»Ich gehe in das andere Lokal«, sagte er nach einer Pause.
»Auf der Werft?«
»Ja.«
»Die tolle Katze ist sicher da. Sie wollen sie hier nicht mehr haben.«
Dorian zuckte die Achseln. »Ich habe die Weiber, die einen lieben, satt. Weiber, die einen hassen, sind viel interessanter. Übrigens ist dort der Stoff besser.«
»Ganz derselbe.«
»Mir schmeckt er da besser. Komm, wir wollen was trinken. Ich muß was haben.«
»Ich brauche nichts«, murmelte der junge Mann.
»Macht nichts.«
Adrian Singleton stand schläfrig auf und folgte Dorian ans Büfett. Ein Mischling in zerrissenem Turban und schäbigem Ulster grinste ihnen einen widerlichen Gruß zu, als er zwei Gläser und eine Branntweinflasche vor sie hinstellte. Die Weiber torkelten herbei und begannen zu schwatzen. Dorian kehrte ihnen den Rücken zu und sagte leise etwas zu Adrian Singleton.
Ein Grinsen gleich einem krummen malaischen Dolch verzerrte das Gesicht des einen Weibes. »Wir sind sehr stolz heute abend«, höhnte sie lachend.
»Um Gottes willen, rede nicht mit mir!« schrie Dorian und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. »Was willst du? Geld? Da! Aber sprich kein Wort mehr zu mir!«
Zwei rote Funken blitzten für einen Augenblick in den wässerigen Augen des Weibes auf, dann verloschen sie wieder und ließen sie trübe und gläsern erscheinen. Sie warf den Kopf in den Nacken und raffte mit gierigen Fingern die Münzen auf dem Schenktisch zusammen. Ihre Gefährtin beobachtete sie neidisch.
»Es hat keinen Zweck«, sagte Adrian Singleton seufzend. »Ich will nicht mehr zurück. Was macht's aus? Ich fühle mich hier ganz wohl.«
»Du wirst mir doch schreiben, wenn du was brauchst?« fragte Dorian nach einer Weile.
»Vielleicht.«
»Dann gute Nacht!«
»Gute Nacht!« antwortete der junge Mann, schritt die Stufen hinauf und wischte sich den trockenen Mund mit dem Taschentuch ab.
Dorian schritt mit einem qualvollen Zug im Gesicht zur Tür. Als er den Vorhang beiseitezog, scholl ein gräßliches Lachen von den geschminkten Lippen des Weibes, das sein Geld genommen hatte. »Da geht er hin, der Seelenverschacherer!« stieß sie mit einer heiser glucksenden Stimme hervor.
»Der Satan hol' dich!« antwortete er, »du sollst mich nicht so nennen!«
Sie schnippte mit den Fingern. »Was, du willst wohl Prinz Märchenschön genannt werden, das paßte dir, he?« kreischte sie hinter ihm her.
Bei diesen Worten sprang der schläfrige Matrose auf und blickte sich wild um. Das Geräusch der zufallenden Haustür drang an sein Ohr. Er stürzte hinaus, als ob er ihn verfolgen wollte.
Dorian Gray eilte rasch durch den herabstäubenden Regen den Kai entlang. Sein Zusammentreffen mit Adrian Singleton hatte ihn sonderbar bewegt, und er grübelte darüber nach, ob der Untergang dieses jungen Lebens wirklich sein Werk war, wie ihm Basil Hallward mit so schändlicher Beschimpfung schuldgegeben hatte. Er biß sich auf die Lippen, und für ein paar Augenblicke wurde sein Auge traurig. Aber schließlich, was ging es ihn an? Das bißchen Leben war zu kurz, als daß man die Sünden anderer auf seine Schultern laden könnte. Jeder lebte sein eigenes Leben und zahlte seinen eigenen Preis dafür. Das einzige Unglück war, daß man für ein einziges Vergehen so oftmals zahlen mußte. Man mußte immer und immer wieder zahlen. In seinem Handel mit dem Menschen glich das Schicksal sein Schuldbuch nie aus.
Die Psychologen sagen uns, daß es Augenblicke gibt, wo die Anreizung zu Sünden oder zu dem, was die Welt Sünden nennt, eine Natur so beherrscht, daß jede Faser des Körpers, jede Zelle des Gehirns von fürchterlichen Kräften gestachelt zu sein scheint. Männer und Frauen verlieren in solchen Augenblicken die Willensfreiheit. Sie bewegen sich wie Automaten ihrem schrecklichen Ende zu. Die Wahl ist ihnen geraubt, und das Gewissen ist entweder tot oder, wenn es noch lebt, so lebt es nur, um der Empörung ihren Reiz und dem Ungehorsam ihren besonderen Zauber zu verleihen. Denn alle Sünden sind, wie die Theologen nicht müde werden, uns vorzuhalten, Sünden des Ungehorsams. Als jener hohe Geist, der Morgenstern alles Bösen vom Himmel fiel, da fiel er, weil er ein Rebell war.
Unempfindlich, nur mit dem einen Gedanken ans Böse erfüllt, mit verfinstertem Geist, mit einer Seele, die nach Empörung lechzte, hastete Dorian Gray weiter, und beschleunigte, während er ging, seine Schritte immer mehr; aber als er in einen dunkeln Torweg einbog, der ihm oft genug als abgekürzter Weg zu dem berüchtigten Orte gedient hatte, den er jetzt aufsuchen wollte, fühlte er sich plötzlich von rückwärts gepackt, und bevor er Zeit hatte, sich zu wehren, wurde er gegen eine Mauer geschleudert und fühlte seinen Hals von einer brutalen Hand umklammert.
Er kämpfte wie wahnsinnig um sein Leben, und mit furchtbarer Anstrengung glückte es ihm, sich aus den umschnürenden Fingern loszureißen. Einen Augenblick darauf hörte er das Knacken eines Revolvers und sah den Glanz eines blanken Laufes gerade gegen seinen Kopf gerichtet und die dunkle Gestalt eines untersetzten Mannes vor sich.
»Was wollen Sie?« keuchte er.
»Sei still«, sagte der Mann. »Wenn du dich rührst, schieß' ich dich nieder!«
»Sie sind toll. Was hab' ich Ihnen getan?«
»Du hast das Leben Sibyl Vanes zugrunde gerichtet!« war die Antwort, »und Sibyl Vane war meine Schwester. Sie hat sich getötet. Ich weiß es. Ihr Tod ist deine Schuld. Ich habe geschworen, dich dafür zu töten. Jahrelang habe ich dich gesucht. Aber ich hatte keinen Anhaltspunkt, keine Spur. Die zwei Menschen, die dich hätten beschreiben können, waren tot. Ich wußte nichts von dir als den Kosenamen, den sie dir gab. Heute nacht habe ich ihn durch Zufall gehört. Mach' deinen Frieden mit Gott, denn heute nacht mußt du sterben.«
Dorian Gray wurde fast ohnmächtig vor Furcht. »Ich habe sie nie gekannt«, stammelte er. »Ich habe nie von ihr gehört. Sie sind verrückt.«
»Gesteh' lieber deine Sünden ein, denn so wahr ich James Vane heiße, so gewiß sollst du jetzt sterben.« Es war ein entsetzlicher Augenblick. Dorian wußte nicht, was er sagen oder tun sollte. »Auf die Knie!« brüllte der Mann. »Ich geb' dir eine Minute, deinen Frieden zu machen – nicht mehr! Ich muß heute nacht an Bord nach Indien, und muß vorher meine Arbeit getan haben. Eine Minute. Mehr nicht!«
Dorians Arme sanken herab. Von Todesangst gelähmt, wußte er nicht, was er beginnen sollte. Plötzlich zuckte eine jähe Hoffnung in seinem Gehirn auf. »Halt!« schrie er. »Wie lang ist es her, daß Ihre Schwester gestorben ist? Rasch, sagen Sie!«
»Achtzehn Jahre«, sagte der Mann. »Warum fragst du? Was machen die Jahre?«
»Achtzehn Jahre!« lachte Dorian mit einem triumphierenden Ton in seiner Stimme. »Achtzehn Jahre! Bringen Sie mich unter die Laterne und sehen Sie mein Gesicht an!«
James Vane zögerte einen Augenblick und begriff nicht, was er meinte. Dann packte er Dorian Gray und schleifte ihn aus dem Torweg heraus.
So dunkel und flackernd das windverwehte Licht auch war, es genügte doch, ihm den furchtbaren Irrtum zu zeigen, in den er geraten zu sein schien. Denn das Antlitz des Mannes, den er töten wollte, wies die ganze Blütenweichheit der Jugend auf, zeigte all die unbefleckte Reinheit der Jugend. Er schien kaum älter als ein Jüngling von zwanzig Lenzen, kaum älter, als seine Schwester gewesen war, als sie vor so vielen Jahren Abschied voneinander genommen hatten. Es war klar, daß dies nicht der Mann war, der ihr Leben zerstört hatte.
Er ließ seine Faust von ihm los und taumelte zurück. »Mein Gott, mein Gott!« rief er aus, »und ich hätte Sie fast ermordet!«
Dorian Gray schöpfte tief Atem. »Sie waren dicht daran, ein furchtbares Verbrechen zu begehen, Mann«, sagte er mit einem strengen Blick. »Lassen Sie sich das eine Warnung sein, eine Rache nicht mit eigener Hand zu übernehmen.«
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