»Alan, ich beschwöre dich. Denke an die Lage, in der ich bin. Jetzt eben, ehe du kamst, war ich fast ohnmächtig vor Schreck. Du kannst eines Tages selbst einmal die Angst kennenlernen. Nein, denke nicht daran! Betrachte die Sache vom rein wissenschaftlichen Standpunkte aus. Du forschst doch sonst nicht danach, woher die toten Wesen kommen, mit denen du experimentierst. Forsche auch jetzt nicht danach. Ich habe dir ohnehin zuviel gesagt. Aber ich bitte dich, tu, um was ich dich bat. Wir waren doch einmal Freunde, Alan.«
»Sprich nicht von jenen Tagen, Dorian; sie sind tot.«
»Die Toten verweilen manchmal. Der Mann da oben geht nicht weg. Er sitzt am Tisch mit vorgebeugtem Kopf und ausgestreckten Armen. Alan! Alan! wenn du mir nicht zu Hilfe kommst, bin ich verloren. Alan! man wird mich hängen! Begreifst du nicht? Man wird mich hängen, für das, was ich getan habe.«
»Es hat keinen Sinn, diese Szene weiter auszudehnen. Ich weigere mich ganz entschieden, etwas damit zu tun zu haben. Es ist Tollheit von dir, mich darum zu bitten.«
»Du weigerst dich?«
»Ja!«
»Ich beschwöre dich, Alan!«
»Es ist nutzlos.«
Derselbe mitleidige Ausdruck kam in Dorian Grays Augen. Dann reckte er die Hand aus, nahm ein Stück Papier und schrieb etwas darauf. Er las es zweimal durch, faltete es sorgfältig zusammen und schob es über den Tisch. Nachdem er dies getan hatte, stand er auf und trat ans Fenster.
Campbell sah ihn verwundert an, nahm dann das Papier und öffnete es. Als er es gelesen hatte, wurde sein Gesicht totenblaß und er sank in seinen Stuhl zurück. Ein fürchterliches Gefühl der Schwäche überwältigte ihn. Ihm war, als ob sich sein Herz in einer leeren Höhle zu Tode schlüge. Nach zwei oder drei Minuten furchtbaren Schweigens wandte sich Dorian um, ging zu ihm hin, stellte sich hinter ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Es tut mir so leid um dich, Alan,« flüsterte er, »aber du läßt mir keine Wahl. Ich habe den Brief schon geschrieben. Hier ist er. Du siehst die Adresse. Wenn du mir nicht hilfst, muß ich ihn abschicken. Du weißt, was darauf erfolgt. Aber du wirst mir helfen. Es ist unmöglich, daß du jetzt noch nein sagst. Ich wollte dir das ersparen. Du mußt mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen, das zuzugeben. Du warst bitter, hart, beleidigend. Du hast mich behandelt, wie es nie ein Mensch gewagt hat, mich zu behandeln. Wenigstens kein lebender Mensch. Ich ertrug es alles. Jetzt ist es an mir, Bedingungen zu diktieren.«
Campbell vergrub sein Gesicht in den Händen und ein Frösteln überlief ihn.
»Ja, jetzt ist die Reihe an mir, Bedingungen zu diktieren, Alan. Du weißt, was ich verlange. Die Sache ist ganz einfach. Komm, schraube dich nicht in ein Fieber hinein. Die Sache muß geschehen. Schau ihr ins Gesicht und vollbringe sie.«
Ein Stöhnen klang von Campbells Lippen, und er zitterte am ganzen Leibe. Das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims schien ihm die Zeit in einzelne Atome eines Todeskampfes zu zerstückeln, von denen das kleinste schon zu schrecklich war, um es zu ertragen. Er hatte das Gefühl, als ob ein eiserner Ring um seine Stirn nach und nach festgespannt würde, als ob die Schande, mit der man ihn bedrohte, schon über ihn käme. Die Hand auf seiner Schulter beschwerte ihn wie ein Gewicht von Blei. Sie war unerträglich. Sie schien ihn zu zerquetschen.
»Komm, Alan, du mußt dich gleich entscheiden.«
»Ich kann es nicht tun«, sagte er mechanisch, als könnten die Worte etwas ändern.
»Du mußt. Du hast keine Wahl. Zaudere nicht.«
Er schwankte einen Augenblick. »Ist ein Ofen da oben?«
»Ja, ein Gasofen mit Asbest.«
»Dann muß ich nach Hause gehen und einiges aus dem Laboratorium holen.«
»Nein, Alan, du darfst das Haus nicht verlassen. Schreib' auf ein Blatt Papier, was du brauchst, und mein Diener nimmt eine Droschke und wird dir die Sachen bringen.«
Campbell kritzelte ein paar Zeilen hin, trocknete sie ab und adressierte ein Kuvert an seinen Assistenten. Dorian nahm das Briefchen und las es aufmerksam durch. Dann klingelte er und gab es seinem Diener mit dem Auftrag, so rasch als möglich zurückzukommen und die im Schreiben bezeichneten Sachen mitzubringen.
Als die Haustür ins Schloß fiel, zuckte Campbell nervös zusammen, stand vom Stuhl auf und ging zum Kamin hinüber. Er schüttelte sich in einer Art kalten Fiebers. Fast zwanzig Minuten lang sprach keiner der beiden Männer. Eine Fliege schwirrte summend durch das Zimmer, und das Ticktack der Uhr klang wie der Fall eines Hammers.
Als es eins schlug, drehte sich Campbell um, blickte auf Dorian Gray und sah, daß seine Augen mit Tränen gefüllt waren. In den reinen, edlen Zügen dieses traurigen Gesichts lag etwas, was ihn wütend zu machen schien. »Du bist infam, ganz infam«, rief er mit unterdrückter Stimme.
»Ruhig, Alan, du hast mir das Leben gerettet«, sagte Dorian.
»Dein Leben? Gott im Himmel! Was für ein Leben ist das! Du bist von Verderbnis zu Verderbnis geschritten, und jetzt hast du mit Mord den Gipfel erreicht. Wenn ich tue, was ich tun werde, was du mich zu tun zwingst, so denke ich dabei wahrhaftig nicht an dein Leben.«
»Ach, Alan,« flüsterte Dorian seufzend, »ich wünschte, du hättest den tausendsten Teil des Mitleids mit mir, das ich mit dir habe.« Er kehrte sich während dieser Worte ab und stand da und blickte in den Garten hinaus. Campbell gab keine Antwort.
Nach etwa zehn Minuten klopfte es an die Tür, und der Diener trat ein und brachte einen großen Mahagonikasten mit Chemikalien, eine lange Rolle Stahl- und Platindraht und zwei absonderlich geformte Eisenklammern.
»Soll ich die Sachen hier lassen, gnädiger Herr?« fragte er Campbell.
»Ja«, antwortete Dorian. »Und ich bedaure, Francis, aber ich habe noch einen Weg für Sie. Wie heißt der Mann in Richmond, der Selby mit Orchideen versorgt?«
»Harden, gnädiger Herr.«
»Richtig – Harden. Sie müssen gleich nach Richmond fahren, Harden selbst sprechen und ihm sagen, er solle doppelt soviel Orchideen schicken, als ich bestellt habe, und möglichst wenig weiße dabei. Eigentlich will ich überhaupt keine weißen. Es ist ein schöner Tag, Francis, und Richmond ein hübscher Ort, sonst würde ich Sie damit nicht behelligen.«
»Nichts zu sagen, gnädiger Herr. Zu welcher Zeit soll ich zurück sein?«
Dorian sah Campbell an. »Wie lange wird dein Experiment dauern, Alan?« fragte er mit ruhiger, gleichgültiger Stimme. Die Gegenwart eines Dritten im Zimmer schien ihm außerordentlichen Mut einzuflößen.
Campbell runzelte die Stirn und biß sich auf die Lippen. »Es wird ungefähr fünf Stunden beanspruchen«, antwortete er.
»Dann ist es früh genug, wenn Sie um sieben zurück sind, Francis. Oder halt: legen Sie meine Sachen zum Umkleiden zurecht, Sie können dann den Abend für sich verwenden. Ich esse nicht zu Hause, brauche Sie also nicht.«
»Ich danke, gnädiger Herr«, sagte der Mann und verließ das Zimmer.
»Jetzt, Alan, ist kein Augenblick zu verlieren. Wie schwer der Kasten ist! Ich will ihn dir tragen. Nimm du die anderen Sachen.« Er sprach hastig und in befehlendem Tone. Campbell fühlte sich von ihm beherrscht. Sie verließen das Zimmer gleichzeitig.
Als sie den obersten Treppenabsatz erreicht hatten, nahm Dorian den Schlüssel heraus und schloß auf. Dann blieb er stehen, und ein Ausdruck von Unruhe zeigte sich in seinem Blick. Er schauderte. »Ich glaube, ich kann nicht hineingehen, Alan«, flüsterte er. »Das ist mir ganz gleich. Ich brauche dich nicht«, sagte Campbell kalt.
Dorian öffnete die Tür zur Hälfte. Als er dies tat, sah er seinem Porträt, das im hellen Sonnenlicht hing, grade ins Gesicht. Davor lag auf den Dielen der herabgerissene Vorhang. Er erinnerte sich, daß er in der vergangenen Nacht zum ersten Male in seinem Leben vergessen hatte, die verhängnisvolle Leinwand zu verhüllen, und wollte eben nach vorn stürzen, als er schaudernd zurückprallte.
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