Damit hatte er die Jagd auf sich eröffnet. Überall ringsherum begannen Äste unter trampelnden Stiefeln zu bersten. Gefrorenes Laub knirschte. Zweige schabten über Winterjacken. Niemand bemühte sich noch um Stille. Es mochten zehn, vielleicht fünfzehn Männer sein. Er war ihnen in die Falle gegangen. Er hielt sich jedoch nicht mit der Frage nach dem Warum auf, angesichts dieser Übermacht konnten ihm nur noch Kondition und niederste Kampfinstinkte helfen. Bewusst atmete er lang durch, sondierte seine Lage, während er durch den Wald rannte. Er bezweifelte, dass seine Verfolger ihrem Körper mehr abverlangten, als es die tägliche Arbeit auf einem Oberharzer Kleinhof oder in einem Büro erforderte. Er dagegen lief seit seinem zehnten Lebensjahr täglich mehrere Kilometer. Noch immer bewegte er sich in hohem Tempo vorwärts. Die Distanz zwischen ihm und seinen Jägern vergrößerte sich, wie er an den leiser werdenden Rufen erkannte. Vielleicht konnte er sie zerstreuen und einzeln angreifen.
»Schnappt euch das Schwein!« Hermann erkannte die Stimme sofort. Vor seinem inneren Auge tauchte ein Gesicht auf. Groß, dunkelhaarig, mit einem Blick voll eifersüchtigem Hass. In diesem Augenblick erkannte er, dass der Brief, der ihn her gelockt hatte, gar nicht von ihr stammte. Liebe macht wirklich blind, haderte er.
Nun knackte es nicht mehr nur hinter ihm. Es waren mehr, als er vermutet hatte. Sie hatten sich bereits vorher verteilt und versuchten, ihn einzukreisen. Eine Wolke schob sich dem Mondlicht in den Weg und gab ihm eine Chance. Schwungvoll ließ er sich fallen, rollte unter etwas, das wie ein Hagebuttenbusch aussah, und blieb regungslos liegen. Bis sie sein notdürftiges Versteck erreichten, musste sich sein Atem so weit beruhigt haben, dass sie ihn nicht hörten. Vielleicht hatte er Glück und sie liefen an ihm vorbei. Und dann? Zum Wagen zurück? Er verwarf diese Idee. Sicher warteten dort Wachen auf ihn. Er spähte aus seinem Versteck.
Es schien, als sei der halbe Ort auf den Beinen, um ihn zu hetzen. Einige liefen tatsächlich an seinem Versteck vorbei. So leise wie möglich richtete er sich auf. Er musste die Richtung ändern. Links von ihm schnitt ihm der Andreasberger Teich den Fluchtweg ab. Er spähte in den Sternenhimmel, um sich zu orientieren, und versuchte es in nordwestlicher Richtung. Vielleicht gelang es ihm, in einem weiten Bogen zurück zur Harzhochstraße zu laufen. Noch lief er nicht. Er schonte seine Kräfte und baute auf Geräuschlosigkeit. Dann sah er Taschenlampen aufblitzen und fluchte innerlich. Nun blieb ihm nur noch seine Kondition. Er lief los. Um ihn herum schien der Wald zu brodeln. Sie hatten seinen Richtungswechsel erkannt und folgten ihm. Ein Bach glitzerte im Mondlicht. Er übersprang ihn und hastete weiter. Ein paar Stimmen kamen näher. Er musste sie abhängen, um die Straße nordöstlich von ihm zu erreichen. Allerdings hatte er noch einige Kilometer vor sich.
Während er lief, befühlte er seine Taschen nach etwas, was sich als Waffe verwenden ließ. Währenddessen horchte er nach hinten. Das Taschenmesser rutschte ihm in die Hand. Noch im Lauf öffnete er es. Im nächsten Moment traf ihn ein derber Schlag an der Schläfe und er ging zu Boden. Warmes Blut lief ihm in den Kragen und über die Hand. Zwar kämpfte er erfolgreich gegen die wabernden Schleier einer Bewusstlosigkeit, blieb aber dennoch liegen, ohne sich zu rühren. Verhalten tastete er nach dem Messer. Endlich fühlte er etwas Hartes zwischen den Fingern. Seine Chance kam, als sich sein Widersacher zu ihm herunterbeugte.
»Das wird dir eine Lehre s…« Weiter kam Hermanns Verfolger nicht, denn das Messer fuhr dem jungen Mann aus Braunlage in den Oberschenkel. Hermann drehte es etwas und zog es aus dem blutenden Fleisch. Mühsam richtete er sich auf und rammte der gekrümmten Gestalt seine Faust ins Gesicht. Torkelnd rannte er weiter. Rechts sah er nur sehr verschwommen. Das Blut lief. Stimmen und die Geräusche von unzähligen Füßen, die durch das Unterholz brachen, schienen von überall her zu kommen. Hermann sah seine Chancen, diese Nacht zu überleben, zum ersten Male schwinden. Er erreichte einen Waldweg und folgte ihm. Mehrfach dachte er, seine Lungen würden bersten. Immer wieder wurde ihm schwarz vor Augen. Kilometer um Kilometer rannte er. Die Stimmen hinter ihm wurden leiser. Hatten vielleicht einige von ihnen aufgegeben? Es ging bergan. Neben ihm gurgelte ein weiterer Bach. Endlich gönnte sich Hermann ein ruhigeres Tempo, wischte sich das Blut aus dem Gesicht und presste eine Hand voll Schnee auf die Wunde an seiner Stirn. Schwer atmend näherte er sich einem Abzweig. Er konnte die Straße hören. Die Straße? Die Autos fuhren nicht vorbei, sie näherten sich seinem Standort und Hermann erkannte fröstelnd, von diesen Fahrzeugen hatte er keine Hilfe zu erwarten, im Gegenteil. Hermann fluchte und wandte sich nach links, von der Harzhochstraße weg. Er war gezwungen, dem Weg zu folgen, da der Wald rechts und links zu dicht war, doch er musste schnellstens von dem Weg runter. Sie waren ihm mit Autos auf den Fersen. Endlich sah er rechts einen Pfad abzweigen und folgte ihm in den Wald. Die Wagen hielten. Autotüren gingen auf und wurden zugeschlagen. Das Stimmengewirr folgte ihm. Hermann stolperte über einen steinigen, engen Pfad, bis sich überraschend eine Lichtung auftat. Die Lichtung endete in einem Abgrund. Dahinter verbreitete sich das Mondlicht über die Kuppen ausgedehnter Wälder. Er hatte verloren.
Hermanns Fäuste trafen noch so manchen Kiefer, bevor er seine eigenen Rippen brechen hörte und zusammensackte. Von allen Seiten hagelte es Fäuste, Tritte und Schläge. Er hörte noch einige Wortfetzen wie: »… wieder ein Wanderer die Klippen heruntergestürzt … den Rest erledigt die Kälte!«
Er fühlte sich hochgehoben. Stürzte. Dann wurde es endgültig Nacht.
Kriminalhauptkommissar Harmsen gab ein kühles »Na, das war ja wohl nichts« von sich, während er sich verkniffen umsah. Hans-Joachim Berking fluchte derb, wusste er doch genau, wem diese vernichtenden Worte galten. Schließlich war er es gewesen, der diesen Einsatz in monatelanger Arbeit vorbereitet hatte. Sie hatten ja einiges erwartet, aber nicht diese höhnische Leere.
»Verdammt! Wo sind die denn alle hin?« Ullrich Schüssler sah sich konsterniert um. Einige der uniformierten Kollegen, die das einsame Gehöft nördlich von Bad Harzburg unweit der Grenze gestürmt hatten, konnten sich ein boshaftes Grinsen nicht verkneifen. Irgendwie freute man sich ja schon, wenn die besser verdienenden Kripo-Kollegen in Zivil einen Fehler machten. Aber natürlich war es auch zum Teil Erleichterung. Erleichterung darüber, es nicht mit einer unberechenbaren und bewaffneten Truppe von Rechtsradikalen aufnehmen zu müssen, die hier ihr Hauptquartier gehabt haben sollte.
»Scheiße! Ich weiß es doch auch nicht«, antwortete Berking seinem Freund und Kollegen ungehalten. Hoffnungsvoll blickte er einem Uniformierten entgegen, der von einem Rundgang durch das Haus zurückkam. Dessen Kopfschütteln ließ Berkings Gesichtszüge geradezu gefrieren. »Dieser Anton Müller muss seine Kumpels irgendwie gewarnt haben!«
»Wie denn? Der sitzt in U-Haft«, hielt Schüssler dagegen.
»Irgendwer hat die Bande aber gewarnt«, erwiderte Berking ungehalten.
»Tja, Berking, die sind wohl besser organisiert als wir«, murrte Harmsen und machte Anstalten zu gehen.
Berking fluchte lauthals und schimpfte dann vor sich hin: »Wir brauchen endlich Namen! Unsere Kollegen müssen sich diesen Müller noch mal vornehmen.«
Dieser Fehlschlag hatte gerade noch gefehlt. Es war ein grauenhaftes Jahr gewesen, dessen Ereignisse selbst eine so kleine Polizeidienststelle wie die von Goslar nicht unbeeindruckt gelassen hatte.
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