Es war spät. Man mußte heim. Am besten, man bestieg eine Straßenbahn.
Hätte der Herr Arnold, wozu er wohl in der Lage gewesen wäre, ein Auto genommen, um heimzukommen, er wäre der letzten Aufregung dieses furchtbaren Tages entronnen und sein Weg hätte sich nicht unheilvoll mit jenem des Leierkastenmannes Andreas Pum gekreuzt. So aber richtet es ein tückisches Geschick ein: daß wir zugrunde gehen, nicht durch unsere Schuld und ohne daß wir einen Zusammenhang ahnen; durch das blinde Wüten eines fremden Mannes, dessen Vorleben wir nicht kennen, an dessen Unglück wir unschuldig sind und dessen Weltanschauung wir sogar teilen. Er gerade ist nun das Instrument in der vernichtenden Hand des Schicksals.
Inhaltsverzeichnis
Es fügte sich, daß Andreas, der an diesem Nachmittag seinen Leierkasten zu Hause gelassen hatte und den Esel im Stall, wie er es an jedem Mittwoch zu tun gewohnt war, plötzlich so müde wurde, daß er, obwohl er sparsam und sein Haus nicht mehr weit entfernt war, die Straßenbahn bestieg. Hart an ihrem Eingang und so, daß er das halbe Trittbrett einnahm, stand Herr Arnold mit seinem Regenschirm, wie ein Wächter. Mehrere Passanten hatten sich schon über den umfangreichen Herrn aufgeregt, der den Verkehr so anmaßend behinderte. Arnold aber war – wir wissen, weshalb – nicht in jener Stimmung, in der man seinen Mitmenschen Gerechtigkeit widerfahren läßt. Er, der sonst immer für die vorgeschriebene Ordnung auf öffentlichen Verkehrsanstalten eingenommen war, rebellierte gegen seine eigene Überzeugung.
Andreas Pum war schon lange nicht Straßenbahn gefahren. Er hatte sie als ein sympathisches Verkehrsmittel in der Erinnerung. Immer boten ihm zwei und drei Passagiere gleichzeitig ihre Plätze an. Seine Krücke, sein militärischer Anzug, den er an Wochentagen trug, und sein blankes Kreuz sprachen zu dem Gewissen der Leute, selbst jener mürrischen Nebenmenschen, die immer tiefbekümmert und wie durch tausend Ungerechtigkeiten, die ihnen jemand zugefügt, erbittert durch die Welt gehen, mit dem Ziel, allen, die ihnen in den Weg laufen, das Dasein zu erschweren. In der Straßenbahn begegnete Andreas Pum immer zuvorkommenden Gesichtern.
Um so größer war seine Verwunderung über den fremden Herrn, der nicht um einen halben Zoll von seinem Platz rückte, obwohl er sah, daß Andreas mit Krücke und Stock zumindest ein ganzes Trittbrett für sich allein benutzen mußte, wenn er die Bahn besteigen wollte. Hinter Andreas drängten die Leute. Der Schaffner befand sich im Innern des Wagens. Indessen aber sah Herr Arnold geradeaus vor sich hin, als wüßte er gar nicht, was sich alles vor ihm begab, und seine Gedanken waren etwa von dieser Art:
Das ist so ein Invalide. Ein Simulant. Das andere Bein hat er sorgfältig verborgen. Ein Soldat! Ha – ha! Das kennen wir. Diese Kerle schämen sich nicht, die Uniform zu entehren. Eine Auszeichnung! Welch ein gottloser Schwindel! Der kommt aus der Versammlung der Invaliden, die ich gerade gesehen habe. Die Herren Genossen! Man tut nicht genug für sie. Ich gehöre dem Wohltätigkeitskomitee vom Silbernen Kreuz an. Der Herr Reschofsky ebenfalls. Alle Herren aus meiner Gesellschaft. Jeder tut, was er kann. Sie sind unzufrieden. Undank ist der Welten Lohn. Der Fratz, den ich gestern kaum angerührt habe, schickt mir ihren Zuhälter an den Hals. Einen Artisten! Er wagt es, mich zu beleidigen. Die Gerichte sind imstande, ihm recht zu geben! Diese Gerichte heutzutage! Gibt es überhaupt noch eine Gerechtigkeit in der Welt?
Des Menschen Gedanken sind schneller als die Blitze, und ein empörtes Gehirn kann wohl in einer halben Minute eine ganze Revolution gebären. Die Straßenbahn wartete schon eine Minute länger. Andreas Pum beschloß endlich, sich, so gut es ging, an dem steinernen Herrn vorbeizudrücken. Es gelang ihm, nachdem ihm eine Frau, die rückwärts stand, geholfen hatte. Nun aber wurde sogar der sanfte Andreas aufgeregt. Es fiel ihm nicht ein, in den Wagen zu gehen. Er blieb neben dem unbeweglichen Herrn.
Es geschah im Leben Andreas’ zum erstenmal, daß ihm das Angesicht eines gutgekleideten Herrn unsympathisch war. Andreas sah die schiefe Nase und den rötlichen Schnurrbart. Längst hatte er sich damit abgefunden – ja, es war ihm kaum jemals eingefallen, darüber empört zu sein, daß andern Menschen kein Bein fehlte. Aber die körperliche Unversehrtheit dieses einen Herrn verdroß Andreas. Es war ihm, als machte er jetzt erst die Entdeckung, daß er ein Krüppel und die andern Menschen gesund waren.
Dem Herrn Arnold gegenüber stand eine große Dame. Sie trug über ihrem Jäckchen eine kleine Pelerine und hielt die Hände hoch über der Brust. Sie hatte ein gelbes, langes Gesicht, einen Kneifer und eine verschwindend kleine Nase mit trockenen Nasenlöchern. Sie sah einem gilbenden Schilfrohr ähnlich.
Zu ihr sprach plötzlich Herr Arnold: »Diese Invaliden sind gefährliche Simulanten. Ich war gerade jetzt in ihrer Versammlung. Alle natürlich Bolschewiken. Ein Redner gab Anleitungen. Die Blinden sind nicht blind, die Lahmen sind gar nicht lahm. Alles Schwindel.«
Die dünne Dame nickte und versuchte zu lächeln. Es war, als drückte jemand ihr Angesicht schmerzlich, wie man Zitronen zu pressen pflegt. »Auch die Einbeinigen«, fuhr Herr Arnold fort, »sind nicht einbeinig. Man macht das ganz einfach – so!« Und Arnold hob einen Fuß und wollte zeigen, wie man ein halbes Bein verbergen kann.
Da schrie plötzlich Andreas: »Sie Fettbauch, Sie!«
Er wußte nicht, wie er zu diesem Schrei gekommen war. Denn er hatte in seinem ganzen Leben nicht so laut geschrien, und er hätte sich vor fünf Minuten noch nicht vorstellen können, daß er einen fremden Herrn so angreifen würde. Ein unerklärlicher Haß vergewaltigte Andreas. Vielleicht hatte er lange in ihm geruht, verhüllt von Demut und Frömmigkeit.
Herr Arnold hob die Hand. »Sie Schwindler, Simulant, Sie Bolschewik, Sie!« schrie Arnold, und einige Passanten stürzten aus dem Wagen auf die Plattform.
Es waren im Wagen zum Unglück kleine Bürger und Frauen, Menschen, die, durch die Ereignisse der Revolution verschüchtert, gedrückt, aber nicht minder erbittert, einen zähen Kampf gegen die Gegenwart führten, mit zusammengebissenen Zähnen und würgenden Tränen im Halse rückwärts sahen, in die strahlende Vergangenheit ihres Landes, und denen das Wort Bolschewik nichts anderes bedeutete als Raubmörder. Es war ihnen, als hätte vorn ein Mitglied ihrer Familie um Hilfe gerufen, als es den Schrei: Bolschewik! ausstieß.
»Ein Simulant! Ein Bolschewik! Ein Russe! Ein Spion!« riefen einige Stimmen durcheinander.
Und ein würdiger Herr, der im Innern des Wagens sitzenblieb, in einem Winterrock von erhabener Sauberkeit und glänzendem Alter, sagte vor sich hin: »Es wird ein Jude sein!«
Andreas hatte seinen Stock erhoben, halb, um sich im Falle eines Angriffs zu wehren, aber auch, um anzugreifen. Der Schaffner kam, verschloß sorgfältig seine Geldtasche, weil er aus Erfahrung wußte, daß bei jedem Gedränge Diebe waren, und mischte sich in die aufgeregte Passagiergruppe auf der Plattform. Die Bahn fuhr gerade durch eine lange, stille Straße, in der es wenig Haltestellen gab. Der Schaffner versuchte, die Leute in das Innere des Wagens zurückzuschicken. Er überlegte einen Augenblick, wer von den beiden wohl recht haben mochte, und er entsann sich eines Zeitungsartikels, aus dem zu erfahren war, daß die Simulanten geriebene Kerle seien und daß man durch Bettelei unter Umständen viele Tausende im Tag verdiene. Er wußte noch genau, wie er nach der Lektüre empört war über die Unverschämtheit der Bettler und ihre hohen Einnahmen, die er mit seinem eigenen Hungergehalt verglich. Außerdem gemahnte ihn das Angesicht und die Statur des schreienden Herrn von ferne an einen vorgesetzten Magistratsbeamten, den er einmal flüchtig gesehen hatte. Gleichzeitig erinnerte er sich an das Unglück eines Kollegen, der einen Herrn in der Bahn grob behandelt und infolgedessen seinen Posten verloren hatte. Der Herr war nämlich ein Magistratsbeamter gewesen. Alle diese Erwägungen veranlaßten den Schaffner, Andreas Pum um eine Legitimation zu fragen.
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