Gegen Morgen schlief Andreas ein. In seinen ersten Schlaf rauschte schon der frühe Lärm der Straßen. Das Tier blieb unbeweglich. Es ließ ein leises Grunzen hören und näßte das Stroh, das sofort gefror. Sein Urin roch schwer und betäubend.
Am nächsten Tag kam Andreas grußlos in die Stube. Er entnahm selbst Brot und Margarine dem Schrank. Die kleine Anna kam aus der Schule. Sie schmiegte sich an ihn, als wollte sie ihn versöhnen. »Spiel ein bißchen!« bat sie. Und Andreas spielte auf seinem Leierkasten die wehmütigsten Lieder, mit denen der Fabrikant das Instrument ausstaffiert hatte. »An der Quelle saß der Knabe« und die »Lorelei«. Und die Melodien erinnerten ihn an jenen glücklichen Sommertag, an dem er zum erstenmal in den Hof dieses Hauses gekommen war.
Oh, wunderbar war der Sommer, eine kostbare Schnur glücklicher Tage, Tage der Sonne und der Freiheit, der alten Lindenbäume in den gastfreundlichen Höfen. Die Fenster in allen Stockwerken flogen auf, rundliche rote Freudengesichter steckten die Mädchen wie festliche Lampions zu den Küchen hinaus, und der Duft guter Speisen sättigte die Nase. Lachende Kinder tanzten um die Musik, das Kreuz blinkte in der Sonne, die Uniform, heute von Stroh und Unrat beschmutzt, wie sauber und ehrfurchterregend war sie damals!
Katharina kam. Mit sachlichen, knappen Bewegungen hantierte sie im Hause. Sie schien ihren Mann gar nicht mehr zu sehn. Sie stellte wortlos und mit einem heftigen Ruck eine irdene Schüssel auf seinen Platz. Er kannte diese kleine Schüssel mit der schadhaften Glasur. Manchmal bekamen ein alter Bettler, eine verirrte Katze, ein zugelaufener Hund aus ihr zu essen. Katharina selbst schlürfte die Suppe aus einem rotgeränderten Porzellanteller. Auch hatte sie den Kohl von den Kartoffeln gesondert vor sich aufgestellt. Aber in der kleinen Schüssel Andreas’ mischte sich alles, und ein großer Knochen ragte zwischen dem Mischmasch wie ein Dachtrümmerstück im Schutt eines zerfallenen Hauses.
Was sollte er tun? Er aß und wurde demütig und richtete von Zeit zu Zeit sein Auge auf Katharina. Sie hatte ein rotes Gesicht und war sehr sorgfältig onduliert, mit vielen kleinen Wellchen, die bis zu den Augen reichten, und in der Mitte trug sie ein paar kurzgeschnittene und in die Stirn gekämmte, am Ende mit einem scharfen Lineal abgeschnittene Härchen, die wie Fransen eines Schals aussahen. Sie duftete wie ein Friseurladen nach allerlei Gerüchen, Patschuli mischte sich mit Haaröl und dieses mit Kölnischem Wasser. Ein anderer hätte sofort erkannt, daß Katharina einen ganzen Vormittag im Damenfrisiersalon zugebracht hatte. Andreas aber merkte nichts.
Ihn beschäftigte nur das Rätsel der plötzlichen Veränderungen, die sich um ihn vollzogen hatten. Es war wie eine Verzauberung. Er versuchte, sich den Vorfall in der Straßenbahn klar ins Gedächtnis zu rufen. Er sah wieder den Herrn, der ihn angegriffen hatte. War es nicht umgekehrt gewesen? Was hatte der Herr nur gesagt? Daß die Invaliden simulierten! Und es stimmte. Wie oft hatte Andreas selbst Simulanten gesehen. Woraus entnahm er eigentlich, daß der Herr ihn persönlich gemeint hatte? Er sprach ganz allgemein. Er ärgerte sich mit Recht über die Versammlung. Waren es doch Tagediebe, Rebellen, Gottlose, sie wollten die Regierung stürzen, und sie verdienten ihr Schicksal.
Es war eben eine Ausnahme, daß Andreas das Pech hatte, mit einem unfreundlichen Schaffner, mit einem verständnislosen Polizisten zusammenzustoßen. Sie sollen ihn nur vor Gericht bringen. Hier wird er kategorische Bestrafung der untergeordneten Organe verlangen. Hier wird er seinen Lebenslauf erzählen, seine Kriegsteilnahme, seine Begeisterung für das Vaterland. Er wird die Lizenz wiederbekommen. Er wird Katharinas Achtung aufs neue erringen. Er wird Herr im Hause sein. Der Mann seiner Frau. Sie stand auf. Ihre breiten, in ein Mieder gepreßten Hüften bewegten sich selbständig, und die strotzende Fülle ihrer Brüste zappelte, wenn sie einen Schritt machte. Andreas erinnerte sich an ihre gemeinsamen Liebesfeste, an den Druck ihrer nachgiebigen und dennoch muskulösen Oberschenkel, und er höhlte die Hand und glaubte wieder die breite, weiche, schwellende Endlosigkeit ihrer Brust zu fühlen.
Ach! laßt uns nur vor Gericht kommen. Dort sitzen keine ungebildeten Polizisten und keine rohen Schaffner. Die Gerechtigkeit leuchtet über den Sälen der Gerichtshöfe. Weise, noble Männer in Talaren sehen mit klugem Blick in das Innere des Menschen und sondern mit bedächtigen Händen die Spreu vom Weizen.
Hätte Andreas eine Ahnung von der Jurisprudenz gehabt, so hätte er gewußt, daß die Gerichte sich bereits mit ihm beschäftigten. Denn sein Fall gehörte zu jenen sogenannten »eiligen Fällen«, die nach einem Erlaß des modernen Justizministers sofort in Behandlung genommen wurden und zur Erledigung kamen. Schon hatten die großen, rollenden Räder des Staates den Bürger Andreas Pum in die Arbeit genommen, und ohne daß er es noch wußte, wurde er langsam und gründlich zermahlen.
Inhaltsverzeichnis
Am nächsten Morgen kam eine gerichtliche Vorladung an den »Lizenzinhaber Andreas Pum«. Das Schriftstück trug ein Amtssiegel, einen weißen, lithographierten Wappenadler auf einem roten, runden Papier, und obwohl die Adresse von einer flüchtigen Hand geschrieben war und der Gerichte vielbeschäftigte Eile bewies, verbreitete das Schreiben dennoch eine Ahnung von jener langsamen Feierlichkeit, die unsere Ämter auszeichnet. Es enthielt die Vorladung vor die zweite Kammer, welche die eiligen und unbedeutenden Strafsachen zu behandeln hatte. Zum erstenmal wurde hier Andreas Pum als ein »Beschuldigter« bezeichnet, ein Wort, das, wenn es von einem Gericht geschrieben war, schon fast wie »Bestrafter« klang. Im übrigen enthielt das Schreiben nur noch die nähere Terminbestimmung, einen runden, roten Stempel, der etwas blaß und undeutlich ausgefallen war, und die unleserliche Unterschrift eines Richters, die anzudeuten schien, daß der Mann der Gerechtigkeit vorläufig nicht gekannt sein wollte.
Mehrere Male las Andreas das Schreiben des Gerichts, in einer törichten und aussichtslosen Hoffnung, daß er zwischen den gedruckten Zeilen des Formulars etwas herauslesen könnte, Nützliches oder Schädliches, etwas von der Stimmung, die den Richter beherrschte. Als das nicht gelang, versuchte er, sich das Gericht vorzustellen, das Kreuz, die Lichter, die Barriere, die Angeklagtenbank, den Ex-officio-Verteidiger, den Richter, den Schreiber, den Gerichtsdiener, die Aktenbündel und das große Bild des Gekreuzigten, zu dem er innerlich schon betete. Er ging in die Kirche aus gelben Ziegelsteinen hinüber, in der er seit seiner Trauung nicht gewesen war. Die Kirche war leer, ein Fensterflügel stand in der Höhe eines Stockwerks offen, und kalte Luft blies der Winter in das Gotteshaus, das dennoch muffig roch, nach Menschen, ausgelöschten Talgkerzen und Tünche. Andreas faltete die Hände, kniete nieder und sagte mit der dünnen Stimme, mit der er als Schulknabe vor dem Unterricht gebetet hatte, drei, vier, fünf Vaterunser auf.
Hierauf fühlte er sich beruhigt, gesichert vor böser Überraschung, vor dem gerichtlichen Urteil, das im Schoße des Morgen lag.
Er kehrte heim und traf einen fremden Mann im Zimmer. Der stand auf und verneigte sich leicht und setzte sich wieder und sagte sitzend zu Andreas: »Ich warte auf Ihre Frau Gemahlin. Sie entschuldigen schon! Ihre Frau Gemahlin muß in einer Viertelstunde dasein. Ihre Frau Gemahlin war heute früh bei mir im Geschäft. Sie können selbst sehen, wie pünktlich ich bin. Den ganzen Tag unterwegs und immer pünktlich. Das ist meine Devise.«
Andreas betrachtete den Mann feindselig, obwohl er ihn weder kannte noch verstanden hatte. Gewiß war er zu irgendeinem bösen Zweck hier – Andreas ahnte es. Er gab sich einige Mühe, den Beruf und die Absichten des Fremden zu erraten. Aber es gelang ihm nicht. Solange der Fremde saß, machte er den Eindruck eines großgewachsenen Mannes, wenn er aufstand, war er sehr klein. Denn er hatte kurze Beine. Sein vorgewölbtes Bäuchlein hätte auf eine gewisse Gutmütigkeit schließen lassen, ebenso wie die rötlichen Mädchenwangen und der harmlose kleine schwarze Schnurrbart und das glatte, gepuderte und säuberlich rasierte Kinn, das in der Mitte eine lächelnde Mulde hatte. Auch das Näschen war zierlich, sorgfältig und wie aus Gips geformt. Aber in den kleinen schwarzen Augen brannte ein böser Glanz. Der Fremde sah aus wie ein pausbäckiger Knabe mit dem Wuchs und dem Gebaren, der Stimme und dem Bartwuchs eines Mannes. Von ihm ging eine heitere Bosheit aus, eine niederträchtige Gutmütigkeit. Er saß da und hatte gar nicht das Angesicht eines Wartenden. Es schien, daß er sich nicht einen Augenblick langweilte. Seine brennenden Augen sprühten Funken über die Gegenstände des Zimmers, den Teppich, den Tischläufer, die Vase aus blauem Stein, das Kissen mit der Stickerei, als wollte er alles in Brand setzen. So saß er da, lebhaft beschäftigt, und ließ merken, daß sein reger Geist auch an den gleichgültigsten Dingen der Welt Interesse zu finden imstande war.
Читать дальше