79Dass diese Prüfung individuell, d. h. auf die einzelne Person bezogen sein muss, hat der Gerichtshof durch die ergänzende Heranziehung des Verbots der Kollektivausweisung 10unterstrichen. Einschränkungen bezüglich des Ausweisungsrechts sind in Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls zur EMRK niedergelegt. Art. 4 verbietet Kollektivausweisungen von Ausländern, mit der Folge, dass in jedem Fall einer Ausweisung eine Prüfung der individuellen Umstände erfolgen muss. Im 7. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention vom 22.11.1984 11sind verfahrensrechtliche Schutzvorschriften in Bezug auf die Ausweisung von Ausländern vorgesehen. Ein Ausländer darf danach nur aufgrund einer rechtmäßig ergangenen Entscheidung ausgewiesen werden. Er muss Gelegenheit haben, seine Gründe gegen die Ausweisung vorzubringen und die Ausweisungsentscheidung durch die zuständige Behörde überprüfen zu lassen 12. Der EGMR wendet diese Bestimmungen im Grundsatz auch auf extraterritoriale Maßnahmen staatlicher Organe an, die außerhalb des eigenen Hoheitsgebiets einen illegalen Grenzübertritt verhindern wollen 13. Dagegen bestehen erhebliche rechtliche Bedenken, im Hinblick auf Wortlaut, Zweck und Entstehungsgeschichte des Verbots von Kollektivabschiebungen. Vieles spricht dafür, Maßnahmen der Grenzkontrolle bzw. zur Verhinderung illegaler Einreise von den durch Art. 4 des 4. Zusatzprotokoll erfassten Maßnahmen einer ohne Rücksicht auf die Umstände des Einzelfalls erfolgenden Aufenthaltsbeendigung einer sich bereits auf dem Staatsgebiet aufhältigen Gruppe von Ausländern zu unterscheiden. Hat ein Staat, wenn auch nur durch faktisches Handeln den Aufenthalt einer Person zugelassen, so kann der einmal tatsächliche förmlich erlaubte oder zumindest geduldete Aufenthalt nur noch durch eine individuelle die Interessen des Ausländers berücksichtigende Entscheidung beendet werden. Der Gerichtshof hat sich mit diesen aus der Entstehungsgeschichte und dem Zweck des Verbots der kollektiven Ausweisung abgeleiteten Erwägungen nicht auseinandergesetzt, mit der Begründung, eine Abgrenzung zwischen einer Ausweisung/Abschiebung einerseits und der Zurückweisung an der Grenze könnte einer willkürlichen Praxis der Vertragsstaaten, sich ihren menschenrechtlichen Pflichten aus dem Refoulement-Verbot zu entziehen, Tür und Tor öffnen 14.
80Auf die beachtlichen rechtlichen Bedenken gegen die Anwendung dieser auf Ausweisungen, d. h. aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegenüber Personen, die bereits eine rechtlich schutzwürdige Position aufgrund ihres Aufenthalts im Aufnahmestaat erlangt hatten, bezogenen Vorschrift auf die völlig anders gelagerte Interessenlage bei Maßnahmen der Grenzsicherung 15ist der Gerichtshof nicht eingegangen. In dem Urteil der Großen Kammer des Gerichtshofs v. 13.2.2020 16hat der EGMR an der grundsätzlichen Anwendbarkeit des in Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte niedergelegten Verbots einer kollektiven Ausweisung auf Maßnahmen der Zurückschiebung an der Grenze gegenüber illegal eingereisten Personen grundsätzlich festgehalten. Das Verbot der Kollektiven Ausweisung ist nach der Mehrheitsmeinung auch auf illegal die Grenze überschreitende Personen, die eine Zulassung begehren, anwendbar, ohne Rücksicht darauf, ob ein Vertragsstaat die illegale Grenzüberschreitung im formalen Sinne als „Einreise“ bewertet oder nicht. Nach Auffassung des Gerichtshofs wird aber gegen das Verbot der Kollektiven Ausweisung in Situationen eines „hot return“ nicht verstoßen, wenn – wie im Konkreten Fall der illegalen Überwindung der Grenzzäune an der Spanischen Enklave in Marokko – Drittstaatsangehörige, die versuchen, mit illegalen Methoden als Gruppe auf spanisches Territorium zu gelangen, ohne legale Möglichkeiten einer Unterbreitung eines Asylgesuchs zu versuchen, unmittelbar ohne individuelles Prüfungsverfahren zurückgeschoben werden. Das Urteil lässt für die Anwendbarkeit des Verbots der Kollektiven Ausweisung auf Maßnahmen der Grenzsicherung viele Fragen der rechtlichen Beurteilung von Maßnahmen der Grenzsicherung und Zurückweisung bzw. Zurückschiebung an der Grenze offen 17.
81Strittig ist auch, was unter dem Begriff der „unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung“, die eine Zurückweisung oder Rückführung ausschließt, zu verstehen ist. Über die einem Staat oder einer staatsähnlichen Organisation zurechenbaren Zufügungen körperlicher oder physischer Schmerzen oder eine Freiheitsentziehung hinausgehend, hat der EGMR auch miserable Lebensbedingungen in extremer Armut und unzureichenden hygienischen Verhältnissen, für die kein staatliches Organ verantwortlich gemacht werden kann, als unmenschlich qualifiziert und damit „Armutsflüchtlinge“ aus Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten oder „failed states“ wie z. B. Somalia, dem Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK unterstellt 18. Aber auch die Lebens- und Unterbringungsbedingungen und unzureichenden Zugangsmöglichkeiten zu einem effektiven Asylverfahren, denen asylsuchende Flüchtlinge in Griechenland zur damaligen Zeit ausgesetzt waren, hat der EGMR als unmenschlich qualifiziert, mit dem Ergebnis, dass die innereuropäischen Zuständigkeitsvorschriften aufgrund der Dublin-Verordnung partiell außer Kraft gesetzt wurden 19.
82Die schwierig zu entscheidende Frage, ob im Falle einer Zurückweisung oder Zurückschiebung die zu erwartenden Lebens- und Unterbringungsbedingungen in alternativen Regionen einer Herkunftsregion oder in Flüchtlingslagern benachbarter Staaten den vom EGMR oder den in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung aufgestellten Standards gerecht werden 20, hat in der gerichtlichen Praxis zu einer Vielzahl langwieriger Verwaltungs- und Gerichtsverfahren und regelmäßig zu einer Verpflichtung geführt, Einreise und vorläufigen Aufenthalt für die Dauer des Verfahrens und damit in den meisten Fällen darüber hinaus zu gewähren. In Deutschland sind daher in zahlreichen Fällen Dublin – Überstellungsgesuche von vornherein nicht gestellt worden und Flüchtlinge gruppenweise oder aus bestimmten Transitstaaten trotz anderweitiger Zuständigkeit von EU-Mitgliedstaaten übernommen worden.
83Das BVerwG hat mit seinem Beschluss v. 25.10.2012 21auf die Grenzen der Rechtsprechung zu vermeintlichen oder wirklichen Abschiebungshindernissen im Hinblick auf unmenschliche Lebensbedingungen hingewiesen. Ausländer können aus der Konvention kein Recht auf Verbleib in einem Konventionsstaat geltend machen, um dort medizinische Hilfe oder andere Hilfe oder Unterstützung zu erhalten 22. Es ist daher auch nicht ausreichend, dass im Falle einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, sofern nicht ein besonderer Fall, wie etwa bei fortgeschrittener AIDS-Erkrankung mit unmittelbar drohender Verschlechterung und Tod vorliegt. Auch die EGMR-Rspr. im Fall M. S. S. 23kann daher nach Auffassung des BVerwG nicht dahin ausgelegt werden, dass Art. 3 EMRK generell soziale Leistungsrechte garantiert, wenn kein ausreichender sozialer Standard im Herkunftsland gesichert ist. Vielmehr beschränkt sich diese Entscheidung, die die Überstellung von Asylsuchenden an Griechenland im Rahmen des Dublin-Systems betrifft, auf die besondere Situation von Asylsuchenden, die in einem ihnen vollständig fremden Umfeld als besonders schutzbedürftige Personen (so der EGMR generalisierend im M.S.S.-Urteil) vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind und behördlicher Untätigkei bzw. Unwilligkeit, eine wenn auch nur elementare Hilfe gegen drohende Verelendung zu gewähren, gegenüberstehen. Das BVerwG sieht sich in seiner Auffassung, dass damit keine generelle Erstreckung dieser Rechtsprechung auf allgemeine Standards im Heimatstaat des Betroffenen einhergeht, durch weitere Urteile des EGMR in den Fällen Sufi und Elmi 24und Nacic 25bestätigt.
Читать дальше