Ein Jäger, Eroberer, Schätzchen, ein Tyrann.
Sie sitzen am Küchentisch. Das Wohnzimmer mit seiner Sitzlandschaft war Salome beim Eintreten zu intim erschienen und die anderen Zimmer zu unaufgeräumt, sodass sie Jon sofort ins Unverfänglichste gelotst hatte.
Er hatte sich kurz umgesehen, Röntgenblicke, als brauche er nur den Flur und einen Raum, um sich zu orientieren.
„Darf ich…?“, fragt er nun und steht auf, sie deutet nach draußen.
Geh endlich weg, Ma.
Als er von der Toilette wiederkommt, schließt Salome soeben die Kühlschranktür, hat den Wein herausgenommen.
Er betrachtet das Foto mit den beiden Jungs, „Unsere Neffen“, sagt Salome, „naja, Hannes’ Neffen zweiten Grades… wir haben…“, sie dreht sich um, „… ich habe sie… lange nicht mehr gesehen“, Jons Blick schweift über die Magnete, während sie mit dem Rücken zu ihm die Flasche bearbeitet. Nur das Quietschen des Korkens ist zu hören, denn es gibt nichts zu sagen angesichts dieser auf Bahnhöfen, Flughäfen, Kiosken, Flohmärkten weltweit gekauften buntschreienden Mitbringsel von vergangenen, sicher glücklichen Reisen.
Plopp. Salome wendet sich um, mit Flasche und Korkenzieher in der Hand. Es war Hannes gewesen, der ihr die Nimrodstraße erklärt hatte.
Nicht du, Ma.
Es gab wenig, was er nicht wusste.
Pah. Dir konnte er das Wasser nicht reichen.
Hör auf, Ma.
„Er will“, Salome holt tief Luft und nimmt zwei Gläser aus dem Schrank, „dass wir… wir die Wohnung verkaufen“.
Sie schenkt ein, sieht ihren Gast nicht an, als sie ihm das Glas reicht.
Sehr still ist die Küche, nichts rührt sich.
„Sie… sie gehört uns beiden …“, fügt sie hinzu, „Prost“.
„Salute“, Jon löst sich aus seiner Starre, hebt das Glas, betrachtet dessen lichtes Inneres.
Dieses Problem hat er nicht, denkt Salome, schön für ihn.
Sie deutet zum Tisch, Jon nickt, sie setzen sich.
Ich habe es immer gewusst, immer. Unglück wird er dir bringen, Un – glück.
„Wirst du hoffentlich gut beraten?“ Nun sucht Jon ihren Blick.
„Ja…“, sie zögert, „nun…“
Weiß er das schon? Sie beißt sich auf die Lippen.
Er sieht sie fragend an, und sie sagt, als wolle sie es so schnell wie möglich hinter sich bringen:
„Hanneswillsichscheidenlassen.“
Jon betrachtet sie regungslos.
„Er sagte es nicht, aber… aber als ich ihn beim letzten Mal fragte …“
Salome fixiert die Tischkante, streicht mit einer Handfläche darüber.
„Was denn?“ Jon beugt sich vor, mit verschränkten Armen.
„Okay. Als ich ihn fragte, ob das bedeute, dass er wieder heiraten wolle – und ich Idiotin war sicher, dass er Nein sagen würde – antwortete er nicht.“
Sie fächelt sich Luft zu, gegen die plötzlich aufsteigende Hitze, die, sie weiß es, ihren Hals, ihre Wangen rötet.
Jon wartet. Er ist es gewöhnt zu warten.
Salome schließt die Augen, gibt sich einen Ruck, öffnet sie:
„Hannes bekam nur einen glasigen Blick. Und als er erkannte, was das bei mir bewirkte, schüttelte er den Kopf, er sah weg, und ich… ach, es war so demütigend, ich verachtete ihn so, nie hätte ich gedacht, dass ich ihn so verachten könnte, ein schreckliches Gefühl, ich wollte dieses Gefühl in mir ersticken… es war alles so… so erbärmlich…“
Sie ist nahe dran zu weinen, schluckt. Genug geweint, es ist genug.
Nicht nur Jons Gesicht, sein gesamter Schädel: Versteinerung, Gipsabdruck, Totenmaske –
„Tut mir leid“, flüstert Salome.
Hab ich’s nicht gesagt, Schätzchen?
Immer noch treten seine Kieferknochen scharf hervor. Aber nun kommt Bewegung in ihn, er setzt das Glas an den Mund, trinkt einen kleinen Schluck, stellt es am Tisch ab. Sagt sarkastisch:
„Das Leben ist immer wieder voller Überraschungen, nicht wahr?“
Sie blickt aus dem Fenster, über die schmale Nimrodstraße hinweg auf das gegenüberliegende dunkle Gebäude, die Kindertagesstätte.
Eine flüchtige Erinnerung steigt auf: Hannes’ Rücken am Fenster, sichtbar durch die halb angelehnte Tür, wenn vom Haus drüben Lachen, Weinen, Geschrei und Mahnworte oder Kurzbefehle herüberschwappten.
„Ja“, murmelt Salome, „Überraschungen…“
Einige Male hatte sie ihn auch nachts vor diesem Fenster gesehen, als alles still gewesen war und lichtlos, sie war dann ins Schlafzimmer zurückgeschlichen und irgendwann doch eingeschlafen.
Ihr Blick kehrt zu Jon zurück, taucht in seinen, der sie mit einer merkwürdig kühlen Wachheit durchdringt. Als könnte er etwas sehen, was tief in ihr verborgen ist, er dreht den Kopf, sie starrt auf ihre Hände, verwirrt, ohne Atem.
Wie ist das möglich! Sie fühlt sich aufgerissen, so, als habe sein bohrender Blick die Tür zu einem geheimen Raum aufgestoßen, der nur ihr und Hannes gehört, ein Raum, in dem eine Verkündigung hockt, eine Entscheidung, eine Übereinkunft. Etwas für immer.
Ewig und immer… ha!
„Ziemlich stickig hier, nicht wahr“, lächelt Salome, wartet keine Reaktion ab, sondern geht zum Fenster und kippt es.
Doch die kühle Luft kann nicht verhindern, dass sie nun auch daran denken muss:
An den Traum, den sie seit Jahren träumt.
In dem es ein Kind gibt zwischen Hannes und ihr.
Im Traum sieht sie weder das Kind noch ihn, aber sie weiß, dass sie zu dritt durch eine etwas neblige Landschaft gehen und fühlt, wie sich eine weiche kleine Hand in ihre schiebt. Und träumend weiß sie, dass Hannes auf der anderen Seite soeben dasselbe erlebt. Ein Dahingleiten in einer eigenen Zeitrechnung, ein schwereloses Existieren in einem Universum, das osmotisch mit der übrigen Welt verbunden ist, aber Regeln folgt, die nur sie kennen, Mutter, Vater, Kind.
Im nächsten Moment Bodenlosigkeit, Fallen, panisches Umsichschlagen.
Wenn Hannes da war, fand sie sich in seinen Armen, Stirn an Stirn, sie schwitzend, mit nassen Wangen, er „Istschongut, war nur der Traum, alles gut“ murmelnd.
Salome setzt sich wieder.
Jaulen und Fauchen sind von draußen zu hören.
Hatte er nicht auch einmal gemurmelt, entnervt: „Was… wieder dein Traum? Lass mich schlafen …“, und sich umgedreht?
„Die Nachbarskatzen“, sagt sie und hätte nichts dagegen, das Thema auf sie zu lenken, tierische Kampfstile zu besprechen.
Jon aber nickt nur und streicht mit dem Zeigefinger am Glas, in dem noch ein Rest Weißwein schimmert, hinauf und hinunter.
„Wie hast du den Anschlag erlebt?“
Salome hört zu atmen auf.
„Äh…“, sagt Jon, „… entschuldige“.
Sie steht erneut auf, geht auf den knarzenden Dielen zum Kühlschrank.
Weiß er denn nicht, dass er damit ins Zentrum trifft?
Mit einem Ruck öffnet sie die Tür, ihr Gesicht leuchtet auf, sie nimmt eine Wasserflasche heraus.
Dass seit jenem Anschlag, Amoklauf, Hassverbrechen –
Natürlich weiß er es.
Weiß von jenem Freitag, diesem warmen bewölkten Julifreitag im vorigen Jahr, an dem kein heiliger Abend stattfinden konnte, kein gemeinsames Kochen und Essen, kein Kerzenlicht, weil Hannes schon mittags nach Berlin zu einem seiner Humangenetik-Kongresse geflogen war und sie tagsüber Termine gehabt und dann in die Klinik gemusst hatte, zum Bereitschaftsdienst.
Während sie sich schließlich für die Anästhesie entschieden hatte, war er mit seinen vielfältigen Interessen und nach längerem Hin und Her Genetiker geworden.
Ein Präventivmediziner, der Genprofile erstellt. Der Menschen erläutert, welche Enzyme sich bei ihnen anoder abschalten, welche Medikamente für sie richtig oder falsch sind, welche Risikoallele sie tragen, – „die Leute rennen mir die Bude ein“, lachte Hannes manchmal abends beim Zubereiten des Essens, „Schlomo, du glaubst es nicht“.
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