Friedrich und Berzejew nahmen sich vor, möglichst nahe beieinander zu bleiben. Berzejew hatte Geld. Er wußte, wie man bestach, Listen und Namen austauschte, und während die anderen »Politischen« über die Bauern, die Anarchie, Bakunin, Marx und die Juden diskutierten, berechnete er, wem er eine Zigarette und wem er einen Rubel geben sollte.
Obwohl sie langsam fuhren, stundenlang auf Güterbahnhöfen standen, schien ihnen doch die Eisenbahnfahrt kürzer, als sie gedacht hatten. Noch einmal rasselten die Ketten, noch einmal verlas man die Namen. Sie standen auf dem letzten Bahnhof und nahmen Abschied von den reizvollen Einrichtungen der Eisenbahn, von ihren technischen Spielzeugen, von grünen Signalen und roten Fähnchen, von den schrillen Glöckchen aus Glas und den harten Glocken aus Eisen, vom unermüdlichen Ticken des Telegraphen und vom sehnsüchtig geschwungenen Glanz der Schienen, vom keuchenden Atem der Lokomotive und dem heiseren Schrei, den sie zum Himmel schickte, vom Ruf der Schaffner und vom Winken der Stationsbeamten, vom Brunnen und von einem Gartenzaun, vom kargen Büfett dieser verlorenen Station und von dem Mädchen, das hinter den Flaschen stand und einen Samowar bediente. Besonders von diesem Mädchen. Friedrich betrachtete sie, als wäre sie die letzte europäische Frau, die er sich ansehn durfte und sich gut merken müsse. Er erinnerte sich an Hilde wie an ein Mädchen, mit dem er vor zwanzig Jahren gesprochen hatte. Manchmal konnte er sich nicht mehr ihr Gesicht vorstellen. Es schien ihm, daß sie in der Zwischenzeit alt und grau geworden war, eine Großmutter.
Sie stiegen in Wagen, machten alle fünfundzwanzig Kilometer halt, wechselten die Pferde. Nur der Kutscher blieb auf dem ganzen Weg der gleiche. Ein großer Teil des Transports war zurückgeblieben und sollte tatsächlich in eines der großen Sammelgefängnisse eingeliefert werden. Sie bestanden nur noch aus einigen Gruppen. Friedrich und Berzejew, Freyburg und Lion saßen in einem Wagen. Ohne daß es alle sahen, drückte Friedrich Berzejews Hand. Sie schlossen ein verschwiegenes Bündnis.
Wenn einer von den Gefangenen die Mütze abnahm, sah man die linke kahl rasierte Hälfte seines Schädels, und sein Angesicht bekam den närrischen Ausdruck eines Irrenhäuslers. Einer erschrak vor dem andern, aber jeder verhüllte sein Entsetzen unter einem Lächeln. Nur Berzejew war es gelungen, den Friseur zu bestechen. Er hatte den ganzen Schädel kahl rasiert.
Die Gefangenen sangen ein Lied nach dem andern. Die Soldaten und die Kutscher sangen mit. Manchmal sang ein einzelner, dann war es, als sänge er mit der Kraft aller. Seine Stimme verrauschte im vielstimmigen Refrain, der wie ein Rückkehr aus dem Himmel zur Erde war. Am schönsten sang Komow, ein Weber aus Moskau, bei dem man eine Geheimdruckerei entdeckt hatte. Er fuhr in die Gefangenschaft für fünfzehn Jahre.
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Eines Morgens begannen sie die Wanderung. Quer in eine wüste Fläche Landes gestellt war der Zug von Menschen mit Bündeln, Ketten, Stecken in den Händen.
Von den fünfzig Männern, die in Gruppen zu acht, sechs und zehn, von spitzen Bajonetten auf langen Gewehren bewacht, dahinschritten, verrieten nur die ältesten Müdigkeit. Der Vorschrift gemäß durfte jeder nur fünfzig Pud Gepäck mitnehmen. Einige, die sich noch auf dem letzten Bahnhof geweigert hatten, ihre Bagage zu verringern, warfen jetzt mit den überflüssigen Dingen auch die nützlichen fort. Die Soldaten sammelten alles ein, sie ließen es in den Jurten zurück, an denen sie vorbeikamen und die sie auf dem Rückweg wieder besuchten. Nur Berzejew warf nichts weg. Sein umfangreiches Gepäck trugen die Soldaten. Er konnte ihnen ein gutes Wort sagen, eine Zigarette in den Mund stecken und zuschnalzen wie Pferden.
Wenn sie schon lange schweigsam dahinmarschiert waren, befahl Berzejew: »Singen!« Sie sangen. Aber sie stockten schon nach der ersten Strophe. Den Refrain mußte jetzt erst eine zaghafte Stimme nach einer zagen Pause anfangen, es dauerte lange, bis die anderen einfielen. Die Melodie belebte nicht mehr die schweren Füßen. Sie kamen der Verbannung immer näher. Die Verbannung selbst kam ihnen entgegen. Weit hinter sich hatten sie die Eisenbahn zurückgelassen, Pferde, Wagen und Menschen. Der Himmel wölbte sich über die flache Erde wie eine runde Decke aus grauem Blei, festgelötet an den Rändern. Unter dem Himmel eingeschlossen waren sie. Im Kerker wußte man wenigstens, daß sich ein Himmel noch über den Mauern wölbte. Hier aber war die Freiheit selbst ein Gefängnis. An dem Himmel aus Blei gab es keine Gitter, die einen andern, einen Himmel aus blauer Luft ahnen lassen konnten. Die Größe des Raumes schloß noch mehr ein als eine Zelle.
Allmählich zerfielen sie in immer kleinere Gruppen. Tränen in den Augen und in den Bärten, nahmen sie voneinander Abschied. Friedrich, Berzejew und Lion blieben zusammen. Am ersten Tag sprachen sie noch von dem und jenem, mit dem sie gemeinsam gesungen hatten. Sobald sie zu dritt eines der Lieder anstimmten, das noch vor einigen Tagen allen Kehlen entströmt war, erinnerten sie sich an die andern, deren Stimmen sie nie mehr hörten sollten. Die Lieder waren eine Art klingender Bündnisse und Freundschaften gewesen. Sie hatten Fremde zueinandergebracht mit der Kraft gemeinsam vergossenen Bluts und gemeinsam erlittener Schmerzen. Dann vergaß man allmählich die Verschwundenen. Und nur manchmal erwachte in der Erinnerung ein Gesicht, das keinen Namen mehr trug, eine Träne in einem schwarzen Bart, der zu keinem Gesicht mehr gehörte, und ein Wort erklang, dessen Sprecher nicht mehr zu erkennen war.
Sie wurden weit und regellos herumgeführt, sie sahen die menschenleeren Ufer des Obi. Die zwei kleinen Siedlungen Hurgut und Narym erschienen ihnen wie große und belebte Städte. Sie übernachteten in Narym. Sie lernten, die Wanzen mit den Fäusten absammeln und in großen Kübeln ertränken; auch die schmalen, weißen Reihen Läuse von den Wänden in Papiertüten locken und verbrennen. Sie begannen, die einsam verstreuten Gefängnisse, in denen sie rasten durften, wie gastliche Heime zu schätzen. Sie sahen ferne Waldbrände, kauften durch Tausch bei chinesischen Händlern aus Tschifu sibirische Hafenhandschuhe und Stiefel aus Rentierfellen. Sie hörten die Legende der Jakuten vom Fluß Indigirka und vom Flüßchen Dogdo, das Gold auf dem Grunde führt.
Der Winter kam. Sie gewöhnten sich an 67 Celsiusgrade unter Null und an die matten Fensterscheiben aus Eis in den Jurten. Und sie erwarteten die vierzig sonnenlosen Tage in der Stadt Wjerchojansk, der Stadt mit den dreiundzwanzig Häusern.
Nach dem Gesetz sollte ihr Bestimmungsort zehn Werst von einer Stadt, zehn Werst von einem Fluß und zehn Werst von einer Landstraße entfernt sein. Es gelang ihnen dennoch, an einen Fluß zu kommen, an den Fluß Kolyma. Er ist größer als der Rhein, nur drei Städte sind an ihm gelegen. Die eine hatte neun Einwohner, die andere hundert Einwohner in dreißig Militärbaracken. Friedrich, Berzejew und Lion entschlossen sich für die dritte Stadt, Sredni Kolymsk. Dort gab es weit auseinanderliegende Hütten und nur drei Häuser mit gläsernen Fenstern. Aber es war in einem Umkreis von vielen Meilen der einzige Ort mit einer Kirche, einem Turm und Glocken; Glocken, die man in der zivilisierten Welt gegossen hatte und deren Klang war wie eine Muttersprache.
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Nicht immer verdienten die sibirischen Beamten des Zaren den schlechten Ruf, den sie bei der Bevölkerung, unter den Verurteilten und selbst bei ihren vorgesetzten Behörden genossen. Manche, die sich nicht ohne Grund selbst als Verbannte betrachteten, waren entschlossen, das Los der Gefangenen eher zu teilen als zu verschärfen. Viele fingen an, ihr Schicksal an den Verurteilten zu rächen, aber sie wurden nach einigen Jahren mürbe, denn sie sahen, daß ihre Strenge ihnen nichts einbrachte. Der Ehrgeiz, die Eitelkeit und die Furcht erloschen, weil die maßgebenden Vorgesetzten so weit entfernt waren. Andere wieder ließen sich bestechen und lebten mit einem schlechten Gewissen weiter. Einem schlechten Gewissen, das Gewalthaber ebenso nachsichtig machen kann wie Brutale.
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