»In der Nacht schliefen wir vier in einem großen Zimmer, jeder in einer Ecke. Links am Fenster stand mein Bett. Mir gegenüber schlief die kleine Gerb. Ihr Vater war ein deutscher Finanzbeamter, aus Hessen, glaube ich. In der Nacht kam sie in mein Bett. Wir waren damals sechzehn Jahre alt. Sie erzählte mir, daß ihr Vater, ein Kadettenschüler, sie sozusagen aufgeklärt habe. Das ist doch furchtbar, nicht?«
Friedrich verstand nicht, wonach sie gefragt werden wollte. »Ich glaube«, sagte er, »daß es Ihnen nicht so furchtbar vorkäme, wenn Sie bedenken wollten, daß 60 % aller proletarischen Kinder zwischen zwölf und sechzehn nicht mehr intakt sind. Haben Sie einen Begriff davon, wie es in den Massenquartieren aussieht?« Sein alter Zorn! Mit einem bitteren Eifer begann er wieder und nahm ihr jede Lust zu Geständnissen. In einem guten Pensionat, wo nur vier Mädchen in einem Zimmer schlafen, hat man keine Ahnung von einer Arbeiterwohnung. Er schilderte ihr eine. Er erklärte, was ein Bettgeher sei, ein Obdachlosenheim, das Leben der Verbannten und der politisch Verurteilten.
Sie tröstete sich. Welch eine Bekanntschaft! dachte sie stolz. Sie fragte ihn nach seiner Jugend. Er erzählte von seiner Tätigkeit an der Grenze. »Ich beneide Sie«, sagte sie. »Sie sind frei und stark. Wollen Sie zu mir hinaufkommen? Mittwoch nachmittag?«
Aus dem dunklen Hausflur leuchtete ihr Lächeln wie ein Licht.
Die meisten jungen Männer erschienen ihr langweilig wie ihr Vater. Sie sehnte sich danach, ein Mann zu sein, und verachtete die Männer, die mit ihrer Männlichkeit nichts anzufangen wußten. Sie hätte Friedrich glatt wie den Oberleutnant gewünscht und zudringlich wie den Maler, und zum erstenmal nach langen Jahren weinte sie im Bett, nackt der Finsternis preisgegeben, ein armes Mädchen ohne eine Spur von Emanzipation.
Am Morgen sah sie das Wochenprogramm durch mit der vagen Absicht, das Leben zu reformieren. Es war Sonntag. Montag kam die Näherin, Dienstag ging sie mit Frau G. ins Theater, Mittwoch Gäste, Donnerstag Vortrag, Freitag die Tante, Samstag zwei Herren vom Ministerium zum Abendessen und nachmittags eine Stunde Porträt vor dem Maler. Sie wollte Frau G. dazu einladen, aber die Freundin hatte keine Zeit, mußte mit ihrem Mann einen längst vorbereiteten Ausflug machen, zu seinen Verwandten, drei Stunden Eisenbahn. Innerhalb der nächsten fünf Minuten vergaß sie den Ausflug, sah in der Zeitung nach, was es am Samstag für Aufführungen gab, wurde rot, verwickelte sich, kam schnell auf ein anderes Thema. Zum erstenmal mischte sich in ihren Abschied eine Feindseligkeit, die auch ein beabsichtigt herzlicher Händedruck nicht vergessen ließ und nicht die übliche Umarmung, die diesmal sogar eine Sekunde länger dauerte als sonst. Sie hält mich für ihre Rivalin, kombinierte Hilde schnell. Ihre »beste Freundin«.
Sie trat in dem kleinen Kaffeehaus ein, um Friedrich zu überraschen, fand ihn nicht und hinterließ ihm eine Einladung für Samstag nachmittag.
Er kam und traf den Maler. Er kannte den auffälligen Mann schon vom Sehen. Er haßte den markanten Schädel voller Bedeutung, die breite, weiße Stirn, die buschigen Brauen, die ihr Besitzer jeden Tag zu besprengen schien wie Wiesenbeete. Sie beschatteten seine leeren Augen derart, daß in ihnen die dunkle Tiefe rästelhafter Seen zum Vorschein kam. Er haßte den tiefen, weichen und betont legeren Kragen, aus dem ein massives Doppelkinn dem Kinn wie zu dessen Unterstützung entgegenkam. Er haßte die sogenannten guten Köpfe im allgemeinen. Sie verwendeten einen großen Teil ihrer Energie darauf, noch bedeutender auszusehen, als die Natur es beabsichtigt hatte, und es war, als ob sie jeden Morgen nach dem Aufstehn ihre Talente an den Spiegel abgegeben hätten.
Hilde gab dem Maler den Vorzug. Sie nahm es Friedrich übel, daß sie seinetwegen eine schlechte Nacht verbracht hatte. Sie warf ihm vor, daß er an einem trüben und regnerischen Abend anders erscheinen konnte als an einem hellen Nachmittag. Außerdem war er jetzt verstockt und stumm. Er sah zu, wie der Maler im Laufe einer halben Stunde zehn Skizzen anfertigte, mit fliegenden Fingern und einem drohenden Blick, der von Hilde zum Papier sprang und wieder zurück. Hilde war unruhig. Obwohl sie keinen Zug zu verändern schien, gingen doch plötzlich Veränderungen unter ihrer Haut und unter ihren Zügen vor, und nur an den Augen konnte man sehen, wie ein Licht erlosch und sich wieder entzündete.
Friedrichs Stummheit brachte den Maler außer Fassung. »Ich muß Sie allein haben«, sagte er leise und so, als wollte er, daß Friedrich verstünde, er sagte ein Geheimnis. Friedrich stand auf, der Maler warf einen Blick gegen den Plafond. Er hatte die Fähigkeit, die Welt mehr mit den Brauen als mit den Augen zu sehen. Er packte mit hastiger Resignation seine Blätter zusammen. Da Hilde fürchtete, daß er beleidigt wäre, bat sie ihn zu bleiben. Aber sie ließ Friedrich gehen, und er verschwand, stumm und verstockt und mit dem Entschluß, ihr einen deutlichen Brief zu schreiben, ihr klarzumachen, daß sie ein unwürdiges, verlogenes Leben führte, daß sie anders werden müßte, daß sie mit dieser Bürgerlichkeit und dieser falschen Rebellion aufhören müßte. Alles dies schrieb er in der Hast eines Menschen, der sich vor einer nahen Gefahr retten will. Als er zur vierten Seite gelangte, überlegte er. Er wollte den Brief vernichten, aber er erinnerte sich, daß in allen Büchern Verliebte vorkamen, die Briefe zerrissen. Er hätte keinesfalls lächerlich werden wollen. Und er schickte schnell den Brief ab.
R. kam an seinen Tisch: »Schon lange verliebt? Es ist wahr, daß Sie sich verliebt haben, schämen Sie sich nicht. Es ist eine Energie wie die Gesundheit z. B., aber ebenso wie man die Gesundheit nicht dazu verwenden darf, noch gesünder zu werden, dürfen Sie nicht die Liebe mit ihrer Liebe nähren. Wandeln Sie sie um. Stecken Sie sie in eine Leistung. Sonst ist sie eine Schmockerei.«
Eine Broschüre war ins Italienische zu übersetzen, in einer Woche der 1. Mai. Versammlungen. Da und dort sein. Ein paar Worte sagen. P. bedroht von der Ausweisung. Savelli nach Friedrich gefragt.
»Ja, ja«, sagte Friedrich, »ich werde sofort anfangen.« Er begann zu arbeiten. Er hatte nicht die Liebe in eine Leistung zu stecken, höchstens die produktive Traurigkeit eines Verliebten.
Eines Abends, während er schrieb, kam Hilde ins Kaffeehaus. Er spielte ihr und sich selbst Gleichgültigkeit vor. Sie sollte nicht glauben, daß er ein bürgerlicher Porträtmaler war. Nein, er hatte zu arbeiten an der Erlösung der Welt. Keine geringere Sache. Er spürte einen bösen Triumph darüber, daß sie ihre Jugend, ihre Eleganz, ihre Schönheit in den grauen, kleinen Raum gebracht hatte.
Hilflos saß sie neben ihm, seinen großen Brief in der Hand. Sie hatte sich vorgenommen, über jeden Satz mit ihm zu sprechen. Er bat sie zu warten, er müßte einen Artikel schreiben. Fulminant, dachte er, was ich schreibe; durch die Aussicht angeregt, ihr vorzulesen, wenn sie ihn bitten würde. Sie wartete. Er war fertig. Es fiel ihr nicht ein zu fragen. Sie dachte nur an den Brief. Fast sanft begann sie: »Ich habe den Brief mitgebracht.« Ihre Sanftheit reizte ihn. »Entschuldigen Sie«, sagte er, »diesen Brief habe ich in einem wahnsinnigen Zustand geschrieben. Betrachten Sie ihn nicht mehr als einen Brief, der an Sie gerichtet ist.« Sie hielt noch das Papier in der Hand. Er griff danach und begann, es zu zerreißen. Sie hätte seine Hand festhalten wollen und schämte sich. Ihre Augen füllten sich mit warmen Tränen. Ich weine schon wieder, dachte sie, entrüstet über ihren Rückfall in eine überholte Vergangenheit.
Es war nur ein kleiner Augenblick, er sah nicht auf sie. Er spielte mit Überzeugung einen Harten, Hochmütigen, und seine Hände zerrissen mechanisch den Brief. Jetzt waren es fünfzig Papierchen. Sie lagen wie kleine, weiße Leichen auf der dunklen Marmorplatte. Der Kellner kam, wischte sie mit der Hand in die andere und trug sie weg. Begraben, fiel ihr ein.
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