»Madame, bitte aufmachen! Sofort aufmachen, Madame!«
Immer erregter wallten die Zeltblätter. Juliette hob nicht einmal den Kopf. Nun erkannte sie auch Mairik Antaram: »Gib doch Antwort, Seelchen, um Christi willen! Ein großes, großes Glück ist gekommen ...«
Juliette drehte sich zur Seite. Was nennen diese Armenier Glück? Mag sich Gabriel selbst herbemühn, ich bleibe bei mir, ich lasse mich nicht weglocken. Wer ist übrigens Gabriel Bagradian? Heiße ich etwa auch Bagradian? Juliette Bagradian? Endlich zerschnitt draußen jemand die Schnüre und öffnete hastig ihre schwanke Gruft. Sie aber drehte den Eintretenden den Rücken zu, um zu beweisen, daß sie allein in ihrer eignen Welt war, wenn sie es nur wollte. Awakian und Antaram Altouni berichteten mit fremden, hochgeschraubten Stimmen irgend etwas von einem französischen Kriegsschiff namens »Guichen«. Juliette spielte die Benommene, hörte dabei aber scharf hin und stellte sofort mit dem Mißtrauen aller Verstörten fest: eine Falle! Hatte sie Doktor Altouni nicht schon gestern abend zwingen wollen, dieses geliebte Zelt, ihren allereigensten Raum, zu verlassen, um bei den anderen zu wohnen, diesen schmutzigen Tieren, vor denen sie erschauderte und die sie haßten? Gewiß, diese plumpe List war von Gabriel und Iskuhi gemeinsam ausgeheckt worden. Das Französische sollte sie verlocken, damit sie ihnen dann völlig und ohne Zuflucht ausgeliefert sei. Aber so leicht ließ sich Juliette nicht übervorteilen. Und aus diesem engelsguten Futteral, in dem sie keine Wahrheit wissen mußte, nein, aus diesem süßen Futteral würden sie ihre Feinde nicht herausreißen. Juliette ließ Awakian, Antaram und Kristaphor bitten und betteln und war wieder einmal nicht bei Besinnung. Als sich alle Versuche als vergeblich erwiesen, winkte die alte Frau:
»Laßt sie! Wir haben noch Zeit genug.« Awakian und Kristaphor aber schleppten die mißhandelten Gepäckstücke treulich vors Zelt und begannen, alles, was nicht geraubt, zerfetzt und zerschlagen war, eilig einzuräumen. Mitten in der Arbeit aber wurden sie von Gabriel berufen.
Und es geschah noch im Laufe des frühen Vormittags, daß der Zeltvorhang wiederum zurückgeschlagen wurde und daß, von Mairik Antaram geführt, zwei Männer eintraten. Dies aber waren zwei junge Burschen in blauen Uniformen mit blanken Knöpfen und Rote-Kreuz-Binden um den linken Arm. Juliette, die starr auf dem Rücken lag, sah zwei milchhelle Gesichter mit frischen, lustigen Augen. Ein süßer Schreck vor dem Unsagbar-Verwandten durchfuhr sie. Der kleinere dieser jungen Männer salutierte stramm, und seine Bruderstimme ertönte in den Lauten der verlorenen Welt:
»Bitte die Störung zu entschuldigen, Madame! Wir sind die Sanitätsgehilfen vom ›Guichen‹. Der Herr Chefarzt hat befohlen, auch Madame hinunterzutragen. Wir kommen später wieder. Madame wird dann die Güte haben und fertig sein.«
Der Kleine straffte sich hoch und fuhr mit der Hand an die Matrosenmütze, während der andre mit schwerem, verlegnem Schritt tiefer ins Zelt trat und eine Thermosflasche, ein Gefäß mit Butter auf den Spiegeltisch stellte und dazu zwei Wecken feinen Weißbrotes legte:
»Auf Befehl des Herrn Chefarztes, Tee, Brot und Butter für Madame, vorläufig ...«
Er verkündete dies im Tone einer militärischen Meldung, indem er die Hacken zusammenschlug und sein stupsnäsiges Kinderprofil dem Bette zuwandte, ohne die Frau anzusehn. Eine rührende Haltung täppischer Verlegenheit. Juliette aber ließ einen wimmernden Seufzer vernehmen, worauf die beiden Sanitäter in dem Gefühl, der Kranken zur Last zu fallen, auf behutsam ungeschlachten Zehenspitzen das Zelt verließen. Sie folgten Mairik Antaram zum Lazarettschuppen, den das Feuer verschont hatte. Dort war schon das gesamte Sanitätspersonal des Panzerkreuzers versammelt, um die Verwundeten und Kranken an die Küste zu schaffen. Juliette streckte den beiden Landsleuten sehnsüchtig die Arme nach, dann aber warf sie die Decke ab und setzte sich auf den Bettrand. Die Verpuppung war endgültig durchbrochen. Mit beiden Händen das Gesicht bedeckend, fühlte sie ihr wirr zerzaustes Haar. Entsetzt flüsterte sie vor sich hin:
»Franzosen, Franzosen! Wie sehe ich aus! Franzosen!«
Plötzlich aber war's, als schieße in dem ausgetrockneten Körper eine Feuersäule der alten Energie auf. Sie setzte sich ans Spiegeltischchen. Ihre steifgewordenen, unsicheren Finger warfen alles durcheinander, was sich noch an Schönheitsmitteln fand. Sie kleckste Rouge auf ihre Wangen, ohne die Schminke zu verwischen, wodurch ihr Gesicht noch krankhafter und welker aussah. Dann bearbeitete sie ihren Kopf mit Kamm und Bürste, immer wieder »Wie sehe ich aus?« vor sich hin flüsternd. Ihren schwachen Kräften jedoch gelang es nicht, das widerspenstige Haar zu bändigen. Da legte sie ihren Kopf auf die Arme und begann fassungslos zu schluchzen. Wie immer tat ihr das Erbarmen mit sich selbst so streichelnd wohl, daß sie dann die Haare überhaupt vergaß und offen herabhängen ließ. Ein neuer scharfer Schreck. Franzosen, Franzosen! Was soll ich anziehn? Sie begann ihre Sachen zu suchen, den Schrankkoffer, das andre Gepäck. Nichts! Der Raum war leer. Juliette jagte gehetzt die wenigen Schritte durch das Geviert um und um. Es war wiederum jene Traumangst, barfuß und im Nachtgewand in einer glänzenden Gesellschaft erscheinen zu müssen. Nach langem vergeblichem Suchen wagte sich Juliette endlich vors Zelt. Der goldklare Septembertag warf sie beinahe zurück. Im nächsten Augenblick aber kniete sie vor dem Schrankkoffer. Wer hatte ihr diese Gemeinheit angetan? Iskuhi? Alles herausgerissen, durcheinandergeknüllt, zerfetzt. Kein einziges Kleid in Ordnung, von diesen verschollenen vorjährigen Lumpen. Sie hatte nichts, gar nichts zum Anziehn, und sie mußte doch schön sein, denn die Franzosen waren da. Mairik Antaram fand Juliette auf der Erde sitzen, mitten unter den Häuflein von Hemden, Strümpfen, Kleidern und Schuhen, welche die Räuber verschon hatten. Sie konnte sich vor Erschöpfung nicht mehr rühren, jammerte aber hartnäckig:
»Die Franzosen sind da, die Franzosen sind da ... Was soll ich anziehn ...«
Mairik Antaram starrte die Kranke an, als traue sie ihren Ohren nicht. War es möglich, daß diese Frau, die nach ihrer Wiederkehr ins Leben noch kaum ein Wort gesprochen hatte und sich mit allen Kräften gegen das furchtbare Wissen wehrte, jetzt an Kleider denken konnte? Langsam aber begriff Antaram, was in Juliette vorging. Keine Eitelkeit. Ihre Brüder kamen ja. Sie schämte sich, sie wollte ihrer Brüder würdig sein. Frau Altouni kniete neben Juliette nieder und begann nun auch, in dem bunten Haufen zu wühlen. Was immer sie aber hervorzog, erregte den Zorn Juliettens. Nach langer Zeit, innerhalb welcher die Kranke auf diese sonderbare Art mit ihrem Schicksal getrotzt und Mairik Antaram himmlische Geduld bewiesen hatte, fand doch irgendein Gewand Gnade. Ein steifes und festliches freilich mit einem spitzenbesetzten Halsausschnitt. Während die alte Frau, die in solchen Künsten wahrlich kein Geschick besaß, der fast Bewegungslosen mit größter Mühe dieses Kleid anlegen half, stöhnte Juliette:
»Es ist nicht passend ...«
Welches Kleid aber wäre passend gewesen, die brüderlichen Retter zu empfangen, die ein zerbrochenes Leben doch nicht erretten konnten?
Gabriel war dem Konteradmiral vorausgeeilt, um seine Frau auf den Besuch vorzubereiten. Bei seinem Eintritt saß Juliette auf dem Bettrand. Mairik Antaram hielt eine Tasse in der Hand und versuchte der Widerspenstigen den Tee aufzuzwingen wie einem ungezogenen Kind:
»Willst du für die Franzosen schön sein, so mußt du dich stärken, sonst nützen dir all deine Kleider nichts ...«
Juliette erhob sich förmlich, als sei ein Unbekannter eingetreten, dem sie folgen müsse. Mit einem Blick auf die beiden Menschen verließ Mairik Antaram das Zelt. Eines der Brote nahm sie mit, denn sie selbst war ja dem Hungertode nah. Gabriel sah mit grellem Bewußtsein sein altes Leben und die Unüberbrückbarkeit zwischen sich und ihm. Dieses alte Leben trug ein schweres Taftkleid, das bei jeder Bewegung die Vergangenheit rauschen ließ. Die Wangen aber und die Glieder des alten Lebens hatten Farbe und Fülle verloren, die Gestalt konnte kaum frei stehn und weckte Erbarmen. Gabriels Kehle verengte sich. Wie nahe noch war ihm Juliette während ihrer Krankheit gewesen. Jetzt erst, da er sie in der feierlichen Seide vor sich sah, ermaß er ganz den Abgrund der vierzig Tage. Er mußte sich bei seinen Worten sehr zusammennehmen:
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