»Sie ist die Tat meines jungen Sohnes, der getötet wurde.«
Diesem Bekenntnis folgte ein langes allgemeines Schweigen. Der Konteradmiral schnellte mit seinem Bambusstock einen Stein zur Seite. Dann wandte er sich an sein Gefolge:
»Gibt es eine Möglichkeit, die Geschütze den Berg hinab und an Bord zu bringen?«
Der befragte Fachmann zeigte ein bedenkliches Gesicht. Mit den notwendigen Behelfen sei dies unter größten Schwierigkeiten möglich, wenn man einen vollen Tag zur Verfügung habe. Nach einer knappen Überlegung entschied der Exzellenzherr:
»Man sorge dafür, daß die Haubitzen unbrauchbar gemacht werden. Am besten sprengen, aber vorsichtig, wenn ich bitten darf!«
Um so besser, dachte Gabriel, zwei Geschütze weniger auf der Welt. Und doch empfand er ein Leid dabei. Um Stephans willen. Der Admiral hielt einen Trost bereit:
»Sie haben der guten Sache einen großen Dienst erwiesen, Kommandant, auch wenn diese Haubitzen vernichtet werden.«
Mit diesen Worten war der Übergang vom Feierlichen zum Sachlichen gegeben. Der Konteradmiral verlangte eine Darstellung der Abwehrkämpfe des Verteidigungssystems. Während Gabriel Bagradian sein Werk in wenigen Worten umriß, erfüllte ihn tiefe Ungeduld. Diese sauber gewaschenen, wohlduftenden Herren in ihren tadellosen Monturen betrachteten die herzwürgende Wirklichkeit der vierzig Tage mit herablassendem Interesse wie ein von Dilettanten aufgeführtes Kriegsspiel. Die drei Schlachten? Die waren bei weitem nicht das Wichtigste gewesen. Was wußten diese geschniegelten Herrschaften vom armenischen Schicksal, was von der Zerstörung jedes einzelnen Lebens hier oben? Die Ungeduld verfärbte sich zum Ekel. Konnte er nicht einfach den Rücken kehren und davongehen? Er war nur mehr ein Privatmann und hatte jetzt für Juliette und für Iskuhi zu sorgen, damit sie gut untergebracht würden. Um Christi willen, nein, die Franzosen waren ja die wunderhaften Retter und hatten Anspruch auf unauslöschlichen Dank. Der Konteradmiral sprach in seiner Gründlichkeit zuletzt noch den Wunsch aus, den Hauptkriegsschauplatz des Nordsattels kennenzulernen. Mit gedämpfter Stimme hatte er seinen Herren den Auftrag gegeben, sich über all das Gehörte Aufzeichnungen zu machen. Ohne Zweifel plante er einen genauen Bericht an das Marineministerium. Die Rettung der sieben armenischen Gemeinden war schließlich nicht nur eine wichtige, sondern auch eine höchst dekorative Tatsache. Gabriel Bagradian blieb selbstverständlich nichts andres übrig, als dem Wunsche des Exzellenzherrn zu entsprechen. Er sandte Botschaft an Tschausch Nurhan Elleon. Zugleich machte sich unter Führung einiger Ordonnanzen ein Teil der Marineinfanterie mit einem Maschinengewehr auf den Weg, um für die Sicherheit des Flottenführers zu sorgen. Als eine halbe Stunde später Gabriel mit dem Stab auf der Sattelhöhe anlangte, hatte Tschausch Nurhan seine Zehnerschaften schon in leidlicher Ordnung vergattert, um die Franzosen soldatisch zu empfangen. Gabriel aber trat ungeachtet des Admirals auf den verwitterten Längerdienenden zu und umarmte ihn:
»Tschausch Nurhan! Nun ist alles zu Ende! Ich danke dir! Und ich danke jedem von euch!«
In diesem Augenblick verließen die bärtigen Armeniersöhne ihre schöne Ordnung und umdrängten Gabriel Bagradian. Mancher haschte nach seiner Hand, um sie zu küssen. In dieser Anhänglichkeit an den Kampfführer lag auch eine Spur von Mißtrauen und Ablehnung der glänzenden Gäste. Die Offiziere aber betrachteten diese unmilitärische, aber um so männlichere Szene mit verwunderter Ergriffenheit. Nachdem der Konteradmiral die Gräben und Felsbarrikaden kurz besichtigt hatte, hielt er es für seine Pflicht, Gabriel Bagradian und mit ihm die Kriegerschar durch eine Ansprache auszuzeichnen. Er tat dies mit gallischer Beredsamkeit, doch auch mit der herben Zurückhaltung seines Berufes und seines Glaubens:
»Kommandant«, begann er, »in unseren Tagen werden Heldentaten in allen Ländern und auf allen Meeren der Welt vollbracht. Doch es sind kampfgeübte Soldaten, die einander gegenüberstehn. Hier auf dem Musa Dagh trifft das nicht zu. Sie haben keine kampfgeübten Soldaten zur Verfügung gehabt, sondern nur einfache friedliche Bauern und Handwerker. Und dennoch hat unter Ihrer Führung dieses Häuflein schlechtbewaffneter Dorfbewohner sich nicht nur gegen einen tausendfach übermächtigen Feind tapfer geschlagen, sondern im verzweifelten Kampf um das nackte Leben siegreich behauptet. Diese Tat verdient, nicht vergessen zu werden. Sie war nur durch Gottes Hilfe möglich. Gott hat Ihnen geholfen, weil Sie nicht nur für sich selbst gekämpft haben, sondern für sein heiliges Kreuz. So haben Sie den höchsten Heroismus bewiesen, den es gibt, den christlichen Heroismus, der etwas Erhabeneres verteidigt als Haus und Herd. Die französische Nation dankt Ihnen durch meinen Mund und ist stolz darauf, Ihnen helfen zu können. Ich freue mich, Sie alle bis zum letzten Mann in Sicherheit bringen zu dürfen, und teile Ihnen mit, daß mein Geschwader Sie in einen ägyptischen Hafen führen wird, nach Port Said oder Alexandria ...«
Während Gabriel sich auf diese aufrichtig gefühlte Rede hin mit der gebotenen Dankbarkeit tief verbeugte und die kleine Hand der Exzellenz warm umfaßt hielt, ging es ihm durch den Kopf: Port Said, Alexandria, ich? Was habe ich dort zu schaffen? In einem Sammellager vielleicht? Warum ich? – In die frischen und harten Augen des alten Admirals aber trat jetzt ein sympathieerfüllter, fast väterlicher Zug:
»Monsieur Bagradian, ich lade Sie ein, während der Überfahrt auf der Jeanne d'Arc' mein Gast zu sein ...«
Er wartete den Dank nicht ab, sondern zog aus einem Ledersäckchen eine dicke spießbürgerliche Golduhr hervor, auf deren Zifferblatt er einen beunruhigten Blick warf:
»Und nun bitte ich um die Ehre, die Bekanntschaft von Madame Bagradian machen zu dürfen. Ich war seinerzeit mit ihrem Vater gut bekannt ...«
In der Nacht hatte Juliette den Eingang ihres Zeltes mit allen Riemen und Schnüren, die sich fanden, fest verschlossen. Für ihre kraftlosen Hände war das eine harte Arbeit gewesen, und sie konnte sich nachher kaum bis zu ihrem Bett schleppen. Nicht aus Angst vor einem neuen Raubüberfall hatte sie ihr Zelt so sorgfältig verschlossen. Seltsamerweise war der Einbruch, das Fratzengesicht des Langhaarigen, Satos Griff nach ihrer Decke an Juliettes Geist spurloser vorübergegangen als ein gleichgültiger Wachtraum. Sie sperrte sich ab, damit es nie wieder Licht werde, damit nie wieder ein Tag beginne, damit sie allein bleiben dürfe auf ihrem Lager, das geliebte kleine Spitzenkissen unterm Kopf, von dem sie sich nimmermehr erheben wollte. Sie hatte mit sich eine Art Einmauerung bei lebendigem Leibe vor. Und als es um ihr verpupptes Ich ganz schwarz und traulich ward, da fühlte sie sich fröstelnd wohl, da lebte sie nicht auf dem Musa Dagh, da hatte sie kein Kind verloren, und keine Türken drangen näher, um sie zu töten. Der Innenraum des Zeltes war in zauberhafter Weise der Innenraum von Juliettens Selbst, jenseits dessen es nur das unbestimmte Gerücht einer gefährlichen Außenwelt gab. Ihre Vernunft war noch lange nicht bei sich, während ihr Wesen in einem unvorstellbaren Maße bei sich war.
Gegen Morgen begann der kleine Gong am Zeltvorhang wild zu mahnen. Juliette rührte sich nicht. Auch als sie Awakians bittende, fordernde Stimme erkannte, gab sie keine Antwort. Dann dröhnten die Haubitzen, und der Schreckschuß des »Guichen« donnerte auf. Bei ihr aber war es noch immer Nacht, und sie kroch noch tiefer unter die Decke, damit sie nichts in ihrem Grabe störe. Die Angst um ihre dunkle Einmauerung war stärker als jeder Furchtinstinkt. Ihr krankes Gedächtnis vergaß sofort die drohenden Donnerschläge. Sie spann sich immer tiefer ein, damit sie die Stimmen nicht höre. Diese aber drängten unablässig. Und nun wogten auch die Zeltwände, an denen wild gerüttelt wurde. Waren die Türken da? Zu Awakians gesellte sich Kristaphors Stimme:
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