Wir haben somit die Entwicklung der Systemischen Therapie in Deutschland »hautnah« miterlebt. Wir waren angesteckt von der Begeisterung für das, was sich anfangs als »ganz neues Paradigma« zeigte. Wir haben aber auch ihre Begrenzungen erlebt, insbesondere das rivalisierende und zuweilen guruhafte Gehabe vieler Pioniere und ihrer Anhänger (uns selbst natürlich ausgenommen…). Das motivierte uns, innerhalb der Systemischen Therapie und auch zwischen den Therapieschulen nach Gemeinsamkeiten und Kooperationsmöglichkeiten zu suchen, und für ein breites Verständnis systemischer Praxis quer zu Berufsgruppen, Arbeitsfeldern und Institutionstypen zu werben. Dieser Hintergrund prägt unsere hier vorgelegte »Geschichte«.
5.1.2 Das »Ausgangsmaterial«
Wenn man auf die Geschichte der Familientherapie und der daraus entstandenen Systemischen Therapie schaut, sollte man sich bewusst machen, dass sich diese Therapieform in engem Bezug und in Abgrenzung von anderen psychotherapeutischen Konzepten entwickelte. Das »Ausgangsmaterial« ist ja immer gleich: Es geht um die Fragen, wie Menschen ihre Lebenserfahrungen verarbeiten, welche Muster sich dabei herauskristallisieren und wie diese Muster sich so verfestigen können, dass sie leidvoll erlebt werden und manchmal sogar als »Krankheit« imponieren. Diese Verarbeitung kann auf der physischen, der psychischen und der sozialen Ebene stattfinden. Auf jeder dieser Ebenen werden »Geschichten« erzählt 4 , jede Ebene erzeugt Resonanzen auf den anderen. Die Familientherapie und mit ihr die Systemische Therapie hat sich als Psychotherapieform von Anfang an explizit auf die soziale Ebene bezogen, auf den sozialen Kontext fokussiert, dazu theoretische Überlegungen angestellt und Instrumentarien entwickelt.
5.1.3 »Mit einem Bein im Gefängnis«
Für die frühen Pioniere der Familientherapie war es wohl nicht einfach, einzeltherapeutische Settings zu überwinden. »Conjoint family therapy«, also therapeutische Gespräche mit der ganzen Familie, gab es erst ab etwa den frühen 1950er Jahren und wer so arbeitete, wähnte sich nicht selten mit einem Bein im Gefängnis. Es waren prägnante Persönlichkeiten, die die eng gesetzten Grenzen der Regeln ihrer Zunft durchbrachen – Virginia Satir, John Bell, Nathan Ackermann, Don Jackson, Jay Haley, Salvador Minuchin, Carl Whitaker, Harry Goolishian und später Mara Selvini Palazzoli und ihre Mailänder Gruppe sollen hier beispielhaft genannt werden (Hoffman, 2002, S. 21).
In der Begeisterung für die neu entdeckte Dimension der Kommunikation und ihrer Muster wurde die Bedeutung des Individuums unterbewertet. Formulierungen wie: »Bei der systemischen Erkundung gilt die innere Struktur der einzelnen und für sich bestehenden Einheit als irrelevant« (Andolfi, 1982, S. 25) entsprangen wohl einer allzu unkritischen Begeisterung, bisherige Ansätze der Psychotherapie wurden leichtfertig über Bord geworfen. Das neue »Paradigma« schien »alles«, was vorher über Psychotherapie gesagt und gedacht wurde, überflüssig zu machen (s. etwa Guntern, 1980).
5.1.4 Brüche übertrieben?
Vielleicht braucht das Neue immer die Selbsterzählung des »völlig Neuen«, um sich selbst zu ermutigen. Dabei verweisen viele »Rhizome« 5 auf bestehende Denktraditionen. Viele der Pioniere entstammten anerkannten psychotherapeutischen Schulen. Der in Deutschland als die Gründerfigur der Familientherapie geltende Heidelberger Professor Helm Stierlin etwa war selbst Psychoanalytiker und knüpft mit seinen frühen Konzepten in den 1960er und 1970er Jahren (Stierlin, 2001) an das Denken in generationsübergreifenden Dynamiken an: Das offene Familiengespräch über Generationsgrenzen hinweg bietet Chancen für Austausch und Rückmeldung, für eine offene Auseinandersetzung über Vermächtnisse und Versprechen, das Ausräumen von Missverständnissen, den Ausdruck von Bedauern und Chancen der Aussöhnung. In ähnlicher Weise lassen sich auch aus der Humanistischen Psychologie und der Verhaltenstherapie Wurzeln verfolgen, die ihren Niederschlag in der Systemischen Therapie fanden (ausführlich dazu s. v. Schlippe & Schweitzer, 2012, S. 36 ff.;
Kap. 37).
5.1.5 Aber doch auch anders! Unterschiede, die Unterschiede machen
Doch die systemische Therapie setzt in vieler Hinsicht spezifische Akzente. Aus einer konstruktivistischen Sicht folgen Interventionen, die nicht nach dem Wesen »der Dinge« fragen, sondern danach, wie etwas von verschiedenen Perspektiven aus beschrieben wird (v. Schlippe & Schweitzer, 2019). Eine Konzentration auf den jeweiligen Kontext, in dem Klagen und Probleme auftreten, führt zu einer Vorliebe für Mehrpersonensettings. In der Arbeit mit mehreren Personen wird dann im Sinne einer »funktionalen Analyse« danach gefragt, wofür ein Problem möglicherweise gut sein könnte; wie das, was als Problem erlebt wird, als Lösung verstanden werden kann (Nassehi, 2012). Das auf Mehrpersonensysteme gerichtete Instrumentarium ermöglicht es zudem schnell, mögliche Unterstützung durch andere bedeutsame Personen einzuholen (oder Belastungen im System zu verringern).
5.2 Theoriegeschichte
5.2.1 Vorbemerkung
Es verwundert nicht, dass das Wort »systemisch« in dieser Geschichte einen besonderen Platz hat, soll es doch den Ansatz unverwechselbar kennzeichnen. Zugleich ist der Begriff schillernd und schwammig, ein »Chamäleon Wort« (Schneewind, 2019, S. 102). Es passt sich dem Verständnis des jeweiligen Nutzers an und droht dabei, seine begriffliche Schärfe zu verlieren. Eine Google-Abfrage (3.7.2020) nach dem Begriff ergibt über 2.000.000 Fundstellen. Daher soll im Folgenden der Begriff präziser gefasst werden.
5.2.2 Die frühe Systemtheorie
Der Beginn der Systemtheorie wird i.A. in den 1940er Jahren verortet und mit Namen wie Ludwig v. Bertalanffy oder Norbert Wiener verbunden. Es sollte die Zersplitterung des Wissens in unterschiedliche Bereiche aufgehoben und mit der »general systems theory« eine allgemeine Theorie der Komplexität und zirkulären Verfasstheit lebender und nicht-lebender Systeme entwickelt werden. Man meinte, identische Gesetzmäßigkeiten in verschiedenen Wissensgebieten finden zu können, wenn man sich nur auf die Strukturen und deren Funktionen bezieht (Miller, 1978).
Inzwischen hat die Systemtheorie sich in eine Familie sich teils stark überschneidender Theorien ausdifferenziert (v. Schlippe & Schweitzer, 2019). Eine deutlich erkennbare Linie lässt sich zwischen der Kybernetik erster oder der zweiter Ordnung ziehen. Kybernetik erster Ordnung versucht, das regelhafte Zusammenspiel von Strukturen und Funktionen zu beschreiben und so das Funktionieren von Systemen zu erklären. Ein berühmtes Beispiel ist der Thermostat, der im Zimmer die Temperatur konstant hält, weil er in einem Regelkreis mit der Heizung im Keller verbunden ist und Abweichungen von Sollwert dorthin meldet. Analog wurden auch Familien in der frühen Zeit als regelgeleitete Systeme verstanden. Der Begriff »zirkuläre Kausalität« beschreibt, wie Aktivitäten, mit denen Menschen in Kreisläufe eingreifen, auf sie wieder zurückwirken (Hoffman, 2002); wie emotionale und Verhaltensprobleme in den Kontext der Familienbeziehungen »passen«. Symptome wurden funktional für die Aufrechterhaltung der Homöostase gesehen (etwa: Ein auffälliges Kind zieht die Aufmerksamkeit beider Eltern auf sich und verhindert so, dass die Streitigkeiten der Eltern ein bestimmtes Maß überschreiten).
Der damit verbundene Anspruch, Systeme steuern zu können, wurden schon bald in Frage gestellt. Vor allem das Buch Ökologie des Geistes von Gregory Bateson (1904–1980) ebnete den Weg zu einer »Kybernetik zweiter Ordnung«. Zahlreiche noch heute populäre Kernbegriffe führte Bateson explizit in dem Feld ein, etwa den des Geistes, den er aus der Transzendenz in das menschliche Zusammenwirken hineinholte oder den des Musters (»the pattern which connects«), das Menschen über Kommunikation miteinander und mit der Welt verbindet. Bateson suchte eine Sprache zu finden, die Trennung aufhebt und Verbundenheit betont, indem er nicht mehr die Einzelperson zum Ausgangspunkt des Nachdenkens machte: »Was denkt, ist das Gesamtsystem, das sich auf Versuch und Irrtum einlässt, nämlich der Mensch plus die Umgebung« (Bateson, 1981, S. 620). Seine Aussagen über die Folgen, wenn Verbundenheit verkannt wird, sind heute erschreckend aktuell: »Wir wollen nun überlegen, was passiert, wenn man den erkenntnistheoretischen Fehler macht, die falsche Einheit auszuwählen: man gelangt zu dem Ergebnis, Spezies versus die andere Spezies um sich herum oder versus die Umwelt, in der sie wirkt. Mensch gegen Natur. Das Ende ist dann in der Tat, dass die Kaneohe Bay verschmutzt ist, der Eriesee eine schleimige grüne Scheiße, und die Forderung: ›Bauen wir größere Atombomben, um die nächsten Nachbarn auszurotten!‹ … [Es] handelt sich … um erkenntnistheoretischen Schwachsinn und führt unausweichlich zu verschiedenen Arten von Katastrophen« (ebd., S. 621 und 625, Hervorhebung i. Org.).
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