schließlich hat sie es abgetrieben. Ganz schwarz sind ihre Augen nun, vor Traurigkeit. Vor sieben Monaten war das und manchmal, sagt sie, hat sie das Gefühl, dass irgendetwas sie erdrückt, wenn sie an diese Geschichte denkt. „Ein Trauma“, sagt sie.
Seitdem hat sie mit niemandem mehr geschlafen. Antonio? „Ach der, er liebt mich, na und?“ Manchmal gibt er ihr Geld. Und es freut sie, sagt sie, dass er macht, was immer ihr gefällt. „Wie ein Roboter“, sagt sie. Warum? „Man hat mir wehgetan, warum sollte ich es anders machen?“ Liebe? „Aber nein, er ist doch hässlich.“ Ein guter Mensch? „Ja, ein Freund“. Manchmal schlafen sie Arm in Arm.
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