»Die Seele durch die Sinne und die Sinne durch die Seele zu heilen –!« Wie ihm die Worte in den Ohren klangen! Seine Seele war jedenfalls todkrank. War es denkbar, daß die Sinne sie heilen konnten? Unschuldiges Blut war vergossen worden. Welche Sühne konnte es dafür geben? Ach! dafür gab es keine Sühne; aber wenn auch Vergebung unmöglich war, Vergessen war doch möglich, und er war entschlossen, zu vergessen, die Sache zu Boden zu treten, sie zu vernichten wie eine Natter, die einen gebissen hat. Welches Recht hatte denn Basil gehabt, so zu ihm zu sprechen, wie er es getan hatte? Wer hatte ihn zum Richter über andere gesetzt? Er hatte Dinge gesagt, die schrecklich waren, entsetzlich, nicht zu ertragen.
Weiter und weiter rollte die Droschke, und es schien ihm, als führe sie mit jedem Schritt langsamer. Er riß das Schiebefenster auf und rief dem Kutscher hinter ihm zu, schneller zu fahren. Der gräßliche Hunger nach Opium fing an, in ihm zu nagen. Die Kehle brannte ihm, und seine zarten Finger spielten nervös miteinander. Er schlug mit dem Spazierstock wie toll auf den Gaul ein. Der Kutscher lachte und hieb mit der Peitsche zu. Er lachte auch dazu, und der Mann auf dem Bocke schwieg.
Der Weg schien endlos zu sein und die Straßen dehnten sich aus wie ein schwarzes, durcheinander gewirrtes Spinngewebe. Die Eintönigkeit wurde unerträglich, und als sich der Nebel dichter ballte, empfand er Furcht.
Dann fuhren sie an einsamen Ziegeleien vorüber. Der Nebel ward hier durchsichtiger, und er konnte die merkwürdigen, kürbisflaschenartigen Brennöfen mit ihren orangefarbenen fächerartigen Feuerzungen erkennen. Ein Köter schlug an, als sie vorbeirasselten, und weit entfernt in der Dunkelheit schrie eine schlaflose Möwe. Das Pferd stolperte in irgendeiner Rinne; scheute und verfiel in Galopp.
Nach einiger Zeit verließen sie den Lehmweg und ratterten wieder über ein holpriges Straßenpflaster. Die meisten Fenster waren dunkel, aber dann und wann sah man phantastische Schatten wie Silhouetten hinter einem erleuchteten Rouleau. Er spähte neugierig darauf hin. Sie bewegten sich wie riesenhafte Marionetten und gestikulierten wie lebende Wesen. Eine Art Haß auf sie überkam ihn. Ein dumpfer Zorn kochte in seinem Herzen. Als sie um eine Ecke bogen, rief ihnen ein Weib aus einer offenen Tür etwas zu, und zwei Männer rannten ein paar hundert Meter hinter der Droschke her. Der Kutscher schlug mit seiner Peitsche nach ihnen.
Man sagt, die Leidenschaft wirble einem die Gedanken im Kreise umher. Jedenfalls formten die zerbissenen Lippen Dorian Grays in endloser Wiederholung die feingesetzten Worte von der Seele und den Sinnen und formten sie immer wieder, bis er in ihnen sozusagen den vollsten Ausdruck seiner Stimmung gefunden und durch die Zustimmung des Verstandes Leidenschaften gerechtfertigt hatte, die auch ohne solche Rechtfertigung sein Temperament beherrscht hätten. Von Zelle zu Zelle seines Gehirns kroch der eine Gedanke und die wilde Lebensgier, das schrecklichste aller menschlichen Hungergelüste, ließ sich jeden zuckenden Nerv und Muskel gewaltsam emporbäumen. Das Häßliche, das er einst gehaßt hatte, weil es den Dingen Wirklichkeit verlieh, wurde ihm jetzt aus demselben Grunde lieb. Das Häßliche war das einzig Wirkliche. Das rohe Geschrei, die ekelhafte Kneipe, die ordinäre Gewalttätigkeit eines liederlichen Lebens, die widerliche Verworfenheit der Diebe und Verbrecher waren in der intensiven Wirklichkeit ihrer Eindrücke mehr vom Leben erfüllt, als all die anmutigen Formen der Kunst, die träumerischen Schatten der Dichtung. Das war es, was er zum Vergessen brauchte. In drei Tagen würde er frei sein.
Plötzlich hielt der Mann am Ende einer finstern Straße mit einem Ruck an. Über die niedrigen Dächer und gezackten Schornsteine der Häuser hinaus ragten die schwarzen Mäste der Schiffe. Weiße Nebelfetzen hingen wie gespensterhafte Segel über den Werften.
»Irgendwo hier, nicht wahr, Herr?« ertönte die rauhe Stimme des Kutschers durch das Schiebefenster.
Dorian fuhr auf und blickte sich um. »Schon gut«, antwortete er, stieg rasch aus, gab dem Kutscher das Trinkgeld, das er ihm versprochen hatte, und ging eilig dem Kai zu. Hier und da flimmerte eine Laterne am Heck eines großen Kauffahrers. Das Licht zitterte und zersplitterte sich in den Pfützen. Ein rotes Geglitzer kam von einem weit draußen ankernden Dampfer, der Kohlen verlud. Das schlüpfrige Pflaster sah aus wie ein regenglänzender Gummimantel.
Er hastete nach links weiter und blickte sich dann und wann um, ob ihm niemand folgte. Nach sieben oder acht Minuten erreichte er ein kleines, elendes Haus, das zwischen zwei große Faktoreien eingequetscht war. In einem der Giebelfenster brannte eine Lampe. Er blieb stehen und klopfte wie auf eine verabredete Art an.
Nach einer kleinen Pause hörte er Schritte im Flur und wie die Türkette losgemacht wurde. Die Tür öffnete sich vorsichtig, und er trat hinein, ohne ein Wort zu der kleinen erbärmlichen Gestalt zu sagen, die sich in den Schatten drückte, als er vorbeischritt. Am Ende des Flurs hing ein zerlumpter grüner Vorhang, der sich in dem starken Luftzug, den er von der Straße her mitbrachte, hin und her bauschte. Er schob ihn beiseite und trat in einen langen, niedrigen Raum, der so aussah, als wäre er früher ein Tanzlokal dritten Ranges gewesen. Grell flackernde Gasflammen, die in den fliegenbeschmutzten Spiegeln gegenüber matt und verzehrt erschienen, brannten rings an den Wänden. Schmierige Reflektoren aus geripptem Wellblech waren dahinter angebracht und warfen tanzende Lichtkreise. Der Boden war mit ockerfarbigen Sägespänen bestreut, die an einzelnen Stellen zu Schmutzklumpen zertreten waren und auf denen sich von vergossenen Getränken schwarze Ringe abzeichneten. Ein paar Malaien hockten mit untergeschlagenen Beinen an einem kleinen Kohlenofen, spielten mit knöchernen Würfeln und zeigten beim Sprechen ihre weißlichen Zähne. In einem Winkel, den Kopf auf die Hände gestützt, räkelte sich ein Matrose über den Tisch, und an dem schreiend bemalten Büfett, das eine ganze Seite des Raumes einnahm, standen zwei heruntergekommene Weibspersonen und höhnten einen alten Mann, der mit einem Ausdruck des Ekels die Ärmel seines Rockes bürstete. »Er denkt, er hat sich Läuse geholt«, lachte die eine, als Dorian vorüberging. Der Mann sah sie erschreckt an und begann zu jammern.
Am Ende des Zimmers war eine kleine Treppe, die in eine verdunkelte Kammer führte. Als Dorian die drei wackligen Stufen hinaufhastete, schlug ihm der schwere Geruch des Opiums entgegen. Er holte tief Atem, und seine Nasenflügel zitterten vor Lust. Als er eintrat, blickte ein junger Mann mit glattgescheiteltem Blondhaar zu ihm auf, der sich über eine Lampe beugte, an der er eine lange, dünne Pfeife anzündete, und zögernd nickte.
»Du hier, Adrian?« flüsterte Dorian.
»Wo soll ich sonst sein?« antwortete er gleichgültig. »Kein Mensch will jetzt mehr mit mir sprechen.«
»Ich dachte, du wärst aus England fort?«
»Darlington wird nichts gegen mich unternehmen. Mein Bruder hat den Wechsel schließlich gezahlt. George spricht auch nicht mehr mit mir ... Ist mir auch einerlei«, fügte er seufzend hinzu. »Solange man noch das Zeug da hat, braucht man keine Freunde. Ich denke, ich habe zu viele Freunde gehabt.«
Dorian zuckte zusammen und sah sich nach den grotesken Gestalten um, die da in so abenteuerlichen Stellungen auf den zerlumpten Matratzen lagen. Die verkrümmten Glieder, die offenen Mäuler, die stierenden, glanzlosen Augen übten eine starke Anziehungskraft auf ihn aus. Er kannte die absonderlichen Paradiese, in denen sie litten, und welche dumpfe Höllen sie in das Geheimnis neuer Genüsse einweihten. Sie waren besser daran als er. Ihn hielten seine Gedanken eingekerkert. Die Erinnerung fraß wie eine fürchterliche Krankheit an seiner Seele. Von Zeit zu Zeit glaubte er die Augen Basil Hallwards auf sich gerichtet zu sehen. Aber er fühlte, daß er hier nicht bleiben konnte. Die Anwesenheit Adrian Singletons störte ihn. Er wollte irgendwo sein, wo ihn niemand kennt. Er wollte sich selbst entfliehen.
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