Der Fregattenkapitän Brisson empfing die Abordnung in der Offiziersmesse, nachdem die Schiffsartillerie das Feuer schon eingestellt hatte. Brisson machte eine entsetzte Bewegung, als er die drei Männer sah, diese eingeschrumpften Körper in Lumpen, diese bartumwucherten Gesichter mit ihren hohen Stirnen und riesigen Augen. Ter Haigasun bot den wildesten Anblick. Sein halber Bart war weggesengt. Über die rechte Backe lief eine glühende Brandwunde. Da seine Alltagskutte in der Pfarrhütte in Flammen aufgegangen war, trug er noch immer die geliehene Decke über den Schultern. Der Fregattenkapitän reichte den Männern die Hand:
»Der Priester ... der Lehrer ...?« fragte er. Schatakhian aber ließ ihm keine Zeit zu weiteren Erkundigungen, sondern riß seine ganze Kraft zusammen, verbeugte sich und begann jene Rede, die er auf dem Serpentinenweg zum Meere und später noch im Boote laut vor sich her entworfen hatte. Er leitete sie mit den unzutreffenden Worten »Mon général« ein. Vielleicht war's nur Verwirrung. Wer aber konnte schließlich von dem armenischen Volksschullehrer aus Yoghonoluk verlangen, daß er sich in der Rangordnung der französischen Marine gehörig auskenne, insbesondere da der sokratische Meister dieses Lehrers auf die Kriegswissenschaft nicht das geringste Gewicht zu legen pflegte. Nachdem Kapitän Brisson durch diese orientalisch ausschweifende Rede alles Nötige und manches Unnötige erfahren hatte, hoffte der durch sich selbst beglückte Sprecher, ein Wörtlein des Lobes werde aus solch erlauchtem Munde für seine makellose Akzentuierung fallen. Der Fregattenkapitän aber sah langsam von einem zum andern, um dann nach dem Mädchennamen Madame Bagradians zu fragen. Hapeth Schatakhian war überaus erfreut, auch hierin dienen zu dürfen und so seine Vertrautheit mit stockfranzösischen Personalien zu bekunden. Nun aber nahm Ter Haigasun das Wort. Zur Verwunderung, ja zur Betroffenheit des Lehrers sprach er ein fließendes Französisch, wovon er bisher in so vielen Schuljahren nur recht wenig hatte verlauten lassen. Er wies sofort auf den Hunger und die Entkräftung des Volkes hin und bat um unverzügliche Hilfe, weil sonst so manche Frau und so manches Kind die nächsten Stunden kaum erleben werden. Während Ter Haigasuns Worten klappte Bedros Hekim zusammen und wäre fast vom Stuhle gesunken. Brisson ließ sogleich Kognak und Kaffee bringen und den Abgesandten eine reichliche Mahlzeit servieren. Es zeigte sich aber, daß nicht nur der alte Arzt, sondern auch die zwei andern kaum etwas genießen konnten. Indessen berief der Schiffskommandant den Proviantoffizier zu sich und traf Anordnung, daß ohne Verzögerung Boote mit allen verfügbaren Nahrungsmitteln an Land zu gehen hätten. Der Arzt, das Sanitätspersonal und eine bewaffnete Abteilung Matrosen erhielten ebenfalls Befehl, zu landen.
Nachher erklärte Brisson den armenischen Männern, daß sein Panzerkreuzer keine selbständige Einheit, sondern die Vorhut eines englisch-französischen Geschwaders bilde, das die Aufgabe habe, in nordwestlicher Richtung die anatolische Küste entlang zu streifen. Der »Guichen« sei gestern abend schon, drei Stunden vor der Hauptmacht, aus der Zypernbucht von Famagusta ausgelaufen. Der Höchstkommandierende der Flottille, der Konteradmiral, befinde sich auf dem Linien- und Flaggschiff »Jeanne d'Arc«. Man habe seine Entscheidung abzuwarten. Vor einer Stunde schon sei ein Funkspruch an die »Jeanne d'Arc« gesendet worden. Die Abgesandten aber möchten sich nicht ängstigen, denn es bestehe kein Zweifel darüber, daß ein französischer Admiral einen so tapferen Stamm des mißhandelten armenischen Christenvolkes nicht einfach seinem Schicksal überlassen werde. Ter Haigasun neigte seinen Kopf mit dem entstellten Bart:
»Ich werde mir eine Frage gestatten, mein Herr Kapitän. Sie sind, wie Sie sagen, mit Ihrem Schiff nicht selbständig, sondern unterstehen dem Befehl eines Höheren. Wie kommt es dann, daß Sie nicht nach Nordwesten, sondern an unsre Küste hier gehalten haben ...?«
»Sie entbehren gewiß schon lange Zigaretten, meine Herren, ich überlasse Ihnen diese Schachtel sehr gerne ...«
Brisson überreichte dem Lehrer ein großes Zigarettenpaket und wandte dann seinen grauen Marinekopf mit nachsinnenden Augen Ter Haigasun zu:
»Ihre Frage interessiert mich, mon père, denn ich habe tatsächlich gegen die Order gehandelt und bin von unserem Kurs beträchtlich abgewichen. Warum? Um zehn Uhr haben wir das Nordkap von Zypern passiert. Eine Stunde nach Mitternacht aber hat man mir ein großes Feuer an der syrischen Küste gemeldet. Es sah aus, als brenne eine mittlere Stadt. Ein großes Stück Himmel rot! Wir waren auf hoher See, mindestens dreißig Meilen vom Land. Dabei haben Sie, wie ich höre, nur einige Reisighütten angezündet. Freilich, der Nebel wirkt oft wie eine optische Vergrößerungslinse. Solche Dinge mögen schon vorkommen. Der halbe Himmel war rot, wirklich. Ich habe aus Neugier – es war wohl Neugier – den Kurs geändert ...«
Ter Haigasun erhob sich von seinem Stuhl. Es hatte den Anschein, als wolle er etwas sehr Wichtiges vorbringen. Seine Lippen bewegten sich. Auf einmal aber machte er einige unsichere Schritte gegen die Kabinenwand und preßte sein Gesicht an die Scheibe einer der Luken. Fregattenkapitän Brisson war der Meinung, der Priester erleide jetzt denselben Zusammenbruch wie vorhin der alte Arzt. Ter Haigasun aber drehte sich um. Sonne durchflutete die niedrige Offiziersmesse des Schiffes. Das Priestergesicht schimmerte in den Strahlen wie aus Ambra geschnitten. Ter Haigasuns Augen waren ertrunken, als er armenisch stammelte:
»Das Böse ist nur geschehn ... damit die Gnade Gottes möglich werde ...«
Er hob leicht die Hände, als sei für ihn alles Erlittene sinnvoll überwunden. Der Franzose konnte ihn nicht verstehn. Bedros Hekim war mit dem Kopf auf den Tisch gesunken und eingeschlafen. Hapeth Schatakhian aber dachte nicht an den Brand der Stadtmulde, der mit der gotteslästerlichen Altarflamme begann und mit der Erlösung endete.
Zwei Stunden später stieg die mächtige »Jeanne d'Arc« am Horizont auf und hinter ihr der englische und die beiden andern französischen Kreuzer. Der große Transportdampfer folgte erst gegen Mittag nach. In breiter, schön ausgerichteter Reihe näherten sich die blaugrauen, turmbewehrten Kampfwesen dem Lande, lange parallele Kielschaumlinien nachschleppend. Der Chef des Geschwaders hatte dem Fregattenkapitän Brisson zurückgefunkt, er wolle nicht nur die armenischen Flüchtlinge aufnehmen und zu diesem Zwecke die geplante Fahrt abbrechen, sondern er wünsche persönlich die Stätte des Heldenkampfes zu besichtigen, wo der Splitter einer christlichen Nation sich vierzig Tage lang gegen barbarische Übermacht behauptet hatte. Der Konteradmiral war ein strenger, ja ein berühmter Katholik, und der Kampf der Armenier für die Religion des Kreuzes bewegte ihn aufrichtig.
Nachdem das Geschwader sich in vorbildlicher Symmetrie verankert hatte, begann auf dem spiegelhellen Meere ein glanzvolles Treiben. Hornsignale eiferten sich gegenseitig an. Ketten und Kräne ächzten. Langsam schwebten die großen Boote nieder. Die Matrosen des »Guichen« hatten mittlerweile zwischen den Klippen an der zugänglichsten Stelle eine Art von Landungsbrücke improvisiert, wobei Pastor Arams Fischereifloß zu unerwarteten Ehren kam. Die Geretteten lagen, saßen, hockten auf den schmalen Felsplatten und sahen mit verlorenen Blicken diesem Schauspiel zu, als gelte es nicht ihnen. Der Chefarzt des »Guichen« samt Gehilfen und Sanitätsleuten war mit den Kranken und Hungererschöpften beschäftigt. Er belobte Bedros Altouni hoch, daß er gestern noch, in der letzten Auflösung des Lebens, für die Ansteckungskranken oder -verdächtigen ein abgesondertes Lager gefunden habe. Altouni bekannte tief aufseufzend, daß oben auf dem Damlajik von diesen Ärmsten noch eine ganze Anzahl ungewartet und ungelabt dem Tode ausgesetzt sei, obgleich die meisten bei guter Pflege gerettet werden könnten. Der Chefarzt zog ein saures Gesicht. Die Aufnahme dieser Fiebernden bildete eine schwere Verantwortung. Was aber tun? Man konnte diese Christen doch nicht gut der Rache der Türken überlassen. Da der Chefarzt ein menschlicher Mann war, gab er seinem armenischen Kollegen einen Wink: »Reden Sie nicht viel über diese Sache!« Der Truppentransportdampfer war so gut wie leer und besaß große, wohleingerichtete Lazaretträume. Der Chefarzt zwinkerte dem Alten zu, er möge unbesorgt sein. Unter die Gesunden, so wie man von Gesunden sprechen kann, waren große Mengen von Brot und Konserven verteilt worden. Die Schiffsköche hatten große Kessel mit Kartoffelsuppe zubereitet und die gutmütigen französischen Matrosen liehen ihr eigenes Eßgeschirr her. Die Armenier aber nahmen alles hin, als sei es nicht ganz wirklich, sondern Traumbrot und Traumsuppe, die nicht sättigen könne. Doch als jeder seinen Anteil, nahezu ungekaut und ungeschmeckt, verschlungen hatte, ergriff ein neuer Gemütszustand die Gemeinden. Man war zwar sterbensmatt und ohne Leben mehr, und dennoch, die vierzig Tage lagen weit zurück wie eine halbvergeßne Sage. Noch wehrte sich der Körper gegen die ungewohnte Nahrung (o Brot, tausendmal ersehntes Brot), der Seele aber war alles wieder selbstverständlich, als sei es nie anders gewesen, als sei Gottes Gnade nichts als die natürliche Entwicklung der Dinge.
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