»Jussuf …« Damit meinte sie ihren Assistenten Jussuf Abdalleyah, der sofort verstanden hatte, dass er das Tuch von der Toten nehmen und ihren Oberkörper hochheben sollte.
»Kommen wir also zuerst zur Todesursache: Wie ich bereits am Leichenfundort feststellen konnte, ist sie von hinten erstochen worden! Und zwar …«
»Um Gottes willen! Was ist das denn?«, unterbrach Peter Dohmen die Rechtsmedizinerin, hielt aber sofort inne, als er Frederics genervten Blick sah.
»Darf ich weitermachen?«, hakte sich Angelika gleich wieder ein, um eine unnütze Streiterei der beiden Alphatierchen im Keim zu ersticken. »Also: Die Stichwunde sieht deswegen so schlimm aus, weil der Mörder ein Messer benutzt hat, das einseitig normal geschärft ist und auf der anderen Seite grobe Sägezacken besitzt! Deswegen muss er es ihr mit aller Kraft in den Rücken gerammt haben. Zudem hat er es ein paar Mal in der Wunde gedreht. Die von der Schneideseite her spitz zulaufende Klinge ist am Schaft 40 Millimeter breit und genau 21,5 Zentimeter lang.«
»Gerade so kurz, dass sie vorne nicht herauskam«, resümierte Frederic.
»Kurz?«, entfuhr es Jussuf Abdalleyah verwundert.
Aber weder Frederic noch Angelika gingen darauf ein. Stattdessen gab sie Frederic recht und fuhr unbeirrt fort: »Ja. Der Stich ging von hinten genau in den linken Lungenflügel. Und zwar so, dass sie nicht gleich tot war.«
Frederic überlegte kurz, dann fragte er, wie groß die Frau gewesen sei.
»1,66 Meter!«
»Sie war also recht klein. Das heißt, dass der Mörder – wenn er größer ist – das Messer mit dem Daumen nach vorne – also eher von unten – hineingestoßen haben könnte. Der Stichkanal würde dafürsprechen, oder?« Weil ihm Angelika durch ein Kopfnicken beigepflichtet hatte, fasste Frederic seine Theorie zusammen: »Wenn er das Messer von oben benutzt hat, hätte er es zu hoch angesetzt. Wir können also davon ausgehen, dass der Mörder mindestens 1,80 Meter groß ist, oder?«
»Du fragst mich etwas?«, wunderte sich Peter Dohmen, nickte aber bestätigend.
Während die beiden erfahrenen Ermittler darüber sprachen, gebot die Rechtsmedizinerin ihrem Assistenten, die Tote wieder auf den Rücken zurückzulegen. Dann zeigte sie auf die Hämatome zwischen den Brüsten der Toten.
»Was haben die blauen Flecken zu bedeuten?«, mochte Frederic wissen.
»Ganz einfach!«, antwortete die Ärztin. »Siehst du nicht, dass das die Form eines Schuhabdrucks ist?« Sie zeichnete mit dem Zeigefinger die nicht besonders gut erkennbaren Konturen nach und erklärte den beiden, dass der Mörder mit dem spitz zulaufenden Schuh mit hohen Hacken – »vielleicht ein Stiefel« – mit seinem rechten Fuß auf der Brust der Toten gestanden hatte, als er dem bedauernswerten Opfer den rechten Arm absägte. »Eine saubere Arbeit!«, bescheinigte die Rechtsmedizinerin dem Mörder und bedeutete Jussuf, sich auf den Boden zu legen, um die Situation nachstellen zu können. »Übrigens: Schuhgröße 45!«
Angesichts dieses Schauspiels musste Frederic trotz der traurigen Sachlage und der bedauernswerten Toten für einen Moment belustigt schmunzeln, blieb aber professionell: »War sie da bereits tot?«
Angelika blähte ihre Wangen und stieß Luft aus, bevor sie antwortete. »Ich glaube nicht. Sie war aber sicherlich bewusstlos von den Folgen des Stiches in ihren Rücken, während ihr der Arm abgetrennt wurde. Ich kann auf jeden Fall schon einmal so viel sagen, dass der Arm mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit demselben Messer abgetrennt wurde, mit dem auch der Stich in die Lunge erfolgte. Haut und Fleisch wurden akkurat aufgeschnitten, bevor der Os humeri fachgerecht zersägt wurde.«
»Also nicht unbedingt post mortem?«, interessierte Frederic, der sich mit der menschlichen Anatomie bemerkenswert gut auskannte.
Angelika nickte bestätigend.
»Dann kann es sich bei dem Mörder nur um einen ganz besonders perversen Triebtäter handeln!«, konstatierte Peter Dohmen.
»Das müsst ihr herausfinden«, antwortete die Ärztin und rief ihren Assistenten erneut zu sich: »Jussuf, holst du bitte die Wäsche?«
Als er die Reizwäsche sah, war Frederic nicht besonders erstaunt. »Ein Slip ouvert mit Tigermuster und ein BH mit Löchern für die Brustwarzen … Netzstrümpfe und Strapse? Deutet auf Prostitution hin, oder sie war auf dem Weg zu einem Rendezvous.«
»Sieht so aus …«, bestätigte Angelika, »… zumal im rechten Strumpf zwei Präservative und insgesamt 300 Euro steckten. Außerdem war sie extrem auffällig geschminkt.«
»Ihre aufreizende Kleidung habe ich schon beim Auffinden der Leiche bemerkt«, rekapitulierte Le Maire und ergänzte, dass er wegen des bei ihr gefundenen Geldes einen Raubmord grundsätzlich ausschließen würde. »Vielleicht ein abnormal veranlagter Kunde, ein Sadist?«, resümierte er, bevor er die Frage stellte, auf die Angelika gewartet hatte. »Geschlechtsverkehr?«
»Ja. Aber mindestens acht Stunden vor ihrem Tod.«
»Mit Präservativ?«
Angelika nickte.
»Dann wird es wohl schwierig, an die DNA ihres mutmaßlichen Mörders zu kommen«, zeigte Frederic sich enttäuscht.
»Geninformationen bekommen wir sicher. Ob diese aber dem Mörder zuzuordnen sind?« Angelika zuckte mit den Schultern, bevor sie zu bedenken gab, dass der letzte Geschlechtsverkehr weit vor dem Mord stattgefunden hatte.
*
Der erfahrene Mordermittler wusste, dass die ersten 48 Stunden nach der Tat die wichtigsten für die Ergreifung von Tätern waren. Aus diesem Grund und wegen des besonders grausamen Falles wollte er schnellstens mit seinen Leuten reden, weswegen er sie gleich am Montagmorgen zusammenrief.
Locki hatte es bereits geahnt und so wartete der mit einer Leinendecke belegte Besprechungstisch bereits mit einer Kanne Kaffee und Croissants auf die Polizisten. Genau das brauchte der Chef, bevor er mit seinem kleinen Mitarbeiterstab die bisher eher dürftigen Erkenntnisse bündelte. Anstatt selbst etwas zu sagen, ließ er Devaux den Vortritt mit ihrer Ortsanalyse.
»Weil es vom Place de la Halle aus direkt in den Friedhof geht, haben die beiden Kollegen aus Clermont den gesamten Platz unter meiner Aufsicht abgesucht. Aber ebenso wie auf dem Friedhof selbst haben wir dort nichts gefunden. Trotz der Dunkelheit haben wir die Suche in der Nacht bis zum Tor unter dem Rathaus und um die Kirche herum ausgedehnt.«
»Und?«, drängte Le Maire in seiner typisch ungeduldigen Art. Er hatte sich irgendwelche Spuren des Phantoms erhofft, das er in der Tatnacht hinter der Kirche in Clermont gesehen und vergeblich gejagt hatte.
Devaux zuckte resignierend mit den Schultern. »Außer den Schleifspuren, die sich auf dem Asphalt außerhalb des Friedhofes verloren haben, war nichts zu finden.«
»Auch keine Fußabdrücke des Flüchtenden?«
»Nein.«
»Und die Fahndung nach ihm?«
»Die wurde auf Ihre Anordnung hin unverzüglich eingeleitet. Aber …«
»Schon klar!«, unterbrach Le Maire verständnisvoll, weil ihm klar war, dass die Fahndung noch keinen Erfolg zeitigen konnte und weiterhin wohl auch nicht würde, weil der Flüchtende längst über alle Berge war. »Dann veranlasse bitte schnellstens, dass mindestens zehn, besser mehr Beamte das gesamte Dorf auf den Kopf stellen.«
Dem Niederländer Louis van Basten war es nach langen Hin und Her gelungen, das Haus am altehrwürdigen Münsterplatz mitten in Aachens Altstadt zu kaufen, in dem vor längerer Zeit mit der »Albrecht-Dürer-Stube« ein Öcher Traditionslokal beherbergt gewesen war. Und weil der Umbau des ehedem beliebten Lokals unweit des Kaiserdoms den Anforderungen des Denkmalamtes unterlag, musste er ständig nervenaufreibende Verhandlungen führen, Kompromisse eingehen … und mehr Geld ausgeben, als er eingeplant hatte. Also war ihm nichts anderes übrig geblieben, als sich schon seit Frühjahr mehr in der nordrhein-westfälischen Kaiserstadt als in seinem niederländischen Heimatort Vaals aufzuhalten. Er musste mit Hand anlegen, wo es nötig war. Aus diesem Grund hatte er sich am frühen Montagabend mit seiner Innenarchitektin verabredet.
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