Dann erst wandte sich Katharina den häuslichen Angelegenheiten zu. Sie warf sich auf die Knie und begann, mit einem quietschenden Fetzen den Boden aufzuwischen. Dazwischen schrie sie: »Ännchen, stell die Vase auf!« und: »tummel dich!« und: »schöne Bescherung!« und: »so ein Krüppel.«
Sie wütete scheuernd gegen die längst getrockneten und gelblich glänzenden Dielenbretter. Sie fuhr mit den Nägeln zwischen die einzelnen Bretter in die Fugen und wirbelte und spritzte kleine Erdklümpchen auf. Trotz ihrer angestrengten Tätigkeit konnte sie denken und sogar in Wehmut schwelgen. Auf dem Boden ausgestreckt und ihn, wie zur Strafe, bearbeitend, dachte sie traurig an ihr verpfuschtes Leben. Ach, sie dachte an den schmucken, schlanken Unterinspektor der Polizei, Vinzenz Topp, den sie eines Krüppels wegen ausgeschlagen hatte. Oh, wo waren ihre Augen gewesen?!
Schnell erhob sie sich. Schnell löste sie ihr geschürztes Kleid, warf sie das Schlüsselbund auf den Tisch, ergriff sie einen Kamm, stellte sich vor den Spiegel und ordnete ihre Haare.
Dann schlug sie die Tür ins Schloß und rannte den Korridor entlang zu der Wohnung des Klempners Faßbend, bei dem der Unterinspektor ein möbliertes Kabinett innehatte.
Vinzenz Topp hatte in der letzten Nacht Dienst gehabt. Jetzt war er gerade im Begriff, sich zu rasieren. Mit einem halb eingeseiften Angesicht lief er zur Tür.
»Entschuldigen Sie, entschuldigen Sie, ich bitte vielmals um Entschuldigung!« sagte Vinzenz Topp, während er die Frau Katharina in sein Zimmer führte. Die Familie Faßbend war für zwei Tage aufs Land gefahren zu der Kindstaufe eines landwirtschaftlichen Onkels. Vinzenz Topp ließ Frau Katharina niedersitzen und bat, sich rasieren zu dürfen. Die Höflichkeit war seine zweite Natur, man hätte ihn mitten in der Nacht wecken können, und er wäre höflich gewesen.
Frau Katharina war gekommen, um juristischen Rat zu erbitten. Sie hatte zu ihm Vertrauen wie zu einem Rechtsanwalt. Sehr schnell und mit jener präzisen Sachlichkeit, die sie vor ihren Geschlechtsgenossinnen auszeichnete, erzählte sie den ganzen Vorfall.
Vinzenz Topp kniff die Unterlippe ein, um sein wundrasiertes Kinn mit dem Stein einzureiben. Dann streute er wohlriechenden Puder auf sein Angesicht. Hierauf nahm er den Uniformrock von der Stuhllehne und schlüpfte in ihn sorgfältig, wobei seine Knochen knackten. Jetzt erst war er fähig, eine Auskunft zu erteilen.
Ach, es war nicht das erstemal, daß sich Leute – »Laien«, wie er sie nannte – an ihn um Rat und Auskunft gewandt hatten. Er wußte manches aus seiner Praxis. Dieser Fall schien ihm sehr verwickelt.
»Das ist bewaffneter Widerstand gegen die Staatsgewalt und übrigens Amtsehrenbeleidigung. Ihr Herr Gemahl« – Vinzenz sagte immer »Herr Gemahl«, denn er war ein besserer Mensch – »kann froh sein, wenn er mit einer Polizeistrafe davonkommt. Wahrscheinlich wird sich auch das Gericht mit der Sache beschäftigen.«
Katharina breitete ihre Arme aus, stützte sie auf den Tisch und ließ den Kopf auf die Platte sinken. Nach einer Weile wurde ihr Schluchzen hörbar. Ihre Arme lagen rosig, rundlich und verlockend da.
Vinzenz Topp legte seine duftende Hand auf einen dieser Arme. »Trösten Sie sich!« sagte er. Dann ging er zur Tür und schob für alle Fälle den Riegel vor.
Katharina erhob ihr tränenüberströmtes Antlitz. Sie wußte selbst nicht, ob sie um ihren Mann weinte oder um Vinzenz Topp. Er war so schön mit seinem weißgepuderten Kinn und seinem noblen Toiletteseifengeruch. Seine Uniform saß wie angegossen. Oh, wo waren ihre Augen gewesen?
Sie verglich. Sie konnte nicht anders.
»Retten Sie mich!« schluchzte sie plötzlich auf und breitete ihre Arme aus. Vinzenz ließ sich in sie fallen.
So kam er endlich zu dem Genuß dieser Frau, die er lange und insgeheim ersehnt hatte. Es war eine freundliche Fügung des Schicksals.
Er vergaß nicht, schwere Beschuldigungen gegen Andreas zu häufen, den er nicht mehr »Herr Gemahl« nannte. Auch der Frau Katharina machte er sanfte Vorwürfe. Aber alles sprach er in einem zärtlichen, überlegenen Schäkerton, wie ihn Katharina noch niemals vernommen hatte.
Als sie seine Wohnung verließ, war es später Abend. Sie roch nach seiner Seife, und sie trug freudig seine Atmosphäre mit sich herum. Man kann sagen, daß sie an diesem Abend vollkommen glücklich war.
Inhaltsverzeichnis
Das Unglück Andreas Pums hatte noch einem anderen wohlgetan: dem Herrn Arnold nämlich. Sein Zorn war verraucht. Den unangenehmen Luigi Bernotat versuchte er zu vergessen. Morgen wollte er zum Rechtsanwalt gehen. Er küßte seine Frau und seine blühenden Kinder. Er sprach wieder freundlich mit dem Dienstmädchen. Und obwohl ein strenger Ernst über seinem Wesen und seinen Bewegungen und seinen Worten lag, atmete seine Umgebung dennoch auf. Er warf einen freundlichen Schatten auf seine Familie.
Andreas Pum aber ging in den Stall. Da stand Muli und hauchte Wärme aus. Eine Fledermaus hing im Winterschlaf zwischen zwei Pfosten, die im Winkel ein Dreieck bildeten. Das feuchte Stroh stank und war in der Nähe der Tür gefroren. Der Wind blies durch ihre Fugen. Andreas sah ein paar Sterne des nächtlichen Winterhimmels durch eine Ritze. Er spielte mit einem Strohhalm. Er flocht einen Ring aus drei Halmen und schob ihn auf das Ohr Mulis. Das Tier war gut und ließ sich liebkosen. Es hob mit freundlicher Langsamkeit einen Hinterfuß, und das sah aus, als hätte es den ungelenken Versuch gemacht, Andreas zu streicheln. Es war hell genug, daß man seine Augen sehen konnte. Sie waren groß in der Dunkelheit und bernsteingrün. Sie waren feucht, als stünden sie voller Tränen und schämten sich doch zu weinen.
Je weiter die Nacht fortschritt, desto kälter wurde es. Andreas hätte am liebsten gewimmert, wenn er sich nicht vor dem Tier geschämt hätte. Sein fehlendes Bein schmerzte wieder, nach langer Zeit. Er schnallte die Krücke ab und betastete seinen Stumpf. Er hatte die Form eines abgeflachten Kegels. Dünne Rillen und Vertiefungen zogen sich kreuz und quer über das Fleisch hin. Wenn Andreas seine Hand darauf legte, milderte sich der Schmerz. Aber der andere, der in seinem Innern wütete, hörte nicht auf.
Die Nacht war still und hell. Die Hunde bellten. Ferne Türen gingen. Der Schnee knisterte, obwohl ihn niemand betrat, und nur, weil der Wind über ihn hinstrich. Draußen schien sich die Welt zu weiten. Man sah durch die Ritze ein schmales Stückchen Himmel. Aber es gab eine deutliche Vorstellung von seiner Unendlichkeit.
Wohnte Gott hinter den Sternen? Sah er den Jammer eines Menschen und rührte sich nicht? Was ging hinter dem eisigen Blau vor? Thronte ein Tyrann über der Welt, und seine Ungerechtigkeit war unermeßlich wie sein Himmel?
Weshalb straft er uns mit plötzlicher Ungnade? Wir haben nichts verbrochen und nicht einmal in Gedanken gesündigt. Im Gegenteil: wir waren immer fromm und ihm ergeben, den wir gar nicht kannten, und priesen ihn unsere Lippen auch nicht alle Tage, so lebten wir doch zufrieden und ohne frevelhafte Empörung in der Brust als bescheidene Glieder der Weltordnung, die er geschaffen. Gaben wir ihm Anlaß, sich an uns zu rächen? Die ganze Welt so zu verändern, daß alles, was uns gut in ihr erschienen, plötzlich schlecht ward? Vielleicht wußte er von einer verborgenen Sünde in uns, die uns selbst nicht bewußt war?
Und Andreas begann mit der Hast eines Menschen, der in seinen Taschen nach einer vermißten Uhr sucht, nach verborgenen Sünden in seiner armen Seele zu forschen. Aber er fand keine. War es etwa eine Sünde, daß er die Witwe Blumich genommen hatte, und rächte sich jetzt ihr toter Mann? Ach! lebten die Toten? Hatte er sich je an Muli, dem Esel, versündigt? War das etwa ein Unrecht, daß er das Tier, als es einmal unterwegs stehenblieb und etwas Unerklärliches auf dem Boden suchte, mit einem sanften Schlag weitertrieb? Ach, war der Schlag auch sanft gewesen? War es nicht vielmehr ein harter, ein schmerzlicher, ein unbarmherziger? »Muli, mein Esel!« flüsterte Andreas und legte seine Wange an die Stelle, die er geschlagen hatte.
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