Gabriel Bagradian war im Irrtum. Iskuhi lebte. Während er seine Pfeife an die Lippen setzte, um irgendwelche Helfer herbeizurufen, hatte sie Kework, der Tänzer, schon gefunden. Spät genug! Dies war nur damit zu erklären, daß Iskuhi in der Nacht den ausgetretenen Pfad verloren hatte und in eine kleine Schlucht, oder besser in eine leichte, wildbewachsene Grube gestürzt war. Diese Grube lag freilich abseits von den gewohnten Wegen, in dem zerklüfteten Gelände, das zur Schüsselterrasse führt. Was sie zwischen Mitternacht und Morgen in dieser unseligen Gegend gesucht hatte, darauf erhielt niemand eine Antwort. Bis auf ein paar Kratzer an Armen und Beinen war dem Mädchen nichts geschehen. Keine Wunde, kein Knochenbruch, keine Erschütterung, ja nicht einmal eine Sehnenzerrung. Und doch, der Sturz in der Finsternis hatte den tödlichen Schwächezustand Iskuhis, gegen den sie sich so viele Tage schon wehrte und den sie doch selbst förderte, endlich zum Durchbruch gebracht. Als sie Kework auf seinen, ganz andre Lasten gewohnten, Armen herbeitrug, war sie bei voller Besinnung, hatte riesige, fast heitere Augen, konnte aber nicht sprechen. Zum Glück befand sich bei den Sanitätssoldaten, die noch die letzten Kranken zu transportieren hatten, ein junger Hilfsarzt vom »Guichen«. Er verabreichte Iskuhi ein starkes Herzmittel, bestand aber darauf, daß die Entkräftete so schnell wie möglich an Bord gebracht werde, um das Schlimmste abzuwenden. Ohne Verzug und ohne viel Worte wurden Pastor Tomasian und Iskuhi auf die Tragbahren geschnallt. Gabriel hatte kaum Zeit, Kristaphor den Auftrag zu geben, alle drei Zelte, sobald das Gepäck fortgeschafft sei, mit ihrem ganzen Inhalt sofort niederzubrennen.
Gabriel hielt sich dicht an Iskuhi, sooft dies nur möglich war. Der enge Steig freilich bot kaum Platz für einen Mann, und an jenen Stellen, wo die nackten Felswände sich rechter Hand öffneten, hatten die Träger alle Mühe, mit ihren Lasten heil vorüberzukommen. Voran schwankte die Bahre mit dem verwundeten Pastor. Dann folgte Iskuhi, in deren Nähe auch der Hilfsarzt ging. Damit aber war der Zug nicht abgeschlossen, da hinten noch drei Beinverletzte der Schlacht vom dreiundzwanzigsten August und eine Wöchnerin getragen wurden, überdies lief ein Schwärm von Nachzüglern mit, Krieger aus den Zehnerschaften, die im Brandschutt ihrer Familienhütten nach verschonten Habseligkeiten gescharrt hatten. Die Träger hielten drei- oder viermal auf breiten Bergstufen Rast. Dann neigte sich Gabriel zu Iskuhi hinab. Doch auch er konnte kaum sprechen. Denn zwei Schritte voraus lag Aram Tomasian. Und der Arzt kam jeden Augenblick, um dem Mädchen einen Schluck Milch einzuflößen und den Puls zu fühlen. Gabriel sprach mit leiser Stimme halbe Sätze: »Wohin wolltest du, Iskuhi ... Was hast du vorgehabt ... Dort ...«
Ihre Augen antworteten:
»Warum fragst du mich, was ich nicht weiß ... Es war ein Schweben ... Wir haben nur wenig Zeit mehr, weniger als in der Nacht ...«
Er kniete neben sie hin und schob die Hand unter ihren Kopf, als wollte er sie damit zum Sprechen bringen. Dabei waren seine eigenen Worte kaum vernehmbar:
»Hast du Schmerzen?«
Ihre Augen verstanden sofort und erwiderten:
»Nein! Ich spüre meinen Körper gar nicht. Aber ich leide sehr, daß es so gekommen ist, wie es kam. Wäre es ohne diese Schiffe nicht besser gewesen? Nun ist irgendein Ende da, aber nicht unsres, Gabriel ...«
Gabriels Augen verstanden weder so gut zu sprechen noch auch so gut zu lesen wie die Iskuhis. Darum sagte er auch etwas ganz Falsches:
»Es ist nur ein kleiner Kollaps, Iskuhi ... Der Hunger ...« Und zum Hilfsarzt gewandt, fuhr er französisch fort:
»Der Doktor meint dasselbe. In drei Tagen, wenn wir in Port Said ankommen, wirst du völlig erholt sein ... Du bist ja noch so jung, so jung, Iskuhi ...«
Ihre Augen verfinsterten sich und entgegneten streng:
»Solche banalen Worte solltest du in dieser Minute gar nicht sprechen, Gabriel. Ob ich leben oder sterben werde, ist mir ganz gleichgültig. Du irrst dich, wenn du meinst, daß ich mich nach dem Tode sehne. Vielleicht werde ich leben. Aber weißt du nicht, daß alles anders sein wird, wenn uns die Schiffe aufgenommen haben, auch du und ich. Nur solange wir noch die Erde des Musa Dagh unter uns haben, gehören wir einander, du als meine Liebe und ich als deine Schwester.«
Nicht alles, aber manches schien Gabriel verstanden zu haben. Wie eine Spiegelung ihrer Augenworte drang es leise aus ihm:
»Ja, wo werden wir sein ... ich und du ... Schwester?«
Ihr Mund öffnete sich zum erstenmal, zwei leidenschaftliche Silben zu bilden, die allem Früheren widersprachen:
»Bei dir ...«
Die Tragbahren wurden aufgenommen und der unbeschwerliche Rest des Weges fortgesetzt. Schon schlug Stimmengewirr empor. Unten an der Küste herrschte auf den engen Felsplatten ein lebensgefährliches Gedränge, das durch eine Anzahl von Matrosen noch gesteigert wurde, die sich unter irgendeinem Vorwand die Erlaubnis erbeten hatten, an Land zu gehn. Auch war die Einschiffung schon im Gang, die sich unter hundert Verwirrungen und mit wildem Geschrei entwickelte. Gabriel Bagradian wurde von allen Seiten mit Bitten, Wünschen, Forderungen, Fragen bestürmt. Die Volksgenossen brachten das Wunder der Rettung ohne einen vernünftigen Grund mit ihm in geheimnisvolle Verbindung. Er war ja, als ein Verwandter des mächtigen Frankreich, der gottgesandte Mann, seinen Landsleuten vom Musa Dagh auch draußen im Exil weiterzuhelfen. Insbesondere seine Gegner im Führerrat, die Schulzen, Thomas Kebussjan und die Muchtarin mit den raschen Mausaugen allen andern voran, konnten sich jetzt in kriecherischen Anbiederungen nicht genugtun. Er mußte sich durch eine Flut erregter Protektionsbitten durchkämpfen. Als er dann zu der Landungsstelle kam, war das Boot mit Aram und Iskuhi schon abgestoßen, denn auf Befehl des leitenden Offiziers gingen die Krankentransporte allen anderen vor. Auch Juliette war längst schon mit dem Motorboot des Konteradmirals an Bord der »Jeanne d'Arc« befördert worden. Die Sonne lag in unerträglich grellen Scherben und Splittern auf dem Meere. Viele Boote hielten den Kurs auf die Kriegsschiffe zu, andre bewegten sich gegen die Küste. Iskuhi lag unsichtbar in dem ihren. Gabriel konnte nur die starre Figur Howsannahs erkennen, die das armselige Bündel mit dem Erstgeborenen des Musa Dagh regungslos im Arm hielt.
Die Einschiffung ging überaus langsam vor sich. Es gab viele Schwierigkeiten zu überwinden. Man hätte zwar die größere Hälfte der Dorfgemeinden recht gut auf dem Transportdampfer unterbringen können, dieser bequemen Lösung der Raumfrage aber widersetzten sich die Ärzte. Bei dichter Zusammenpferchung von Tausenden, in der Nähe der Kranken zumal, wäre das Schlimmste zu befürchten gewesen. Man mußte im Gegenteil so verfahren, daß auf jenem Transportschiff nur die Kranken, die Erschöpften, die Verdächtigen, die Verwahrlosten beherbergt und damit von den Besatzungen und dem gesunden Volksteil geschieden wurden. Der leidige Dampfer bildete somit im Hinblick auf die Kreuzer oder gar auf die gewaltige »Jeanne d'Arc« einen Ort des Elends, des Abfalls, des Kehrichts. Eine Kommission, aus Offizieren und Ärzten zusammengesetzt, unterwarf jeden einzelnen Armenier einer Gesundheits- und Ungezieferprüfung, ehe man ihm seine Einteilung zuwies. Man ging dabei sehr streng vor. Wer nur den geringsten Zweifel erregte, wurde auf das Transportschiff verbannt. Von den Führern des Musa Dagh befand sich bei dieser Musterungskommission einzig und allein Ter Haigasun. Die Kräfte Bedros Hekims waren im Laufe der Stunden immer bedenklicher verfallen. Der Chefarzt hatte ihn schon vor längerer Zeit auf den »Guichen« bringen lassen. Auch Lehrer Hapeth Schatakhian trieb sich bereits an Bord dieses Kreuzers umher, in den ungewohnten Wonnen westlicher Zivilisation schwelgend. Die Muchtars wiederum schienen ihr Schulzenamt als beendet anzusehn und sich nur mehr als Familienväter zu fühlen, ebenso die verehelichten Dorfpriester und der Rest der Lehrer. Sie kümmerten sich jedenfalls um nichts. So oblag es Ter Haigasun allein, die Interessen des Volkes wahrzunehmen, das heißt bei den Offizieren und Ärzten dahin zu wirken, daß die Familien nicht unnötig auseinandergerissen würden und daß auch der Transportdampfer die richtigen Insassen erhielt. Gabriel Bagradian trat zu der Musterungskommission, die in der Nähe der Landungsbrücke amtierte. Er legte die Hände auf Ter Haigasuns Schultern. Dieser kehrte ihm sein Gesicht zu, das wieder wächsern ruhig war wie immer. Nur der versengte Bart und das Brandmal sprachen von den letzten Ereignissen auf dem Damlajik. Er ließ seinen scheuen und doch festen Blick in Gabriels Blick weilen, was in all dieser Zeit nur ganz selten geschehen war.
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