Er musste beruflich weg für eine Woche, und als er wiederkam und endlich ihre Stimme hörte, sagte sie, sie brauche eine Auszeit.
„Ehrlicher“, sagt Salome kühl, „als er war sie in jedem Fall“.
In jener Nacht, in der sie ihn in Sicherheit in einem Berliner Hotel geglaubt hatte, war Hannes schon bei ihr, Doreen, in ihrer Wohnung gewesen. Er habe sein Handy nicht gefunden, als er schlafen gegangen sei, hatte er Salome tags darauf angelogen.
Ihre Versuche damals, ihn von der Klinik aus zu erreichen, waren erfolglos geblieben, sie hatte mehrmals MachdirkeineSorgen esgehtmirgut getippt und eine Sonne geschickt. Natürlich schlief er, hatte sie sich gesagt, möglich, dass die Handys alle ausgeschaltet gewesen waren abends, beim Kongress, Empfang, wasauchimmer, dass niemand von den Vorgängen im Süden des Landes informiert worden war, aber eigentlich, und das war ein Unruheherd in einem entfernten Winkel ihres Denkens gewesen, konnte das nicht sein, es war doch auf allen Kanälen, der Ausnahmezustand einer Millionenstadt, in der Menschen Unbekannten, die panisch umherirrten, egal ob Einheimischen oder Leuten aus anderen Ländern, ihre Haustüren öffneten, Kommt rein, schnell, hier seid ihr sicher, alles verriegelten, während viele auf den Bahnhöfen außerhalb der Stadt festsaßen, andere stundenlang in Garagen hockten, Büros, Supermärkten, in Kühlhäusern, Kellern, sich zusammenkauerten in den Geschäftspassagen in der Innenstadt. Hannes war zurückgekommen am nächsten Tag, sie hatte sofort seinen rotbraunen Schopf zwischen den Leuten, die durch die Sperre am Flughafen gingen, erkannt, seinen besorgten, flattrigen Blick, war in seine Arme gestürzt, „Naaa“, hatte er, an sie gedrückt, gesagt und sich geräuspert.
Und wie sie es sich gewünscht, wie sie es erwartet hatte, war er mit ihr die Ereignisse durchgegangen, hatte alles mit ihr angesehen, diskutiert, aufgearbeitet, sie getröstet und bekocht. Sie hatten Freunde und Freundinnen eingeladen in den Wochen danach, zum Essen und Trinken und Reden über jene Nacht, sie waren beschäftigt gewesen, viel Arbeit und Aufregung, „gut“, hatte er auf ihre Frage nach dem Kongress in Berlin gemeint, „das Übliche, du weißt ja“.
Und dann waren noch einige Anekdoten hinzugekommen von Leuten, die Salome auch kannte und mochte oder weniger mochte und von Erkenntnissen, die Neues versprachen, wie immer.
„Nichts“, sagt Salome bitter, „nichts war ihm anzumerken…“
„Ja, das ist bei vielen Tätern… äh…“, Jon verstummt.
Sie lehnt sich zurück, verknotet unterm Tisch ihre Finger, lächelt dünn.
Was soll das hier? Sinnlos und vergeblich. Alles sinnlos und vergeblich.
Was will sie von diesem Fremden? Wie kann sie sich nur so hinreißen lassen und so vieles offenbaren?
Es war falsch, mit ihm hierher, nach Hause, zu kommen. Falsch, auch wenn die Pharmaindustrie ihr wieder einmal ermöglicht, es auszuhalten, dass jemand keine Ahnung hat, was sie fühlt.
So war’s immer, Schätzchen.
Jaja.
Warum hatte sie nicht bemerkt, dass sie in einem Gespinst von Verrat lebte?
Jon lächelt sie an, ein wenig unsicher, Salome presst die Lippen aufeinander, schluckt, will den Ekel nicht hochkommen lassen, dieses Gebräu – diese Selbstbeschädigung, Ohnmacht, sie will ihr altes Leben zurückhaben, verdammtnochmal, das Leben, in dem alles sicher schien im Rhythmus von Arbeiten und Leben und Planen für die Zukunft, von Sabbat zu Sabbat. „Halthalthalt“, hört sie ihren Therapeuten (bildet sie sich das ein oder hat er das tatsächlich gesagt?), „steigen Sie mal aus Ihrer Opferrolle aus“.
„Was macht er – er – als Genetiker eigentlich genau?“, fragt Jon nun.
Offenbar ist auch ihm unbehaglich, den Namen auszusprechen. Hannes.
Das stimmt sie versöhnlich, obwohl sie wenig Bedürfnis hat, sein Berufsbild zu erklären –
Jon lächelt: „Man kann ja schon so viel erkennen. Würdest du alles wissen wollen?“
„Du meinst sicher“, sagt Salome, „die Frage, ob man Gene trägt wie… Brustkrebs beispielsweise oder Alzheimer…“
„Naja, zum Beispiel…“
Wie oft war es in den letzten Jahren genau darum gegangen, hier an diesem Tisch. Sobald einige Leute, nahe oder auch nicht so nahe, in dieser Küche Platz genommen hatten, war es immer nur eine Frage der Zeit gewesen, wann irgendjemand zwischen Suppe und Dessert seinen Blick auf Hannes gerichtet und nach den neuesten Erkenntnissen gefragt hatte.
Und wie oft war die Tischgesellschaft einig in ihrer Gespaltenheit auseinandergegangen, manchmal sogar wütend, sodass Salome schon begonnen hatte, Ablenkungsstrategien zu entwickeln, jedes Mal munter neue Themen in die Runde geworfen hatte, von denen sie ähnliche Brisanz voraussetzte, aber mit weniger Erregungspotenzial. Ihr Erfolg allerdings war mäßig geblieben.
Der Blick in die eigene genetische Struktur war so verlockend wie unheimlich und wurde immer wieder zwischen den Polen – „Also, ich möchte nicht wissen, ob ich Alzheimer bekomme“ und „Aber wenn man einer heilbaren Krankheit vorbeugen kann“ – verhandelt.
Hannes war in der Regel wortkarg geblieben in diesen Diskussionen, Salome wusste, dass er jeglichen Anschein von Eigeninteresse vermeiden wollte.
Offenbar konnte er vieles gut verbergen.
„Noch ist das alles ja sehr teuer“, sagt Salome, „eher was für Betuchte“, und erwartet, dass Jon sie nach ihrer Genanalyse fragt.
Aber er fragt nicht. Sie könnte ihm auch nichts sagen, weil es keine Analyse ihrer Gene gibt.
„Ich nehme mir einfach das Recht auf Nicht-Wissen“, hatte sie Hannes entgegengelächelt, und er: „Verstehe ich!“, erwidert, „Verstehe!“, und dann hatten sie nicht mehr davon gesprochen.
Salome steht auf, „entschuldige bitte“, und geht aus der Küche hinaus in den Flur, hinüber zum Bad. Im Spiegel sieht sie verschmierte Augenlider, sie wischt herum und zieht neue Linien.
Beim Zurückgehen streift sie im Flur versehentlich den Kamelhaarmantel, sie biegt um die Ecke und da sitzt sie, die Mutter, ein aufrechtes, zierliches Kraftpaket, schwarze Augen und Haare, zurückgebunden zu einem beachtlichen Knoten, glänzender Goldschmuck an Ohren und Hals, eine orientalische Königin mit kleinen faltigen Händen und rotem Nagellack, um deren Gelenke bei jeder Bewegung Goldreifen aneinanderklirren, Hannes ihr gegenüber, dazwischen Bekannte aus einem früheren Leben, ein fortgeschrittener fröhlicher Abend, und Hannes hat rotgeäderte Augen, wird entgegen seiner sonstigen Zurückhaltung gesprächig, als jemand zu fragen beginnt, lässt sich zu den Vorzügen einer Genanalyse hinreißen – dass sie unter anderem aufzeige, welche Medikamente man vertrage, welche nicht, was bei bestimmten Operationen lebensentscheidend sein könnte – und dass man auch Erfreuliches erfahren könne.
„Das wäre?“, Mutter fragt mit spitzen Lippen.
„Na, zum Beispiel, sogenannte Langlebigkeitsgene…“
Das war natürlich dumm von ihm.
Ja, Ma.
Langlebigkeitsgene, pah. Haben die etwa irgendeinem von uns in Dachau geholfen? In Ravensbrück? Mauthausen?
Salome betritt die Küche, setzt sich, legt ihre Fingerspitzen an beide Schläfen.
„Es ist spät,“ räuspert sich Jon, „ich werde mich mal auf den Weg machen“.
„Wohin?“, fragt sie mit sinkenden Händen.
Er nennt ihr ein Hotel in der Nähe des Bahnhofs, sie kennt es nicht.
Eine Woche nach dem Oktoberfest war es kein Problem gewesen ein Zimmer zu bekommen. Und in der Stille, die nun folgt, hören sie beide das Knurren, das direkt und unmissverständlich aus der Mitte seines Körpers kommt.
*
Nach Mitternacht fragt sie, ob er bleiben möchte.
Sie sieht Jon dabei gelassen an, so, als sei sie geübt darin, einem Mann am ersten Tag des Kennenlernens diese Frage zu stellen.
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