Für Hanjo Berking hatte das Jahr 1977 mit einer hässlichen Häufung von Katastrophen begonnen. Erst war ein Freund von ihm bei dem Einsatz in Grohnde schwer verletzt worden, und kurze Zeit später waren seine Eltern bei dem Flugzeugabsturz auf Teneriffa ums Leben gekommen, der mittelbar mit einem Bombenattentat zu tun hatte. Das vergangene Jahr war nicht nur für ihn ein schwieriges gewesen. Die Ordnungskräfte vibrierten geradezu, selbst im beschaulichen Goslar. Allerorts erwartete man neue Zusammenschlüsse von gewaltbereiten Weltverbesserern. Waren es im Norden eher linke Gruppierungen, so hatten sie es im Harz und seiner Umgebung zumeist mit Rechtsradikalen zu tun. Hanjo hatte schon lange aufgegeben, den Unterschied begreifen zu wollen.
Nun stand er in diesem verdammten Haus mitten in der Feldmark unweit der Grenze, dessen Leere nicht nur die Goslarer Polizei, sondern vor allem ihn persönlich der Lächerlichkeit preisgab.
Hanjos Blick richtete sich auf den Rücken seines Vorgesetzten Harmsen, der den Tatort verließ. Er hatte Mühe, seinen Zorn zu zügeln. Hanjo zwang seinen Blick von seinem Chef weg und ging durch den Flur in eine Art Wohnzimmer, hinter dessen Fenstern sich eine weitläufige Ackerfläche erstreckte. Die Wände waren mit allerlei Symbolen versehen worden, von denen Hanjo einige als nationalsozialistisch erkannte. Am Kopfende des Zimmers prangte eine recht kunstvolle Zeichnung an der Wand, die an die überschwänglichen Bilder der Jahrhundertwende erinnerte. Ein von Eichenlaub umranktes Schwert in einer Art Wappen schwebte einem Altarbild gleich in Augenhöhe. Die Waffe mit ihren Rankenmustern und dem verzierten, in einem großen Stein mündenden Griff mit Strahlenkranz war so kunstvoll in Szene gesetzt, dass man fast meinte, es von der Wand nehmen zu können.
»Das Bild zeigt zumindest, dass sie hier gewesen sind«, stellte Schüssler mit Blick auf die Wandzeichnungen fest. »Was bedeuten denn all diese doppelten Achten?« Er wies auf die anderen Wände, wo sich diese Zeichen mehrfach wiederholten.
»Der achte Buchstabe des Alphabets ist ein H. Doppel-H steht für ›Heil Hitler‹ «, knurrte Hanjo fahrig.
»Und diese Symbole? Sind das überhaupt Buchstaben?«
Hanjo Berking schüttelte den Kopf. »Die kenne ich auch nicht, außer dem SS-Zeichen hier.« Nachdenklich schritt er die Wände des Hauses ab. »Ulli, sorg doch bitte dafür, dass ein Fotograf das verewigt«, verlangte er nun.
Ullrich Schüssler nickte und ging nach draußen, um von einem der Einsatzfahrzeuge einen Funkspruch abzusetzen.
»Kommissar Berking …«
Hanjo drehte sich zu dem uniformierten Kollegen um.
»Im Keller sind Blutspuren. Ist aber nicht viel, eher so ein paar Spritzer.«
Hanjo Berking folgte dem Kollegen in einen erstaunlich hohen Kellerraum. Er ließ den Blick über die dunklen Flecken an Wand und Boden schweifen. Dabei fielen ihm Haken in der Decke und tiefe Rillen in den Wänden auf.
»Die Ringe waren vielleicht für Boxsäcke. Könnte ein Raum für Kampftraining gewesen sein«, murmelte Hanjo Berking. »Staubt das ganze Haus ein. Ich will jeden Fingerabdruck in diesem Haus, jedes Haar und jede Faser in der Akte haben.« Sein Blick fiel auf die Blutspritzer. »Nehmt auch davon Proben.«
»Wozu das denn?«
»Vielleicht können unsere Laborratten ja eine Blutgruppe feststellen oder so was. Nehmt einfach Proben und packt es ein!«, herrschte Berking den Kollegen unnötig grob an. Dann ging er nach draußen und tat, als würde er sich den Garten ansehen. Er hatte versagt.
Nach einer Weile gesellte sich Ullrich Schüssler hinzu, der ahnte, wie seinem Freund zu Mute war.
»Der Fotograf kommt«, erklärte er unbeholfen und starrte ebenfalls über die ungepflegte struppige Fläche, die an einer vereisten, krautigen Hecke endete.
Hanjo stierte missmutig schweigend in die kahle Winterlandschaft. Die Wintersonne war in dem aluminiumfarbenen Himmel nur zu ahnen.
»Mensch, Hanjo … mach dir keine Vorwürfe. Immerhin wissen wir jetzt, dass du mit deinem Verdacht richtig lagst. Hier war wirklich eine rechtsradikale Truppe am Werk. Das zählt!«
»Sie sind uns aber durch die Lappen gegangen«, haderte Hanjo. »Monatelange Arbeit … alles umsonst.«
»Wir hatten die Adresse doch gerade erst aus diesem Müller herausbekommen. Hanjo, dafür kann keiner was!«
»Wahrscheinlich rekrutieren sie woanders schon die nächsten Jungen, die einfach nur nach Idealen suchen.«
»Also auch verschwunden«, stellte Hanjo Berking müde fest. Er kippelte mit seinem Stuhl herum und schaute leer aus dem Fenster. Es schneite schon wieder.
»Ja, die Wohnung war völlig verwüstet. Sieht ganz nach einem Kampf aus. Aber eines ist merkwürdig … « Ullrich Schüssler blätterte in einer Akte, die er nun auf Berkings Schreibtisch fallen ließ. »Sein Wagen wurde in Braunlage gefunden. Gar nicht weit von dort, wo die Kleine wohnte, die vergewaltigt wurde.«
Hanjo Berkings Stuhl kam lautstark auf allen vier Füßen zu stehen. »Was?«, fragte er völlig unnötig, denn er hatte seinen Kollegen überdeutlich verstanden. In den letzten Wochen war es ihm fast gelungen, das Gesicht der jungen Frau aus dem Kopf zu bekommen, an die er so ungebührlich oft hatte denken müssen. Ungebührlich deshalb, weil diese Gefühle einen Verrat an seiner Frau Annalena darstellten, die er doch liebte.
»Hatte sich denn noch etwas wegen der Kleinen ergeben?«, fragte Schüssler vorsichtig.
Berking entging der forschende Blick seines Kollegen nicht. Er gab sich nun betont unbeteiligt.
»Die Vergewaltigung meinst du? Nee. Ich glaube auch nicht, dass wir da etwas herausbekommen. Sie leugnet die Sache. Und ihre Freundin mauert ebenso hartnäckig.«
»So ein Blödsinn!«, maulte Schüssler. »Ob sie den Scheißkerl kennt?«
»Entweder das … oder sie schämt sich.«
»Wie kann man sich dafür schämen, wenn man vergewaltigt wird?«, begehrte Schüssler auf.
»Na ja, meist geht der Vergewaltigung ja doch ein gewisses Geplänkel voraus. Ein Blick hier, ein Lächeln dort – und das ist es, wofür sich die Frauen schämen«, meinte Hanjo, während er eine kurze Notiz in eine der Akten schrieb.
»Hm«, grummelte Schüssler. »Sag mal, weißt du eigentlich, dass sich einige Burschen dort oben eine kernige Prügelei geliefert haben? Dieser Dr. Volkers hatte noch mal hier angerufen. Muss wohl eine Woche vor unserer Hausstürmung gewesen sein.«
Nun schaute Hanjo doch auf. »Die haben sich geprügelt? Und?«
Schüssler lachte und schüttelte den Kopf. »Ich hatte diesen Dr. Volkers zurückgerufen. Er meinte, einer von denen hatte wohl sogar eine üble Stichwunde im Bein, aber keiner hat dem Arzt etwas sagen wollen. Eine Anzeige gab es auch nicht. Nichts.«
Hanjo lächelte müde. »Tja, das ist eine eingeschworene Gesellschaft dort oben. Wir werden wohl nie erfahren, was dort vorgefallen ist. Hätte sich nicht dieser Dr. Volkers damals gemeldet, ich bezweifle, dass wir überhaupt je von der Vergewaltigung erfahren hätten.«
»Ist ein vernünftiger Mann, dieser Doktor. Meine Güte, war die Kleine hübsch«, meinte Schüssler versonnen.
Hanjo Berking gab ein knappes »Ja« von sich und versuchte die tannengrünen Augen und die roten Locken mühsam aus seiner Erinnerung zu verdrängen. »Und der Wagen von unserem Obernazi ist dort gefunden worden?«
»Ja. Aber der Bursche ist wie vom Erdboden verschluckt. Er hatte ja weder unter seinen Nachbarn noch in der Uni Freunde. Die wenigen, die ihn von den Vorlesungen kannten, beschrieben ihn als ziemlich verschlossen. Nach Aussage seines Professors für…« Schüssler warf einen Blick in seine Akte, »… für Physik war er hochintelligent. Seit Beginn der Weihnachtsvorlesungspause hat ihn niemand mehr gesehen. Ich denke, der wurde dort unter falschem Namen geführt, so etwas ist für unsere Nazifreunde ja kein Problem. Und dort, wo wir seinen Wagen gefunden haben, will ihn niemand gekannt haben.« Schüssler blätterte weiter und sagte nachdenklich: »Dann hat sich noch ein Bundeswehrsoldat oben aus Clausthal abgesetzt. Von dem fehlt auch jede Spur. Aber das hat mit unserem Fall wohl nichts zu tun.«
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