• Die Bedeutung gegenseitiger positiver Verstärkung zwischen Ehepartnern (»reinforcement reciprocity«) betonte Richard Stuart. Er erarbeitete mit den Klienten »Kontingenzverträge«, also Vereinbarungen, die auf der Logik gegenseitigen Austauschs beruhen, etwa in dem Sinn der Frage: »Was geb’ ich dir, was gibst du mir?« (Stuart, 1998).
• Norman Epstein and Donald Baucom führten kognitive Verfahren in die Paartherapie ein. Sie kombinierten Elemente der Verhaltenstherapie mit dem Fokus auf beobachtbares Verhalten und mit kognitivem Vorgehen (CBT), indem sie den Schwerpunkt auf Schemata oder Glaubenssätze legten (Epstein & Baucom, 2002; vgl. auch T. Patterson, 2014).
• Weltweit bekannt wurden die Arbeiten des Paartherapeuten John Gottman. Er sagte die Zufriedenheit und künftige Stabilität einer Paarbeziehung aus dem Verhältnis positiver zu negativer Kommentare der Partner übereinander vorher: Wenn fünfmal so viele positive wie negative Interaktionen erfolgen, bleiben beide mit hoher Wahrscheinlichkeit zusammen. Dagegen kündigen die »apokalyptischen Reiter« hemmungslose Kritik, Abwehr, Rückzug und Verachtung den Zerfall der Beziehung an (Driver, Tabares, Shapiro & Gottman, 2012; Gottman, 2002).
In den USA besteht zwischen verhaltenstherapeutischen und systemtherapeutischen Ansätzen ein viel engerer Austausch als in Europa (Birchler & Spinks, 1980). Behaviorale Techniken werden oft als wirkungsvolle Einzelmaßnahmen in ein systemisches, insbesondere strukturelles und strategisches Gesamtkonzept integriert, etwa in der funktionalen Familientherapie (Alexander, Sexton, Kaslow & Kaslow, 2002), in der »behavioral family systems therapy« (BFST, s. Robin & Foster, 1989) oder in den multisystemischen (Borduin, 2009) und multidimensionalen Familientherapien (Diamond & Liddle, 2010). Das mag damit zu tun haben, dass die Rezeption der Systemtheorie in den USA sich mehr auf die Modelle der Kybernetik erster Ordnung bezieht. Der Fokus auf Erkenntnistheorie ist wohl eine Besonderheit im deutschsprachigen Raum. Es sind wohl weniger der »Methodenkoffer« und die »Störungsorientierung«, die beide Ansätze grundlegend voneinander unterscheiden (hier gibt es durchaus Berührungspunkte, s. Lieb, 2009), sondern die zugrunde liegende Erkenntnistheorie (vgl. Lieb, 2010).
5.3.5 Von der Familientherapie zur systemischen Therapie
Zwischen Ende der 1960er und Mitte der 1980er Jahre erreichte die Familientherapie in den USA ihren Höhepunkt, während sie sich in Europa, Israel und Lateinamerika erst ab Ende der 1970er Jahre ausbreitete. Diese Zeit war geprägt durch großen Veränderungsoptimismus, eine sehr aktive Haltung der Therapeuten, die Entwicklung oft drastischer therapeutischer Interventionen, scharfe Abgrenzung besonders gegenüber der Psychoanalyse und lebhafte Konkurrenz zwischen den einzelnen Ansätzen.
In den späten 1980er Jahren wurde diese direktive, oft auch manipulative Praxis infrage gestellt. Systemische Praxis bewegte sich von der einflussnehmenden Intervention weg hin zu einem »Konversationsansatz« (Boscolo, Cecchin, Hoffman & Penn, 1988): Die Art und Weise, wie in der Familie Sinn verarbeitet wird, soll im Gespräch auf eher sanfte Weise herausgefordert werden. Hierzu passte auch die aufkommende Arbeit mit dem Reflektierenden Team, bei der die grundlegende Forderung lautet, dass die Ratsuchenden jederzeit »Nein« zu der Beschreibung sagen können sollen, die ihnen von Beratern und Teammitgliedern angeboten wird (Andersen, 1990; Hargens & v. Schlippe, 2002)
• Die strukturelle Familientherapie Salvador Minuchins (1921–2017) war in dieser Zeit neben der Tätigkeit von Virginia Satir ausgesprochen populär (beide gingen sich übrigens zeitlebens aus dem Weg). Sein Ansatz ging vom Begriff der Grenze aus, durch die sich die Familie in Subsysteme ausdifferenziert. Er vertrat ein explizit normatives Bild von Familie: Eltern müssen das elterliche Subsystem funktionsfähig und entscheidungsfähig halten und das partnerschaftliche Subsystem deutlich davon und vom Subsystem der Kinder abgrenzen. Jede Familie benötigt eine zu ihren Lebensbedingungen passende »Struktur« und funktionierende Grenzen nach außen und innen. Störungen finden sich, wo Grenzziehungen zu stark (Vernachlässigung) oder zu schwach (Überfürsorglichkeit) sind. Die Therapie zielt darauf ab, angemessene intergenerationale Grenzen in der Familie und eine klare Autorität der Eltern wieder aufzubauen (Minuchin, 1977). Als charmanter und konfrontationsbereiter Südamerikaner inszenierte Minuchin mit einem großen Repertoire überlegter Techniken, spontanen kreativen Ideen und Humor sog. »Enactments«, also unmittelbar im Therapieraum neu zu erprobende Interaktionen. Er war bekannt für seine drastische Metaphern, um Grenzen zu verdeutlichen oder Autorität wiederherzustellen: »Ah, du hast keine eigene Stimme, deine Mutter ist deine Bauchrednerin!« oder: »Wie haben Sie es geschafft, diese Monster zu erschaffen?« (an die Mutter dreier Halbwüchsiger).
• Strategische Familientherapie verbindet sich mit dem Namen Jay Haleys (1923–2007). Auch dieser betonte die Bedeutung klarer Hierarchien für das gesunde Funktionieren sozialer Systeme. Sein Interesse galt »perversen Dreiecken« – Situationen, in denen ein höherstehendes Systemmitglied (z. B. Elternteil) mit einem Mitglied der jeweils niedrigeren Hierarchiestufe (z. B. Kind) gegen ein drittes gleichrangiges Mitglied (den anderen Elternteil) eine offene oder – schlimmer noch – eine verdeckte Koalition bildete (Haley, 1980). In seinem Ansatz wurden kreative, oft ganz einfache Lösungen für vertrackte Probleme gesucht. »180-Grad«-Lösungen etwa sind Vorschläge, die dazu auffordern, etwas zu tun, was das Gegenteil der bisherigen Versuche darstellt. Berühmt wurden auch seine »Ordeals« (Haley, 1989): Einem von einem Symptom geplagten Menschen wird eine »wohlgemeinte Qual« auferlegt, die für ihn zwar nützlich ist (z. B. nachts zwei Stunden zu putzen oder am Stehpult zu lernen), doch aufwändiger, schwieriger und unangenehmer als das Symptom selbst.
• 1975 stellte die Gruppe um Mara Selvini Palazzoli ein aufsehenerregendes Buch über Familien mit schizophrenen und anorektischen Mitgliedern vor, das das »Mailänder Modell« begründete: Paradoxon und Gegenparadoxon (Selvini-Palazzoli, Boscolo, Cecchin & Prata, 1977). Als methodische Neuerung wurden das zirkuläre Fragen und eine besondere Form des paradoxen Intervenierens eingeführt: Im Rahmen einer oft orakelhaften Schlussintervention wurde der Familie eine paradox erscheinende Aufgabe gestellt (etwa, das Symptom derzeit noch nicht aufzugeben, da es in der Familie offenbar eine wichtige Funktion erfülle). Die Familie galt als regelgeleitetes System, Gefühle waren nur von ihrer kommunikativen Funktion her von Interesse: »Die Macht liegt in den Spielregeln« (Selvini Palazzoli et al., 1977, S. 15). Die Familie leidet zwar, weicht aber einer Veränderung aus, um das Spiel nicht zu beenden. Der paradoxe Auftrag: »Ändert uns, ohne uns zu ändern!« wird nun mit dem »Gegenparadoxon« beantwortet: »Wir verändern euch nur unter der Bedingung, dass ihr euch nicht ändert!«. Die Therapie konnte sich als »lange Kurztherapie« über Monate oder Jahre hinstrecken, die Gesamtzahl der Sitzungen jedoch blieb gering, da zwischen den Terminen lange Zeitintervalle lagen. Das Setting war wegweisend für systemische Therapie, weil es das Prinzip des »Beobachtens des Beobachters« umsetzte (
Kap. 36): Ein oder zwei Therapeuten arbeiteten mit der Familie, zwei andere saßen hinter der Einwegscheibe und beobachteten die Sitzung. Die Sitzung wurde durch ein »Hineintelefonieren« oder ein »Herausklopfen« unterbrochen, wenn die Beobachter meinten, dass die Therapeuten etwas Wichtiges übersehen haben oder von der Systemdynamik gefangengenommen worden waren.
Читать дальше