Eine schrille Glocke fiel durch das Haus wie ein fröhlicher Schrecken. Die Bewegungen der Menschen wurden hastiger, das Gewirr lauter. Die Türen flogen auf, und drei Minuten später war das Vestibül leer. Der Polizist setzte sich auf einen leeren Sessel in der Ecke. Das Fenster an der Kasse klappte eine unsichtbare Hand von innen zu. Die silbernen Bogenlampen vor den Eingängen erloschen. Im Vestibül ging eine Vorstellung zu Ende, eine andere begann eben auf der Bühne. Die Kutscher traten ein, es kamen kleine Männer von der Straße, die aussahen wie Briefträger in Zivil. Sie versammelten sich um den Portier und verhandelten mit ihm. Es waren Unteragenten und fliegende Billettverkäufer. Der Polizist wandte sich ab, um sie nicht sehen zu müssen. In diesem Vestibül duftete nicht mehr das Parfüm der Frauen. Die armen Menschen verbreiteten den Geruch von Gulasch, alten Kleidern und Regen. Es war, als ob die Armen, die sich jetzt im Vestibül versammelten, nach der Art der Puppen in den Wetterhäuschen auf dem entgegengesetzten Ende der gleichen Stege standen, an denen auch die Reichen festgenagelt waren, und als brächten bestimmte Gesetze bald die Glücklichen und bald wieder die Elenden vor den Theatern der Welt zum Vorschein.
Friedrich verließ das Theater. Es war zeitig, er sollte noch seine Freunde im Café aufsuchen. Aber gerade sie hätte er heute nicht sehen können. Er schämte sich vor ihnen. Sie müssen mir ansehen, sagte er sich, daß ich verliebt bin. R. wird mich sofort als einen »Romantiker« entlarven, eine Bezeichnung, die in seinem Munde einen Klang hat wie das Wort »Vatermord«. Nein, er konnte die Genossen nicht sehen. Savelli z. B. verliebte sich nicht, der Genosse T. liebte nur die Revolution. Der Ukrainer hatte seine ganze kolossale Körperlichkeit der Idee unterworfen, wie man ein Volk einem Herrn unterwirft. Und was R. betrifft, so leugnete er selbstverständlich die Möglichkeiten einer Liebe. Nur er, Friedrich, hat Platz für alles in seiner Brust, für Entsagung und Ehrgeiz, Revolution und Verliebtheit.
Es blieb ihm nichts übrig, als die schlecht beleuchtete Treppe zu Grünhut hinaufzusteigen, denn er konnte auch nicht allein bleiben. Er roch den Gestank der Katzen, die in unerklärlicher Panik vor ihm auseinanderstoben, hörte die Stimmen durch die Türen, die dicht nebeneinander in den Korridoren standen, mit Nummern versehen wie in einem Hotel. Die Tür der Hebamme trug die Aufschrift: Stark klopfen, Glocke läutet nicht. Er hörte den leichten Schritt Grünhuts.
»Lange nicht gesehn«, sagte Grünhut. Und gleich darauf: »Pst, es sind Kunden drin.«
Er schrieb seine Adressen. Er konnte es jetzt bequem bis zu vierhundert im Tag bringen. Ob Friedrich noch schreibe?
Nein, er arbeite jetzt, hätte noch Geld für zwei Monate und gedenke, bald etwas anderes zu finden.
Nun begannen Grünhuts alte Klagen gegen die Welt. Schließlich kam noch einmal wie immer die Frage: »Was halten Sie von einem anonymen Brief an den Mann, von dem ich Ihnen erzählt habe?«
Er wollte nicht nur Friedrichs Rat, er gedachte, einen originellen Brief zu schreiben, zu zweit, jedes Wort von einer anderen Hand. Die beeidigten Sachverständigen kannte er schon. Vor jeder komplizierten Sache blieben sie ratlos. Ein zweiter mußte dabeisein, und nicht nur der Schrift wegen. Man mußte eventuell auch ein Rendezvous ausmachen. Immerhin, zwei verwickelten nach Grünhuts Ansicht die Anonymität so sehr, daß kein Mensch sich mehr auskennte.
Friedrichs Widerspruch beleidigte ihn. Sein unerschütterlicher Glaube an die verbrecherische Natur des jungen Mannes wandelte sich in einen verletzten Respekt vor dem Jungen, der nach Grünhuts Meinung wahrscheinlich weit wichtigere und ertragreichere Verbrechen plante.
Verschiedene Geräusche kamen aus dem Zimmer der Hebamme. Wasser, gemurmelte Worte einer tiefen Frauenstimme, ein Sesselrücken, ein metallener Gegenstand neben Glas und Holz.
»Hören Sie?« sagte der Kleine. »Am Abend im Frühling, im Hotel und im Chambre séparée hören Sie ganz andere Dinge. Da singen die Nachtigallen, da geigt ein Zigeuner, da knallt ein Champagnerpropfen. Wo sind sie jetzt, die Nachtigallen? Frau Tarka hat mir angedeutet, wer da drinnen ist. Die Frau eines Professors, Folgen einer Liaison mit einem Bildhauer. Übrigens ein guter Bekannter von mir. Hat mir einige Geschäfte vermittelt. Ein äußerst produktiver Mann, hält sich für dämonisch wie jedes Schwein. Die meisten Geschäfte hat Frau Tarka den Bildhauern zu verdanken und den Malern.
Man läßt sich soviel porträtieren heutzutage. Man lebt sich aus in den Ateliers. Denken Sie, eine Frau kann einem Atelier widerstehn? Dieser schönen Unordnung unter dem blauen Himmel hoch oben im letzten Stock, wo nur Gott durch das gläserne Dach hineinschaut. Man liegt da und sieht hinauf. Man sieht die weißen Wölkchen wandern, einen Zug von Vögeln dahinstreichen, sehnt sich und sehnt sich wieder. In der Ecke die Leinwand. Ein Zeugnis, daß auch eine andere hier nackt war. Und der Maler redet etwas. Alles, was er weiß, hat er aus pornographischen Werken und aus Sittengeschichten. Sein Auge begeilt sich am Umriß und klebt an der Fläche. ›Welch eine Linie‹, sagt er, ›gnädige Frau, verbindet Ihren Hals mit dem Ansatz der Brust!‹ Das ist, verstehen Sie mich, wenn’s ein Oberleutnant sagt, eine Frechheit, und der Herr Gemahl schießt sich mit ihm im Wald beim Morgengrauen. Wenn’s ein Maler sagt, ist das ein künstlerisches Urteil. Die sogenannten Kenner machen keine Komplimente, sondern sagen sachliche Meinungen. Sie erstrecken sich auf den ganzen Körper. ›Welch ein reizender Schenkel!‹ sagt er sachlich, die Palette noch in der Hand. Manche sprechen von der Renaissance. Der Bildhauer z.B., der von Zeit zu Zeit zu Madame hierherkommt, mit dem unterhalte ich mich manchmal. D.h., er unterhält sich. Lauter falsches Zeug aus der Sittengeschichte. Einmal gibt er mir einen Auftrag. Pornographische Stiche, weil ich zufällig einen Buchhändler kenne, geh ich hin und besorg’s. Die Vermittlung ist er mir schuldig geblieben, das Geld dem Buchhändler auch. Der geht hin, macht einen Lärm. ›Kommen Sie morgen‹, sagt der Meister. Am nächsten Tag gibt er ihm lächelnd das Buch zurück. Mir erzählt er dann paar Wochen später, er hätte die Bilder nur für diesen einen Nachmittag gebraucht, eines Mädchens wegen aus guter Familie. Und ich habe nur eine Bluse aufgemacht. Ich bin eben kein Künstler. Unverkennbar der Fortschritt der Zeit. Die Frage der Kunst hätten wir schon. Die Emanzipation der Frauen ebenfalls. Merken Sie, wie beides zusammentrifft? Es lockern sich die sogenannten Familienbande. Die Töchter der Hofräte lassen sich porträtieren und studieren Germanistik. In Bibliotheken tut sich was. Und ich – vor vielen Jahren allerdings – heute bekommt man dafür schon Auszeichnung. Mein Staatsanwalt lebt noch. So eine Anklage wird er nie mehr erleben. Mein Verteidiger war damals schon ein Anhänger der Theorie von der Dämonie. Er sagte einen Blödsinn von unwiderstehlichem Zwang, Vererbung und so. Der Wahrheit die Ehre. Mein Vater war ein harmloser Mann, hatte eine Wechselstube und schwere Sorgen und nicht die geringste Beziehung zur Sittlichkeit.«
Im Nebenzimmer wurde es still, eine Tür ging, ein Schlüssel knarrte. Grünhut hielt Friedrich noch ein paar Minuten zurück.
»Bis sie unten sind«, sagte er. »Ich liebe keine Indiskretionen.«
Inhaltsverzeichnis
Da er seinem Versprechen gemäß, das er seiner sterbenden Frau gegeben hatte, nicht heiraten durfte, ohne Frau nicht leben konnte, sein Kind aber mit den Gepflogenheiten eines rüstigen Witwers nicht vertraut machen wollte, entschloß sich Herr Ludwig von Maerker, damals noch Bezirkshauptmann in einem Ministerium, seine Tochter in ein Kinderheim und später in ein Mädchenpensionat zu schicken, wo sie mit sozial gleichgestellten Waisenkindern standesgemäß erzogen werden sollte. Nachdem er also Hilde untergebracht hatte, nahm er eine Hausdame auf, mit der er nur in den Zirkus und in Varietés ging. Die Theater blieben ihr verschlossen. Sie nannte es ein Unrecht und leitete daraus das Recht ab, Herrn von Maerker das Leben zu verbittern und größere Machtansprüche im Hause zu stellen. Sie überwachte jeden Schritt und jede seiner Ausgaben. Und wenn er sich über die Freiheitsbeschränkung beklagte, antwortete sie mit jener bitteren Bissigkeit, die ebensogut eine Ohnmacht wie einen Totschlag ankündigen konnte: »Ich soll nicht dieses kleine Recht haben? Ich, eine Frau, die man nicht einmal ins Theater mitnimmt?« Einmal im Jahr entrann Herr von Maerker seiner Haushälterin. Er fuhr in die Schweiz seine Tochter besuchen. Sie wuchs ihm über den Kopf, bald war sie ein Backfisch. Er fand sie schön und bedauerte in seinen geheimsten Sekunden, daß er ihr Vater war und nicht ihr Verführer. Längst war sie von ihrer eigenen Phantasie verführt. Obwohl Herr von Maerker allerhand französische Literatur über Nonnenklöster und Mädchenpensionate gelesen hatte, glaubte er wie die meisten Männer an die Verderbtheit aller Frauen mit Ausnahme ihrer eigenen und ihrer nächsten. Die Haltlosigkeit beginnt erst bei den Cousinen.
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