Schlafen.
„Ich werde… werde Sie… zurückrufen.“
Das hatte sie mit äußerster Anstrengung hervorgepresst. War das so gemeint gewesen?
Die Übelkeit hatte weiteres Nachsinnen verhindert, eine Übelkeit, die sich schwungvoll in ihrem ganzen Körper verteilt hatte, ein erstaunlich dynamischer Vorgang, der ihr mittlerweile schon vertraut war.
„Es tut mir leid… ich wollte Sie nicht…“
„Ist schon… also… ist schon in Ordnung.“
„Auf Wiedersehen.“
Die Verbindung war vom Anrufer beendet worden, was Salome aber nicht mehr bemerkt hatte.
Denn was nun auf den Tisch gerutscht war, waren ihre ineinandergelegten Arme gewesen, ein stabiles Rechteck aus Muskeln und Knochen, auf das ihr Kopf sinken hatte können, der Kopf, der plötzlich mit Leere gefüllt gewesen war, einer gnädigen Leere, Nussschale, entkernt.
*
Kahl und grau wirkt der Englische Garten in diesen nassen Oktobertagen, passt, denkt Salome, passt hervorragend. Einige Hunde laufen umher, vermummte Menschen folgen ihnen, neonblinkende Turnschuhe an Joggern. Die Betriebsamkeit der Stadt bleibt an den Rändern des Parks zurück, ihr Brummen wird leiser mit jedem Schritt.
Vor dem Kiosk steht ein Mann, der einen roten Schal und eine rote Mütze trägt. Im Näherkommen sieht Salome dicke blaue Jackentaschen, ausgebeult von seinen Fäusten. Sie sieht Jeansbeine, festes Schuhwerk, einen drahtigen, fremden Menschen, den sie gerne in seiner Fremde belassen hätte. Der ihr aber in den letzten Tagen zunehmend im Kopf herumgeschwirrt war und eine geradezu feurige Neugierde in ihr entfacht hatte, welche sie ziellos durch die Wohnung getrieben, schließlich schlaflos gemacht hatte, nahezu nahrungslos.
Sie hatte diese Begegnung nicht mit dem Therapeuten vorbereiten können, sie wunderte sich über ihren Mut.
Der Mann sieht ihr entgegen.
War es das? Mut?
Die rote Mütze und der Schal waren seine Idee gewesen.
„Gut“, hatte sie am Telefon gesagt und dann in einem Spontanentschluss hinzugefügt: „Ocker. Bei mir wird es Ocker sein.“
Plötzlich war ihr der schwarze Mantel samt Kapuze mit Kunstfell, den sie sonst immer trug, als ein zu grelles Statement erschienen. Nur nicht als Trauerklotz auftauchen.
Haltung.
Haltung, Schätzchen, ist nicht alles. Aber viel.
Als sie den Kamelhaarmantel ihrer Mutter aus dem Schrank geholt hatte, war sie kurz unsicher geworden. Sie war vor den Spiegel getreten und hatte gesehen, wie die Farbe ihre Gesichtsblässe betonte. Ein bleiches Dreieck mit zwei Kastanien glühte ihr entgegen.
Sie hatte den Mantel aufs Bett gelegt und im Badezimmer wild entschlossen die Schublade aufgerissen, in der sich die Schminksachen befanden. Sie hatte sich nicht mehr erinnern können, wann sie das letzte Mal Rouge und Wimperntusche aufgetragen hatte, wann ihr wichtig gewesen war, farblich passenden Schmuck in ihren Ohrlöchern zu befestigen.
Sie hatte sich bei ihrer Verwandlung zugesehen, ihre Lippen zusammengepresst, geöffnet, gewischt, geklopft, geprüft.
Sie war hübscher als sie gedacht hatte, hatte dies allerdings festgestellt wie eine Frau, welche soeben die Tür zu einem Waschraum aufdrückt, eine andere flüchtig im Spiegel sieht und erschrickt.
Alles vorübergehend. Gar nicht schlimm.
Nur ein bisschen – wie nannte der Therapeut ihre Zustände? –
Ah, ja. „Depersonalisation.“
*
Er lässt die Hände in den Taschen, als sie in zwei Meter Entfernung vor ihm stehen bleibt und seinen Blick sucht. Seine Augen sind schmal, mattes Braun.
„Tja“, sagt Salome mit ineinander verschränkten beigefarbenen Handschuhfingern, macht ihre Lippen zu einem dünnen Strich, hochgezwirbelt an den beiden Enden.
Sie tritt von einem Stiefelbein aufs andere. Das Ocker in Variationen, das sie von oben bis unten trägt, wird nur unterbrochen von ihrem dunklen, unter der Mütze hervorspringendem Haargewirr.
Jetzt erst schiebt er den Schal nach unten, ein weiches unrasiertes Kinn zeigend, schmale Lippen.
Verlegen lächelt er, sieht kurz auf seine Schuhe und wieder hoch.
„Wollen wir“, fragt sie, „ein bisschen gehen?“
Die ersten Minuten schweigen sie.
Kleine und größere Hunde in verschiedenen Farben und Formen kommen ihnen entgegen oder überholen sie, während sie nebeneinander kräftig ausschreiten, als hätten sie ein Ziel, das schnell erreicht werden muss. Salome marschiert mit erhobenem Kopf, ihre Handtasche fest im Griff.
Er räuspert sich, lässt seine Blicke über die Bäume und Wiesen schweifen, über das verlebte Grün, das schmutzige Gelb.
„Wollen wir uns“, fragt er, „duzen?“
Er heißt Jon, das weiß sie vom letzten Telefonat.
Sie bleiben stehen, sie nickt, beide lächeln verlegen, gehen nach kurzem Zögern weiter.
„Wie“, fragt sie schließlich, „war die Reise?“, und sieht ihn von der Seite an.
„Danke, gut“, antwortet Jon, sich erneut räuspernd.
Er ist mit der Bahn gekommen. „Fliegen ist nicht mehr so…“, wie er am Telefon gesagt hatte.
Sie verlangsamt ihren Schritt, weil ihr Herz hüpft, sie ist dieses Tempo nicht mehr gewöhnt. Er tut es ihr nach, sie halten schließlich unter einer Ulme, passt, denkt Salome, die Ulme passt auch, der Trauerbaum.
Sie drehen sich zueinander.
Jons Blick kommt aus Augen, die sie nun als bernsteinfarben bezeichnen würde.
„Scheiße, was“, grinst er.
Sie sieht ihn stirnrunzelnd an. Er ist Polizist, auch das hatte er ihr am Telefon erzählt. Das Sprechen mit ihm war leichter gewesen in dieser Distanz, eindeutig. Sie wird schon wieder sehr müde.
Was will sie eigentlich von ihm?
*
Er habe lange nichts bemerkt, erzählt Jon schließlich.
Sie hatten ja auch getrennte Wohnungen in Berlin, er und, er zögert vorm ersten Aussprechen ihres Namens, Doreen.
Salomes Schritt stockt.
Sie atmet tief ein. Ein und aus.
Auch Jon bleibt stehen, sieht sie an.
Ein und aus.
Wann wird es aufhören? Zumindest besser werden?
Salome beißt sich auf die Lippen. „Doreen“ ist immer noch eine Nadel, die an ihrer Herzwand ritzt.
Zwei Enten fliegen über beide hinweg.
Immerhin, die Nadel ist ein Fortschritt. Die ersten Wochen war der Name ein Dolch, spitzes, zweimaliges Gehacke ins Fleisch: Do – reen.
Als Hannes ihr den Namen in jener Nacht mitteilte, bekam sie einen Lachkrampf. Er saß ruhig vor ihr und sah zu, wie sie Tränen lachte, und als der hysterische Anfall vorbei war, sagte er, er hole nun seinen Koffer.
Es gab keinen Eintrag im Internet von ihr, Doreen Irgendwer, Salome sah es Stunden später. Da hatte sie sich aus der ersten Erstarrung gelöst, konnte sich zumindest wieder bewegen. Sie bespuckte das Display. Klingelte Hannes’ besten Freund Hugo aus dem Schlaf und sagte nur:
„Hast du es gewusst?“
Die Art, wie Hugo „Was… was denn? Weißt du, wie spät es ist?“ krächzte und auf schlaftrunken machte, war ihr Antwort genug, sie legte auf.
Also auch er.
Alles war irreal. Auch er hatte sie hintergangen.
Und wenn alles irreal war, dann konnte auch alles passieren.
Zum Beispiel, dass Hannes zurückkehren würde, bald.
Gab es diese D. überhaupt?
Was nicht im Netz war: Gab es das überhaupt?
Nicht einmal der Name, nicht einmal das.
Ein Kind wackelt ihnen entgegen, ein Vater, Blick in seine Hand, mit der anderen schiebt er den Wagen vor sich her.
„Hoppla“, sagt Jon und bückt sich, als das blauverpackte Kind, vermutlich also ein Junge, fast in ihn hineinläuft.
„Oh“, sagt der Vater einige Meter weiter und lässt das Smartphone sinken.
Wie hübsch die beiden Namen, denkt Salome, Jon und Doreen.
Die Räder des Kinderwagens schmatzen auf dem feuchten Blätterboden, der Junge wird hochgehoben.
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