»Jetzt bist du wieder wie früher, chérie, gottlob ...«
Er fragte sie, ob sie schon Kraft genug habe, dem Konteradmiral des französischen Geschwaders ein paar Schritte entgegenzugehn. Hier in dem dunklen Krankenzelt wolle sie ihn gewiß nicht empfangen. Juliette blickte sich in dem Gehäuse um, das sie noch vor einigen Stunden zu ihrem Grabe bestimmt hatte. Dann machte sie eine leichte und doch sehnsüchtige Bewegung gegen ihr kleines Kopfkissen hin. Gabriel nahm ihren Arm:
»Am Abend wirst du all deine Sachen bei dir haben, Juliette. Nichts wird vergessen werden ...«
Trotz dieser Beruhigung aber drehte sich Juliette im Zelteingang noch einmal nach der Dunkelheit um, wie Eurydike nach dem Hades.
Der Konteradmiral kam, nur von seinem Adjutanten und einem jungen Offizier begleitet. Man hatte ihn davor gewarnt, sich der Rekonvaleszentin allzusehr zu nähern. Die Fieberkrankheit auf dem Musa Dagh schien von höchst verdächtiger Art zu sein. Der Flottenchef aber war ein mutiger Mann, bei dem Warnungen zumeist das Gegenteil bewirkten. Er ging mit seinem straffen Schritt, der Jugendlichkeit übertrieb, auf Juliette zu und küßte ihr die Hand:
»Auch Sie, Madame, haben als Französin, als Fremde, einen hohen Anteil an den Leiden und Taten auf diesem Berg. Erlauben Sie mir, daß ich Sie zu dem guten Ausgang beglückwünsche.«
Über Juliettens verfallenes Gesicht zog ein schmachtender Schatten:
»Und Frankreich, mein Herr ...«
»Frankreich geht durch eine fürchterliche Zeit und muß auf die göttliche Gnade hoffen ...«
Juliettens Zustand schien den alten Herrn sehr zu bewegen. Er nahm ihre verschrumpfte Hand zwischen seine Hände:
»Wissen Sie, mein Kind, daß ich Sie hier wahrscheinlich nicht zum erstenmal im Leben sehe ... Damals müssen Sie freilich noch ein sehr kleines Geschöpf gewesen sein, als ich einen ganzen Tag bei Ihren jungverheirateten Eltern verbrachte ... Wenn ich mit Ihrem Herrn Vater auch nicht gerade eng befreundet war, so gehörten wir in unsrer Jugend doch ungefähr demselben Kreise an ...«
Juliette schluchzte kurz auf, doch es kam nicht zum Weinen, sondern nur zu einem seltsam abgerissenen Geplapper:
»... Natürlich ... Das Haus wurde nach Papas Tod verkauft ... Aber Mama ... Mama wohnt jetzt ... Ach, ich habe die Straße vergessen ... Sie wissen nichts von ihr, mein Herr ... Aber meinen Schwager werden Sie wohl kennen ... Ich meine den aus dem Marineministerium ... Ein hoher Beamter ... Wie heißt er nur ... Mein Kopf ... Coulomb, selbstverständlich, Jacques Coulomb ... Sie kennen ihn ... Ich sehe meine Schwestern nur selten ... Aber wenn ich wieder in Paris bin, da werde ich alle meine Freunde und Freundinnen sehn, nicht wahr? ... Sie bringen mich doch nach Paris ...«
Juliette taumelte. Der Admiral hielt sie fest. Gabriel lief ins Zelt und brachte einen Stuhl. Nun saß die Kranke. Trotz ihrer Schwäche aber ließ die Geschwätzigkeit nicht von ihr ab. Wahrscheinlich fühlte sie die Verpflichtung, Konversation zu machen. Ihr Geplapper wurde immer steifer, papageienhafter. Sie nannte immer wieder neue Namen, gemeinsame Bekannte, wie sie wähnte. Ihre Rede sprang zusammenhanglos und flüchtig von einem zum andern. Der Konteradmiral fühlte sich sichtbar unbehaglich. Endlich rief er den jungen Offizier herbei:
»Sie werden für alles sorgen, mein Freund, und Madame begleiten ... Die ›Jeanne d'Arc‹ ist ein Kriegsschiff, und Bequemlichkeiten findet man auf einem Kriegsschiff nicht. Wir wollen aber alles versuchen, um Ihnen die Reise angenehm zu machen, liebes Kind ...«
Auch nachdem der Konteradmiral, von Gabriel ein Stück geleitet, schon gegangen war, hielt Juliettens papageienhafte Geschwätzigkeit unvermindert an. Der junge Offizier, den der Chef gleichsam als Schutz- und Ehrenkavalier zurückgelassen hatte, sah beklommen auf die farblosen Lippen der armen Frau, die unablässig Fragen hervorsprudelten, die er nicht beantworten konnte. Dabei schien im Innern dieser Kranken etwas Schreckliches vorzugehn, denn sie atmete kurz, und die Schlagader an ihrem Halse jagte sichtbar. Auch wurden die Schatten unter ihren Augen immer tiefer. Der Offizier war froh, als Bagradian zurückkehrte und ein wenig später die Sanitätsmatrosen mit der Tragbahre kamen. Juliette sträubte sich zuerst:
»Da lege ich mich nicht hin ... Das ist ja eine Schande ... Ich werde lieber gehen ...«
Gabriel streichelte ihre Hand: »Das kannst du nicht, Juliette. Sei vernünftig und streck dich aus! Glaub mir, auch ich würde mich am liebsten hinuntertragen lassen.«
Die beiden Milchgesichter lachten fröhlich aufmunternd.
»Unbesorgt, Madame, wir tragen Sie vorsichtig wie Glas. Sie werden gar nichts spüren.«
Juliette ergab sich und wurde, als sie auf der Tragbahre lag, wieder ganz still. Gabriel aber brachte eine Decke, schob ihr das geliebte Kissen unter den Kopf und übergab ihr Handtäschchen dem Offizier. Dann fuhr er seiner Frau noch einmal übers Haar: »Sei ruhig ... Es wird nichts Wichtiges zurückbleiben ...«
Jäh unterbrach er sich. Der Offizier warf ihm einen fragenden Blick zu. Gabriel nickte. Die Träger nahmen die Bahre auf und gingen die ersten Schritte. Sato wartete erregt abseits, um die Führerin dieses Transports zu machen.
»Ich werde euch schnell eingeholt haben«, rief Bagradian seiner Frau nach. Juliette aber machte eine so heftige Bewegung, daß die Träger innehielten und die Bahre auf die Erde stellten. Ein zerfetztes Wahnsinnsgesicht wandte sich Gabriel zu, und eine Stimme, die er noch niemals gehört hatte, gellte:
»Hörst du? ... Stephan ... Kümmre dich um Stephan!!«
Auch in der Erlösung war das Maß des Leidens noch nicht voll. Aus dem Tomasianszelte rief es:
»Gabriel Bagradian, so kommen Sie doch!«
Gabriel hatte Iskuhi bei ihrem verwundeten Bruder vermutet. Sie ließ sich nicht blicken. Er trat in Arams Zelt. Alles Gewesene war ja widersinnig gleichgültig geworden. Er fand den Pastor in fiebernder Erregung:
»Wo ist Iskuhi, Gabriel Bagradian, um Jesu willen, wo haben Sie Iskuhi gelassen?«
»Iskuhi? Sie war nach Mitternacht eine Weile bei mir auf der Geschützkuppe. Dann habe ich sie gebeten, zu meiner Frau zu gehn ...«
»Das ist es ja«, schrie der Pastor. »Noch am Morgen war ich fest überzeugt, daß sie bei Ihnen in der Linie ist ... Sie ist nicht zurückgekommen, sie ist verschwunden ... Ich habe Leute ausgesandt ... Seit Stunden sucht man sie schon ... Die französischen Sanitätsmatrosen wollten mich längst hinunterschaffen ... Aber ich verlasse den Berg nicht ohne Iskuhi ... Wenn ihr etwas geschehn ist ... Ich verlasse den Berg nicht ...«
Er klammerte sich an Gabriels Arm fest und stemmte sich trotz seiner Wunde empor:
»Ich bin der Schuldige, Bagradian ... Das kann ich Ihnen jetzt erklären ... Aber ich bin der Schuldige ... Wenn mich Gott in meinem Kind und in meiner Schwester persönlich straft, nachdem er uns allen die Gnade gesandt hat, so ist das nur gerecht ... Auch meine Frau war nur ein Werkzeug der Prüfung ...«
»Und wo ist Ihre Frau?« fragte Gabriel sehr ruhig.
»Sie ist hinuntergelaufen. Mit dem Kind. Man hat ihr gesagt, daß es unten Milch gibt. Da war sie nicht zu halten ...«
Die Erregung übermannte den Verwundeten. Er versuchte aufzustehn, fiel aber gleich wieder zurück.
»Verflucht, ich kann nichts tun, ich kann mich nicht rühren ... Tun Sie etwas, Bagradian. Auch Sie haben Schuld an Iskuhi ... Auch Sie ...«
»Warten Sie, Pastor ... Ich gehe ...«
Gabriel sagte das mit schleppendem Ton. Dann bewegte er sich fort, über den Dreizeltplatz und noch ein Stück hinaus. Er kam aber nicht weit, sondern setzte sich irgendwo nieder und starrte ins Blaue. Durch seinen matten Sinn zog immer derselbe Gedanke: Dies also ist die Rettung! Er versuchte, das Nachtgespräch mit Iskuhi sich ins Gedächtnis zu rufen. Er hatte aber keine Einzelheit, sondern nur einen gespenstischen Hauch von Resignation in sich zurückbehalten. Sie war gekommen, um ihn an das Versprechen zu erinnern, um bei ihm zu sein in der letzten Entscheidung. Er aber hatte sie von sich gewiesen, fortgeschickt, zu Juliette. Das war doch selbstverständlich; wenn er sich jetzt prüfte, hatte er selbst nach dem gestrigen Unglück noch den Glauben an die Rettung nicht verloren gehabt. Iskuhi sollte in Sicherheit sein. War das nicht sein Gedanke gewesen? Iskuhi aber wollte etwas, was er ihr nicht geben konnte, einen entschlossenen seligen Glauben an den Untergang. In diesem Glaubensmut hatte er sie enttäuschen müssen. Wo war Iskuhi nun? Gabriel hätte nicht sagen können warum, aber seine Seele war von der Überzeugung erfüllt, daß Iskuhi nicht mehr lebte, daß Iskuhi in der Nacht noch den Tod gesucht hatte, daß Iskuhi vom Damlajik verschwunden war und alle Nachforschungen keinen Erfolg haben würden. Dennoch erhob er sich jetzt aus seiner erstarrten Hoffnungslosigkeit, um alle notwendigen Anordnungen zu treffen.
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