Die Tabellen werden zunächst per Hand gesteckt, dann abgefilmt, und die Moderatoren – darunter Dieter Adler, Ernst Huberty, Hans-Joachim Rauschenbach und Werner Zimmer – sitzen ziemlich steif hinter einem Schreibtisch. Nüchternheit ist Reporterpflicht, emotionale Ausbrüche auch bei Direktübertragungen verpönt. Immerhin gibt’s 1971 bereits Farbe in der Sportschau. Für die Senderechte kassieren die Bundesligisten gemeinsam rund drei Millionen Mark von ARD und ZDF. Die Summe wird brüderlich durch 18 geteilt, der Tabellenplatz spielt keine Rolle , an die Bayern wird kein Pfennig mehr ausgeschüttet als an Rot-Weiß Oberhausen.
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Fortuna Düsseldorf steht mit einem Bein noch in der guten alten Fußballzeit. Der Traditionsverein hat eine lange Durststrecke in der Zweitklassigkeit hinter sich, mit einigen vergeblichen Aufstiegsversuchen. Zur Saison 1970/71 schließlich fahndet man per Zeitungsanzeige nach einem Retter: „Renommierter Regionalligaverein sucht fähigen Trainer“. Unter den Bewerbern entscheidet man sich für Heinz Lucas, auch wenn der gerade dabei ist, mit Darmstadt 98 aus der Regionalliga Süd abzusteigen. Doch der Neue bewährt sich, bringt der Mannschaft bei, zielstrebiger und schneller zu spielen. In der Aufstiegsrunde überwindet man unter anderem den 1. FC Nürnberg und den FC St. Pauli und schafft (gemeinsam mit dem VfL Bochum) den Eintritt in die Bundesliga.
Dort hält man sich mit finanziellen Abenteuern zurück: Die Spieler, darunter die späteren Nationalkicker Dieter Herzog und Reiner Geye, bleiben weiterhin Halbprofis, gehen also nach dem Training noch einer „regulären“ Beschäftigung nach. Und als Fußballer verdienen sie alle das gleiche Gehalt – Fortuna zahlt einen Einheitslohn. Und zwar denselben wie in der Regionalligasaison zuvor. „Fußball ist ein Mannschaftsspiel“, begründet Trainer Lucas die in der Bundesliga einmalige Maßnahme. „Da ist ein Mann so wichtig wie der andere.“ Auch das Verhältnis zwischen Trainer und Spieler definiert der 51-Jährige erstaunlich: „Die Kriegsgeneration war es gewohnt, dass der Trainer sich des Kasernenhoftons bediente. Heute sind die Spieler anders zu behandeln.“
Schlecht fährt man damit nicht: Zwar geht der Auftakt bei den Bayern 1:3 verloren, eine erwartete Niederlage – schmerzhaft nur für Verteidiger Heiner Baltes, der von seinem Gegenspieler Gerd Müller nach hartem Zweikampf in den Oberschenkel gebissen wird. Doch am zweiten Spieltag gewinnt Fortuna vor 25.000 Zuschauern am Flinger Broich mit 2:0 gegen Hannover 96 und zeigt ein Potenzial für höhere Ziele. (In dieser Saison belegt der Aufsteiger am Ende Tabellenplatz 13 und in den folgenden beiden Spielzeiten jeweils Platz drei.)
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Unter den Rasen der Bundesligastadien ticken Zeitbomben, und nicht wenige Spieler wissen, dass die Schockwellen von Canellas’ Gartenparty auch sie erreichen können.
Inzwischen hat der Kickers-Präsident vor dem DFB-Kontrollausschuss ausgesagt, wie es so zuging bei den Deals. Vor allem die Übergabe von 100.000 Mark an Manfred Manglitz war problematisch, weil der Kölner Keeper das Geld schon vor dem Spiel – und der versprochenen Niederlage – gegen Offenbach haben wollte. Für eine neutrale Zwischenlagerung verfiel man auf die kuriose Idee, einen Tresor mit zwei Schlössern zu suchen. Als man keinen fand, diente Manglitz’ Lebensgefährtin als neutrale Zone.
Über was Canellas noch so plaudert: Oberhausens Präsident Maaßen sei unmittelbar vor einem Spiel zu ihm gekommen und habe im beiderseitigen Interesse eine Punkteteilung angeboten. Oder: Herthas Präsident Holst habe 100.000 Mark ausgelobt, falls Canellas die Transferliste so „arrangiere“, dass die Kremers-Zwillinge auf jeden Fall nach Berlin kämen. Und: Ein Abgesandter von Schalke 04, Schatzmeister Heinz Aldenhoven, habe für die Zwillinge 100.000 Mark geboten, plus einen Offenbacher Sieg im bevorstehenden Spiel gegen Schalke. Laut Canellas habe Aldenhoven zugesichert, „dass wenigstens einige Spieler von Schalke so spielen würden, dass wir gewännen“. Von diesem Angebot, so Canellas, habe er umgehend dem DFB berichtet.
Justiz und DFB sehen sich genötigt, nun regelrechte Ermittlungen aufzunehmen; bei den Fußballern liegt die Angelegenheit beim Vorsitzenden des Kontrollausschusses, Hans Kindermann. Allerdings müht sich der DFB, die Sache klein zu halten, und lässt verlauten: „Es gibt keine Affäre Bundesliga, es gibt nur eine Affäre in der Bundesliga.“ Rudolf Gramlich, Vorsitzender des DFB-Bundesligaausschusses, verspricht: „Das mit dem Canellas biege ich schon gerade. In ein paar Wochen spricht kein Mensch mehr über den Fall.“ Gramlich war im Mai von Canellas gebeten worden, den letzten Spieltag der Saison auszusetzen, weil einige Spiele vorab verschoben seien. Der DFB-Mann hatte abgelehnt.
Die beschuldigten Sünder wiederum geben sich phantasievoll. Manglitz behauptet, er sei nur zum Schein auf die unlauteren Angebote eingegangen, und kündigt Beweise an, „die den Canellas-Vorwurf wie eine Seifenblase platzen lassen werden“. Und: „Der kann was erleben.“ Die Herthaner Patzke und Wild haben sich die Erklärung ausgedacht, sie hätten Canellas nur veräppeln wollen. Oberhausens Präsident Peter Maaßen spricht von „ausgemachten Gemeinheiten“ und kündigt eine Klage an: „wegen Rufmord“. Und der Schalker Vorstand will ebenfalls gegen Canellas klagen, falls der sich nicht für seine Vorwürfe entschuldige.
Was von solchen Dementis zu halten ist, weiß Richard Kirn, graue Eminenz der deutschen Sportjournalistik, der seit mehr als 40 Jahren über den deutschen Fußball schreibt: „Wir haben es ja x-mal bei Verhandlungen vor Sportgerichten erlebt, dass Männer, die sich schämen würden, ihrer Sekretärin einen Bleistift zu stehlen, mit kalter Stirn ableugneten, was gar nicht abzuleugnen war. Wer einmal ein wenig ins Vereinsleben hineingerochen hat, weiß, dass ein richtiger Fanatiker imstande ist, für seinen Verein Häuser anzuzünden, wenn der Verein die Versicherungssumme braucht.“
Für viele Fußballfans ist dagegen Canellas der Sündenbock. Im „Kicker“ schreibt ein Leser: „Vielleicht wäre unsere Fußballwelt noch in Ordnung, gäbe es nicht ‚die Canellas‘, die den Stars Angebote machen.“ Im eigenen Verein, bei den Offenbacher Kickers, wird er zum Rücktritt gedrängt. „Der Verein will Frieden mit dem DFB schließen“, meldet die „WAZ“.
„Kicker“-Chefredakteur Karl-Heinz Heimann dagegen bricht eine kleine Lanze für Canellas: „Es wäre zwar das Bequemste, nicht aber das in dieser Situation Angebrachte, auf ihn mit Fingern zu zeigen und ihn zum allein schuldigen Buhmann zu machen.“ Das wäre es tatsächlich. Immerhin hat Canellas bereits vor dem letzten Spieltag mindestens drei DFB-Offiziellen von seinen Ermittlungen berichtet: neben Gramlich noch dem DFB-Ligareferenten Wilfried Straub sowie dem DFB-Generalsekretär Hans Paßlack. Doch seine Tonbänder mochte damals niemand anhören. Straub beschied ihm: „Ich kann doch nicht jede Biertischunterhaltung ernst nehmen.“ Und Paßlack brummelte: „Alles nur vage Vermutungen.“ Auch Canellas’ Forderung, den DFB-Ermittler Kindermann einzuschalten, will zunächst niemand nachkommen. Das geschieht erst, nachdem er im Alleingang an die Öffentlichkeit gegangen ist. Als Flankenschutz hat sich Canellas die Unterstützung der mächtigen „Bild“-Zeitung gesichert: Er lässt deren Redakteur exklusiv die gesamten 13 Stunden Bandaufzeichnungen von Schmiergeldverhandlungen abhören. Nun fordert das Blatt balkendick: „Weg mit solchen Gaunereien“.
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Noch im Juni 1971 ergehen die ersten Urteile. Manglitz und Wild werden auf Lebenszeit, Patzke auf zehn Jahre gesperrt. Außerdem muss Manglitz eine Geldstrafe von 25.000 Mark zahlen; die Bundesligakarriere des Kölners, zu diesem Zeitpunkt mit 256 Einsätzen Rekordhalter, ist damit zu Ende. Bei allen Spielern sieht es das DFB-Sportgericht als bewiesen an, dass sie sich bestechen ließen. Nur wenn die versprochenen Spielmanipulationen fehlschlugen (beispielsweise verlor Köln dann doch nicht gegen Offenbach), floss in einigen Fällen kein Geld.
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