Der Konteradmiral landete, von einem großen Stab umgeben, an der schwanken Brücke. Seiner Motorbarkasse folgte ein Schwarm scharf dahinschießender Fahrzeuge. Zum Schutze des Geschwaderkommandeurs waren von allen Schiffen Abteilungen der Marineinfanterie mit Maschinengewehren ans Land beordert worden. Die ausgebooteten Soldaten besetzten die schmalen Felsplatten, wodurch ein dichtes Gedränge entstand und der Admiral vor lauter französischen Uniformen den Gegenstand seiner Neugier kaum zu Gesicht bekam. Während er dann langsam durch die Haufen der Dorfleute schritt, verlangte er von Beginn und Hergang der Verteidigungskämpfe genau unterrichtet zu werden. Und hier widerfuhr Lehrer Schatakhian zum zweitenmal und in erhöhtem Maße noch die Auszeichnung, das Ohr eines erlauchten Franzosen durch die Fülle seines Wortschatzes in Erstaunen setzen zu dürfen. Der Konteradmiral war ein kleiner, alter Herr mit einem streng zusammengerafften Militärgesicht, knapp und zierlich zugleich. Das Gesicht hatte braunrote Seemannsfärbung. Ein schneeweißes Bürstenbärtchen schwebte über der Oberlippe. Die blauen Augen waren sehr hart, doch schien ihr Blick durch Weite gemildert. Die graziöse Gestalt des alten Herrn steckte in keiner rechten Uniform, sondern in einem bequemen weißen Leinenanzug, der nur durch den schmalen Ordensstreifen auf der Brust soldatisches Gepräge bekam. Der Admiral stellte verschiedene Fragen nach den türkischen Streitkräften, dann zeigte er mit seinem dünnen Bambusstock gegen die Felswände und tat seiner Umgebung noch einmal den Willensentschluß kund, die Hochfläche und Kampfstätte mit eigenen Augen sehen zu wollen. Einer der Herren wagte darauf hinzuweisen, daß es immerhin ein paar hundert Meter zu ersteigen gelte, was für den Chef vielleicht beschwerlich sein werde. Auch könne man wohl nicht mehr rechtzeitig zur Dejeunerzeit an Bord sein. Der Wagemutige erhielt überhaupt keine Antwort. Der Konteradmiral gab das, Aufbruchzeichen. Der Adjutant mußte daraufhin heimlich dafür sorgen, daß die Marineinfanterie im Eilschritt den Serpentinenweg ersteige, um noch vor dem Exzellenzherrn auf dem Damlajik Stellung zu nehmen. Dieser Ausflug im Feindesland war eine höchst gewagte Sache. Der Berg schien von türkischen Truppen und Geschützen umzingelt zu sein. Es konnte somit zu höchst unangenehmen Überraschungen kommen. Bei dem eigensinnigen Charakter des Hochmögenden aber wäre jeder Einspruch aussichtslos gewesen. Man beschloß daher, während dieses Ausflugs durch ein paar Granaten, auf die Küstenortschaften die Türken in ehrerbietigem Abstand zu halten. Der Adjutant mußte außerdem noch für einen Imbiß sorgen, denn die Strapaze einer solchen Bergbesteigung war für einen alten Seemann nicht unerheblich. Es war aber gerade der Ehrgeiz des Admirals, den jüngeren Herren des Gefolges die Überlegenheit seines Herzens, seiner Lunge und Glieder zu beweisen. Er federte nur so den steilen Bergpfad empor, allen andern voran. Sato machte die Bergführerin. Ihre Kräfte hatten durch den Hunger nicht gelitten. Sie rannte voraus und wieder zurück und wieder voraus, nach ihrer Art wie eine junge Hündin den Weg dreifach zurücklegend. Dergleichen strahlende Gestalten hatte die Waise von Zeitun in ihrem Leben nie gesehn. Ihre begehrlichen Elsteraugen fraßen sich in die Uniformen, Goldschnüre und Kriegsmedaillen fest, während ihre Hand in einer Konservenbüchse die letzten Reste von kaltem Fett aus den Rillen schabte. Der Branntwein, den ihr die Matrosen geschenkt hatten, durchströmte sie befeuernd. Sie drehte in den unaussprechlichen Fetzen des ehemaligen Schmetterlingskleidchens aufdringlich ihre Hüften vor den blendenden Göttern hin und her. Manchmal streckte sie die braune schmierige Pratze den Offizieren entgegen und ein landesüblicher Naturlaut entrang sich ihren Lippen: »Bakschisch!«
Die Herren des Stabes blieben immer wieder stehn, blickten sich um und bewunderten die Schönheit des baum- und quellenreichen Musa Dagh. Und mehr als einer kam auf dieselbe Bezeichnung, die Gonzague Maris gefunden hatte: Riviera. Viele aber gaben um seiner wilden Jungfräulichkeit willen dem Mosisberg den Vorzug. Die letzten waren zwei junge Marineoffiziere. Sie hatten bisher kaum ein Wort gesprochen und auch die Landschaft nicht gepriesen. Der eine, ein Engländer, blieb stehn, drehte sich aber nicht zum Meer um, sondern starrte geradeaus auf die Felserde:
»Hören Sie, Kamerad, diese Armenier! Ich habe den Eindruck, keine Menschen gesehen zu haben, sondern nur Augen.«
Gabriel Bagradian hatte die Verteidigungslinien noch immer nicht aufgelöst. Obgleich er Meldung vom Abmarsch der türkischen Truppen im Norden und Süden bekommen hatte, schien er dem Frieden doch nicht zu trauen. Es konnte auch selbstverständliche Kriegsmoral sein, die es nicht duldete, daß die Kämpfer die Walstatt verließen, ehe das Schicksal des Volkes gänzlich geregelt war. Vielleicht aber lag der Grund für diese Strenge tiefer. Zu weit war der neue Gabriel auf dem unbekannten Wege fortgeschritten, um sich so rasch zu dem alten Gabriel zurückzufinden. In vierzig Tagen hatte sich eine Verwandlung vollzogen, die ihn jetzt an die Stelle bannte. Manchem gröberen Mann erging es ähnlich. Niemand in der Linie murrte und meuterte wider Bagradians Ausdauer, am allerwenigsten die schuldbeladenen Deserteure, die sich in kriecherischer Dienstwilligkeit überboten. Gabriel hatte zu den Zehnerschaften ein paar Worte gesprochen: Niemand könne noch von Rettung reden, ehe nicht alle Frauen und Kinder eingeschifft seien. Man habe den Franzosen durch dieses Ausharren die Würde der armenischen Nation zu beweisen. Als unbesiegte Krieger, das Gewehr in der Hand, in Zucht und Ordnung, sollten sie die alte Heimat verlassen. Auch werde er keinesfalls diese Haubitzen, die das Volk seinem Sohn verdanke, schmählich auf dem Damlajik vergessen, damit die Türken sie noch heute abend abholten. Er wünsche vielmehr, diese große und wichtige Siegesbeute den Franzosen zu übergeben. Wesentlicher noch als diese Worte war die Tatsache, daß Ter Haigasun eine hinreichende Menge von Brot, Marmelade, Wein und Konserven auf den Berg geschickt hatte und Tabak dazu. Die Männer lagen im wohligen Dämmerzustand umher und fanden diese ausdauernde Ruhe erwünschter als die kleinste Bewegung.
Die Ruhe hatte ein Ende, als die Marineinfanterie auf der Bergfläche erschien und in entwickelter Linie geradewegs auf die Haubitzkuppe marschierte. Da sprangen die Zehnerschaften auf und stürzten brüllend, jubelnd den Franzosen entgegen, die in ihren blitzblanken Uniformen einen blendenden Gegensatz zu den abgekämpften und verhungerten Lumpengestalten des Musa Dagh bildeten. Jetzt wurde den Kämpfern erst der ganze ungeheure Triumph ihres Unterfangens bewußt. Als sich nun auch die stattliche Offiziersgruppe dem Orte näherte, ging Gabriel langsam auf die Herren zu. Er tat dies in sehr gelassener Art, alles Soldatische wie aus Scham vermeidend. Sein Gewehr blieb liegen. Jetzt glich er einem Jäger oder Ausgrabungs-Ingenieur. Er lüftete den verbeulten Tropenhelm und stellte sich dem Konteradmiral vor. Der alte Herr betrachtete Gabriel ein paar Sekunden lang mit durchdringenden Augen, dann reichte er ihm die Hand:
»Sie waren der Kommandant?«
Gabriel wies sofort auf die Haubitzen, als sei es ihm ausnehmend wichtig, den Rettern zu zeigen, daß er nicht mit leeren Händen dastehe:
»Herr Admiral! Ich übergebe Ihnen und damit der französischen Nation diese beiden Geschütze, die wir den Türken abgenommen haben.«
Der Konteradmiral, der viel Sinn für Feierlichkeit besaß, nahm Stellung. Die Gestalten der übrigen Offiziere strafften sich:
»Ich danke Ihnen, Kommandant, im Namen der französischen Nation, die diese armenische Siegestrophäe in Verwahrung nimmt.«
Er reichte Bagradian noch einmal die Hand:
»Ist die Eroberung dieser Haubitzen Ihre persönliche Tat?«
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