Als sie satt war, rannte sie aus dem Zimmer, um mit ihren Puppen zu spielen, und Derek machte sich eine Schale Müsli zurecht, um Energie zu tanken. Er blieb im Türrahmen zwischen der Küche und dem Wohnzimmer stehen und schaute aus dem Fenster. Der Morgen war grau, die Straße immer noch nass vom Regen, aber es schien aufzuklaren. Was bedeutete, dass der Tag schwül und nicht sehr angenehm werden würde, da der Frühling schneller zum Sommer wurde, als ihm lieb war, aber es bedeutete ebenfalls, dass sein Semester beinahe zu Ende war, und darüber war er wiederum nicht traurig.
Es fühlte sich komisch an, in seinem Alter mit lauter Achtzehn- und Neunzehnjährigen in einem Klassenzimmer zu sitzen, auch wenn ihm eigentlich klar war, dass daran nichts verkehrt war. Sein Bruder und er hatten einen schwierigen Start gehabt und er hatte eben länger als Sage gebraucht, bis er große Menschenmengen ertragen konnte und es schaffte, die Schule, seine Kunst und seine Kunden unter einen Hut zu bringen.
Dennoch war es schwer und er genoss die Freiheit, die er im Sommer hatte, in vollen Zügen, aber er hatte das Gefühl, dass er allmählich Fortschritte machte. Selbst Situationen wie am Vorabend, durch die er sich vor einem Jahr noch um zehn Schritte zurückgeworfen gefühlt hätte, belasteten ihn nicht mehr auf die gleiche Weise. Das hatte bestimmt mit Leila zu tun, seiner Therapeutin, die ihm Bewältigungsmechanismen beigebracht hatte, die auch tatsächlich funktionierten. Aber es war auch ein Zeichen seiner eigenen Stärke und seines Wunsches, sein Leben in den Griff zu bekommen.
Er würde immer unter einem Trauma leiden, aber er würde nicht zulassen, dass es sein Leben bestimmte.
»DeDe?«, fragte Maisy und riss Derek aus seinen Gedanken, indem sie an seinem T-Shirt zupfte.
Er lächelte sie an. »Ja, Kleines?«
»Können wir draußen pielen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Wollen wir zu dem Teich die Straße runtergehen und die Enten füttern?«
Sie sprang vor Begeisterung auf und ab, dann stolperte sie über ihre eigenen Füße, als sie hastig versuchte, ihre Schuhe anzuziehen. »Ja! Ja, ich will… da will ich hin!«
Nach einer Stunde konnte Derek Maisy überzeugen, sich von den Enten zu verabschieden, und das auch nur, weil er ihr versprach, dass Jasmine da sein würde, wenn sie zum Studio kamen. Er parkte hinter dem Gebäude und trug sie durch den Hintereingang hinein. Sie fanden Katherine in ihrem Raum vor, wo sie sich anscheinend auf ihren nächsten Kunden vorbereitete.
Sie packte das Tablett mit ihren Utensilien gerade mit Folie ein und schaute mit einem Grinsen auf. »Hey, Kleine! Willst du mich besuchen?«
»Ja«, sagte Maisy und wand sich aus Dereks Armen. Doch er hielt sie fest, damit sie in dem sauberen Zimmer nichts verunreinigte, aber Katherine zog schnell ihre Handschuhe aus und kam heraus, um das kleine Mädchen in die Arme zu nehmen und ihr einen Kuss auf die Wangen zu geben.
»Gehen du und DeDe mit Jazz und Onkel Sage zum Mittagessen?«
»Ich will Chicken Nuggets«, verkündete Maisy, wie erwartet.
Derek verdrehte lächelnd die Augen, dann nahm er das Mädchen wieder zurück. »Und vielleicht etwas Grünes«, fügte er hinzu. »Ist mein Bruder hier?«
Kat nickte und wies mit dem Kinn zu der Schwingtür, die in den offenen Raum führte. »Er packt gerade Jasmines Tasche. Tony ist heute beim Arzt, also ist Sage wortwörtlich mein Lebensretter.«
Da runzelte Derek die Stirn. »Geht es ihm gut?«
»Ja«, sagte sie und schniefte. »Er hat einen eingewachsenen Zehennagel, aber er wollte nicht auf mich hören, als es vor zwei Wochen angefangen hat, sich zu entzünden. Deshalb muss er nun die Schmerzen ertragen, wenn der Nagel entfernt wird, weil er es anscheinend besser wusste als seine Frau.«
Derek wich zurück. »Da halte ich mich raus.«
Kat lachte. »Weise Entscheidung. Ich habe mir deinen Terminplan angesehen. Ich könnte dir die Mädchen um zwei Uhr abnehmen. Du hast um drei jemanden, richtig?«
Derek nickte. »Ja, es ist nur eine Beratung. Danach Konturen bei einem meiner Stammkunden. Das wird um die zwei Stunden dauern. Danach um halb sechs einen Termin für Schattierungen, was den Rest des Nachmittags in Anspruch nehmen wird. Wieso? Brauchst du mich?«
»Nee«, meinte sie und winkte ab. »Tony wird wahrscheinlich weiterarbeiten wollen, wenn er zurück ist. Du weißt doch, wie er ist, wenn seine Planung durcheinandergerät.«
»Daran ist er selbst schuld«, sagte Derek pflichtschuldig.
Kat zwinkerte ihm zu und winkte ab, dann ging er durch die Türen, während er immer noch Maisys Hand hielt. Ein Schopf aus lavendelfarbenem Haar neben kurzen, spitzen schwarzen Locken sagte ihm, dass Emily und ihr Mann Marcus gemeinsam an ihren Skizzen arbeiteten, und er entdeckte Mat, der sich über seinen Zeichentisch neben seinen bereits verpackten Materialien beugte.
»Hey, Mann«, sagte Derek zu Mat und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
Mat schaute lächelnd auf und kitzelte Maisy unter dem Kinn. »Hey, Kleine. Hast du mich vermisst?«
»Nein«, sagte sie freiheraus.
Mats Augen weiteten sich schockiert und er sah aus wie ein getretener Hund, was Derek einfach zu niedlich fand. Mat und er standen sich wahrscheinlich am nächsten, denn sie hatten gemeinsam mit der Ausbildung angefangen und hatten einen ähnlichen Stil. Manche ihrer Kunden kamen nur zu ihnen beiden. Mat gehörte nicht zu der Art Mensch, an die Derek gewöhnt war ‒ er war ruhig und ging Konflikten aus dem Weg. Doch allmählich war Derek mit ihm warm geworden und abgesehen von Sam war er der Mensch, dem Derek die meisten seiner Probleme anvertraute.
Dabei half es, dass Mat selbst Probleme hatte. Vor Jahren war er in einen Autounfall mit einem betrunkenen Fahrer verwickelt gewesen und hatte sechs Monate im Koma gelegen. Nachdem er wieder aufgewacht war, hatte er praktisch alles neu erlernen müssen, wenn auch nicht durchweg erfolgreich. Während seines Krankenhausaufenthaltes war er wieder auf die Füße gekommen und hatte wieder gelernt zu sprechen, aber geschriebene Wörter und Zahlen konnte er immer noch nicht verstehen ‒ er meinte, dass das alles wie das Alphabet von Außerirdischen aussehen würde, und keine Therapie hatte es geschafft, das rückgängig zu machen. Aber er konnte zeichnen. Das war ein wichtiger Teil seiner Therapie in der Reha-klinik gewesen.
Zum Zeitpunkt des Unfalls war er verheiratet gewesen, aber der Stress war seiner Frau zu viel geworden und sie hatte ihn verlassen, als er gerade aus der Klinik entlassen worden war. Nach der Scheidung war er nach Fairfield gezogen ‒ er konnte große Städte nicht ertragen, aber er brauchte auch die Möglichkeit, in der Menge verschwinden zu können. So hatte er Tony und Kat kennengelernt und so nahm alles seinen Gang. Der Laden von Tony und Kat war perfekt für einen tätowierten Künstler, dessen Gehirn ihm nicht erlaubte, seine eigene Buchhaltung zu machen oder sich um seine Terminplanung zu kümmern. Er passte zu Irons and Works, als wäre er schon von Anfang an dabei. Sein Privatleben behielt Mat größtenteils für sich und niemand drängte ihn, nach vorn zu blicken, obwohl Derek nicht umhinkonnte, sich zu fragen, ob sein Freund allmählich unter der Last der Einsamkeit zusammenbrach. Doch es stand ihm nicht zu, sich dazu zu äußern, deshalb behielt er seine Sorgen für sich.
»Sie ist schlecht gelaunt«, erklärte er und schob Maisy in Richtung der Schwingtür, die zur Lobby führte. »Na los, geh zu Sage«, sagte er zu ihr. »Er wartet mit Jazzy auf dich.«
Maisy erstrahlte und rannte in die Lobby, wo Dereks Bruder das kleine Mädchen freudig begrüßte. Als er sicher war, dass sie in guten Händen war, drehte er sich wieder zu Mat und lächelte.
»Nimm das nicht persönlich, Mann.«
Читать дальше