Er ging wieder zur Fensterscheibe. Und den Rücken zu Friedrich gewendet, sagte er ganz leise: »Also gehn Sie, und kommen Sie zurück. Ich habe schon manchen gehn gesehn.«
Im Nebenzimmer bei der Frau Tarka hörte man plötzlich Stimmen.
»Still«, flüsterte Grünhut, »bleiben Sie ganz still sitzen. Eine neue Kundschaft. Gestern war der Maler hier. Ich wußte schon, daß heute jemand kommen würde. Bleibt nicht lang. Erste Konsultation. Bleiben Sie hier, bis sie fort ist.«
Bald hörte man die Tür. »Schnell, ehe die Madame hereinkommt«, sagte Grünhut. Ein flüchtiges Handschütteln, als hätte Grünhut vergessen, daß es ein Abschied für immer war.
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Zwei Tage später saß er beim alten Parthagener in der Herberge »Zur Kugel am Bein«. Es hatte sich nichts verändert. Kapturak brachte immer noch Deserteure. Man trank Schnaps und aß gesalzene Erbsen. Bei Chajkin versammelten sich die Rebellen. Der Jurist hoffte immer noch, Abgeordneter zu werden.
Kapturak kam am nächsten Morgen. »Sie sind also nicht Bezirkshauptmann geworden. Ja, wir fahren schon. Die Koffer nehme ich mit. Erwarten Sie sie in der Grenzschenke.« Es war Feiertag, die Beamten von der Grenze saßen schon mit den geflüchteten Soldaten, tranken und sangen. Hinter der Theke der Wirt mit offenem Mund und glotzenden Augen.
Friedrich trat hinaus. Die feuchten Sterne glitzerten. Ein Wind zog sacht dahin. Man roch die weite Ebene, aus der er kam.
Ein kleiner, rundlicher Mann mit einem schwarzen Bärtchen stand plötzlich neben Friedrich.
»Schöne Nacht«, sagte er, »nicht wahr?«
»Ja«, sagte Friedrich, »eine schöne Nacht.«
»Ich verhafte Sie, mein lieber Kargan«, sagte der Mann freundlich. Er hatte eine rundliche, weiße, fast weibliche Hand mit kurzen Fingern.
»Pascholl!« kommandierte er.
Zwei Männer, die plötzlich zum Vorschein kamen, nahmen Friedrich in die Mitte.
Er fühlte nur den Wind wie einen Trost aus der unermeßlichen Ferne.
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Es war Abend. Das Wasser plätscherte leise und zärtlich um den Dampfer, der auf der Wolga dahinschwamm. Im Zwischendeck hörte man das harte, regelmäßige Stampfen der Maschinen. Die schaukelnden Laternen wischten Lichter und Schatten über die zweihundert Menschen, die sich hier niedergelassen hatten, jeder auf dem Platz, wo er zufällig stehengeblieben war, als er das Schiff betreten hatte. An den stillen Stationen schwiegen die Maschinen, und man hörte die tiefen Rufe der Schiffer, der Lastträger und den schnalzenden Anschlag des Wassers an Holz.
Die meisten Gefangenen lagen ausgestreckt auf dem Boden. Hundertzwanzig von den zweihundert Passagieren des Zwischendecks waren gefesselt. Sie trugen Ketten an den Gelenken der rechten Hand und des rechten Fußes. Die nicht Gefesselten sahen neben den Geketteten fast wie Freie aus. Manchmal erschien ein Polizist, ein neugieriger Matrose. Die Gefangenen kümmerten sich weder um ihre Wächter noch um ihre Besucher. Obwohl es ganz früh am Abend war und in einer halben Stunde das Essen verteilt werden sollte, schliefen die meisten, müde von den langen Märschen, die sie bis jetzt zurückgelegt hatten. Der Staat führte sie auf dem billigen und langsamen Wasserweg, nachdem er sie lange hatte wandern lassen. Übermorgen sollten sie in Eisenbahnen verfrachtet werden. Sie sammelten einen großen Vorrat an Schlaf.
Manche unter ihnen kannten sich schon aus. Sie machten diesen Weg nicht zum erstenmal. Sie besaßen Erfahrungen, richteten sich praktisch ein und erteilten den Neulingen Ratschläge. Unter ihren Kameraden erfreuten sie sich einer gewissen Autorität. Mit den Gendarmen verband sie eine Art intimer Feindschaft.
Man rief sie zum Essen wie zu einer Hinrichtung. Sie stellten sich hintereinander auf, zwischen ihnen klirrten die Ketten. Es sah aus, als wären sie alle an einer einzigen langen aufgeschnürt. Mit regelmäßigem, plätscherndem Aufschlag fiel ein Löffel in den Kessel, dann vernahm man das leise Gurgeln eines leise zurückfließenden Suppenstrahls, dann fiel eine feuchte Masse auf hartes Blech. Schwere Füße scharrten, eine Kette schlürfte klirrend, und immer wieder löste sich aus der Reihe ein anderer, als wäre er abgefädelt worden. Der niedrige Raum erfüllte sich mit dem Dampf, der aus zweihundert Blechgeschirren und Mündern stieg. Alle aßen. Und obwohl sie selbst die Löffel zu den Lippen führten, sah es aus, als würden sie von fremden Armen gefüttert, die nicht zu ihren Körpern gehörten. Ihre Augen, die weit früher gesättigt waren als ihre Eingeweide, hatten schon den stieren Blick der Sattheit, der auch die Hausväter am Familientisch kennzeichnet, jenen Blick, der schon in die Gefilde des Schlafes vordringt.
»Wenn ich die Menschen während der Fütterung betrachte«, sagte Friedrich zu Berzejew, einem früheren Oberleutnant, »bin ich überzeugt, daß sie nichts mehr nötig haben als eine Kugel am Bein, einen Löffel in der Rechten und ein Blechgeschirr in der Linken. Das Herz ist so nahe dem Darm, Zunge und Zähne grenzen so hart an das Gehirn, die Hände, die Gedanken niederschreiben, können so gut ein Lamm erwürgen und einen Bratspieß drehen, daß ich ratlos vor den Menschen stehe wie vor einem legendären Drachen.«
»Sie sprechen wie ein Dichter«, erwiderte Berzejew, lächelte und zeigte zwischen dem schwarzen Bart zwei Reihen leuchtender Zähne, die wie ein Beweis für Friedrichs Behauptung aussahen. »Ich kann solche Worte nicht finden. Aber ich habe auch gesehn, daß der Mensch rätselhaft ist, und vor allem: daß man ihm nicht helfen kann.«
Beide erschraken sie. Waren sie nicht hier, weil sie ihnen helfen wollten? Sie wandten sich voneinander ab.
»Gute Nacht«, sagte Berzejew.
Draußen wurde die Wache abgelöst.
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Nach vier Tagen wurden sie ausgeschifft, in eine große Halle geführt und einwaggoniert. Sie waren erfrischt, als sie wieder das Land betraten, und ihre Ketten hatten einen hurtigeren Klang. Noch unter den rollenden Rädern der Eisenbahn fühlten sie die Erde. Durch die vergitterten Fenster des Zuges sahen sie Gras und Felder, Kühe und Hirten, Birken und Bauern, Kirchen und blauen Rauch über Schornsteinen, die ganze Welt, von der sie getrennt waren. Dennoch war es ein Trost, daß sie nicht untergegangen war, daß sie sich nicht einmal verändert hatte. Solange die Häuser standen und das Vieh weidete, erwartete die Welt die Wiederkehr der Gefangenen. Die Freiheit war nicht wie ein Eigentum, das jeder einzelne verloren hatte. Sie war ein Element wie die Luft.
Gerüchte wirbelten durch die Waggons. In der Erinnerung an die Botschaften, die man in den letzten Gefängnissen gehört und ausgetauscht hatte, nannte man sie »Latrinenneuigkeiten«. Die einen sagten, der ganze Transport würde geradewegs nach Wjerchojansk kommen, was von den Kennern als Irrsinn bezeichnet wurde. Adrassjonow, der Unteroffizier, hatte einem der »Alten«, den er schon zum zweitenmal transportierte, gesagt, daß sie nach Tjumen kommen würden, in eines der größten Gefängnisse, in den Tjuremnij Zamok, das Zentralgefängnis für Verbannte. Die Erfahrenen, die schon dort gewesen waren, begannen, die Schrecknisse dieses Kerkers zu schildern. Zuerst schauderten sie bei ihren eigenen Worten und machten die Zuhörer schaudern. Aber allmählich, während sie erzählten, wurde die Begeisterung, die sie nur aus dem Erzählen bezogen, stärker als der Inhalt ihrer Rede und die Neugier der Zuhörer größer als der Schrecken. Sie saßen da wie Kinder, die Märchen von gläsernen Palästen hören. Panfilow und Sjemienuta, zwei alte, weißbärtige Ukrainer, schilderten die Einzelzellen sogar mit einer Art Wehmut, und vergeßlich, wie das menschliche Herz ist, und weil der Weg noch allen unendlich vorkam und das Ziel trotz der Versicherungen der Erfahrenen noch ungewiß blieb, glaubten alle für ein paar kurze Stunden nicht, sie selbst führen dem Elend der Gefängnisse entgegen, sondern ganz andre, Fremde.
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