Die Systemtheorie entwickelte sich mehr und mehr zu einer Erkenntnistheorie. Betrachtet wird die Frage, was Menschen alles dazu tun, damit sie die Welt als die wahrnehmen, als die sie ihnen erscheint. Es geht um Prozesshaftigkeit: Die Selbstorganisation lebendiger (physischer, psychischer oder sozialer) Strukturen wird interessant: Eine Zelle ist nicht das »Ding« Zelle, sondern der Prozess, über den sie sich in ihren Bestandteilen immer wieder reproduziert (Maturana, 1982; Maturana & Varela, 1987). Ein psychisches System ist durch die Muster gekennzeichnet, wie psychische Prozesse (Gedanken, Gefühle) aneinander anschließen (Ciompi, 2005). Soziale Systeme bestehen aus Kommunikationsmustern, über die Menschen gemeinsam Sinn und Sinnstrukturen erzeugen, die sich in Erwartungsstrukturen niederschlagen (Luhmann, 1984; Simon, 2007).
Mit diesen Veränderungen begab sich die Systemtheorie auf den Weg zur Kybernetik zweiter Ordnung. Von einer Gegenstandstheorie, einer Theorie über »das Wesen der Dinge«, entwickelte sie sich zu einer Theorie über das Erkennen: Die Welt ist nicht denkbar, ohne Wahrnehmung von Beobachtern miteinzubeziehen.
5.2.3 Moderne Systemtheorien
Diese Überlegungen beschreiben vorwiegend die Diskurse im europäischen bzw. deutschsprachigen Raum; die amerikanische Literatur ist weitgehend den klassischen Formen der Systemtheorie (Whitchurch & Constantine, 2009) treu geblieben. Im deutschsprachigen Raum wurden nun zwei systemtheoretische Ansätze populärer: die aus der Sozialwissenschaft stammende Theorie sozialer Systeme (Luhmann, 1984) und die Theorie dynamischer Systeme, die auf den Physiker Hermann Haken zurückgeht (Kriz, 2017; Strunk & Schiepek, 2006).
Die Theorie sozialer Systeme setzt an dem Gefüge aus Erwartungen und Erwartungs-Erwartungen an, das die Mitglieder eines sozialen Systems ausgebildet haben. Zentral ist die »Kontingenz«, also die Ungewissheit jeglichen sozialen Geschehens: Menschen können nie wissen, was in dem anderen genau vor sich geht. Ein Lächeln muss nicht unbedingt Freundlichkeit bedeuten, es ist »kontingent«, d. h. es könnte auch ganz anders gemeint sein. Da beide Seiten sich dieses Umstands bewusst sind und auch wissen, dass ihr Gegenüber weiß, dass sie es wissen, spricht man von »doppelter« Kontingenz (Luhmann, 1984, S. 148 ff.). Dieses sieht die Systemtheorie als Ausgangspunkt dafür, dass überhaupt Kommunikation entsteht. Man »weiß« eben nicht, auf was man sich beim anderen einstellen kann, daher beobachten beide Seiten einander und versuchen, die kommunikativen Signale des anderen zu entschlüsseln. Und man stellt Hypothesen darüber auf, was er oder sie wohl »wirklich« denkt/fühlt usw. Diese Erwartungsstrukturen beeinflussen das Erleben und Verhalten der Akteure. Wie Laing et al. zeigen konnten, kann sich so zwischenmenschliches Unglück einstellen und verfestigen, wenn – wie im Falle der von ihnen untersuchten Paare – beide Partner zwar klar sagen, dass sie den jeweils anderen lieben, dass sie aber unsicher seien, ob sie vom anderen wirklich geliebt werden (Laing, Philipson & Lee, 1973). Derartige misstrauische Erwartungsstrukturen tendieren natürlich dazu, sich selbst zu bestätigen: wenn eine Partner davon überzeugt ist, dass der andere ihn nicht schätzt, wird er sich so verhalten, dass alles, was an positiven Signalen kommt, verworfen bzw. infrage gestellt wird – und wenn das Gegenüber dann »genervt« reagiert, hat man den »Beweis«: Er hat ja vorher nur so getan als ob.
Eine ganze Reihe systemischer Methoden und Techniken zielt auf diese Erwartungs-Erwartungen, etwa das »zirkuläre Fragen« (Simon & Rech-Simon, 1999;
Kap. 39): Eine Person wird nicht direkt gefragt (etwa: »Warum weinen Sie?«), sondern es wird der kommunikative Aspekt ihres Verhaltens erfragt: »Was glauben Sie, was in Ihrem Sohn vorgeht, wenn er Ihren Mann weinen sieht?« (v. Schlippe & Schweitzer, 2012, S. 252 ff.). Wenn die Mutter hier die Antworten der anderen Personen hört, bekommt sie eine komplexe Rückmeldung über ihre eigenen Erwartungsstrukturen. Ihre intuitiven inneren Bilder davon, wie das Elternpaar von ihrem Sohn beobachtet wird, erfahren möglicherweise eine Korrektur – und nicht nur sie, sondern auch ihr Mann erfährt etwas darüber, wie die Beziehung zwischen ihm und seiner Frau vom Sohn beobachtet wird. Ähnliches gilt für die sogenannte Skulpturarbeit, bei der ein Teilnehmer aufgefordert wird, die Systembeziehungen im Raum symbolisch darzustellen. Auf diese Weise wird eine neue Form von »Selbstreferenzschleife« eingeführt, durch die das ratsuchende System dazu gebracht, sein eigener »Beobachter« zu werden, durch die Rückkopplung kann die Person ihren eigenen Zustand überprüfen und verändern (v. Schlippe & Schweitzer, 2019). Und schließlich gilt das auch für die Arbeit mit dem »Reflektierenden Team«, wo die Klienten dem Gespräch des Teams über das therapeutische Gespräch zuhören und dabei neue Ideen darüber entwickeln können, wie sie von anderen Menschen wahrgenommen werden (s. u.;
Kap. 36)
Die eher naturwissenschaftlich ausgerichtete Theorie komplexer dynamischer Systeme (auch »Synergetik«) fragt ganz allgemein danach, wie eigentlich Ordnung entsteht und zwar in lebenden wie in physikalischen Systemen (Haken entwickelte die Theorie am Beispiel des Laserlichts: Die spontan auftretende rhythmische Veränderung der Lichtwellen unter bestimmten Umgebungsbedingungen ist Musterbeispiel einer solchen selbstorganisierten Ordnung). Übertragen auf Dynamiken in sozialen Systemen werden Ordnungsmuster beobachtet, die sich zwischen den Akteuren entwickeln. Kommunikative Muster entstehen einfach nur, »weil sie entstehen« und sie tendieren dazu »immer wieder gleich« abzulaufen (die sog. »Iteration«), auf einen stabilen Zustand zulaufen, einen »Attraktor«. Die beobachtbaren Verhaltensweisen in einem System werden folglich nicht einer besonderen »Ursache« zugeschrieben. Kriz (2017, S. 181). Die Synergetik fragt, wie sich aus einzelnen Elementen (z. B. einzelnen Interaktionen), die immer wieder gleich ablaufen (Iteration), Muster auf der Makroebene entwickeln (Kommunikationsmuster), die dann ihrerseits wieder die Elemente steuern. In der Theoriesprache heißt es dann: ein »Ordner« ist entstanden, der die Elemente »versklavt«.
Auf Therapie übertragen, bedeutet dies, nicht nach den Ursachen (oder gar »der« Ursache) zu suchen, sondern Wege zu finden, wie die Muster auf eine Weise angeregt werden können, in »kritische Fluktuationen« zu geraten, mit der Chance auf Veränderung, auf »Phasenübergänge«. Dann ist ein System extrem sensibel für kleinste Veränderungsimpulse (»Schmetterlingseffekt«): Kleine Impulse können große Wirkungen zeigen, während in einem stabilen Zustand auch starke Impulse das Muster nicht erschüttern. Damit wird ein herkömmliches Verständnis von Kausalität kritisch gesehen – sei es für das Zustandekommen von Störungen oder für deren Veränderung.
Was macht eigentlich ein soziales (oder auch ein psychisches) System aus? Die deutschsprachige Theoriebildung unterscheidet sich hier sehr von dem Verständnis im angelsächsischen Sprachraum. Dort wird davon ausgegangen, dass ein System, etwa eine Familie, aus Menschen besteht: »Herr und Frau Braun sowie die beiden Kleinen … [werden] als ›Elemente‹ verstanden, die sich beim Zusammenleben wechselseitig beeinflussen und die im Laufe der Zeit wachsen und sich verändern« (Jones, 1995, S. 24). Aus Sicht der in Abschnitt 5.2.3 beschriebenen Systemtheorien ist das eine problematische, theoretisch nicht voll durchdachte Annahme. Schon wenn man sagt, dass etwa eine Familie aus »Mitgliedern« besteht, denkt man nicht mehr abstrakt an »Menschen«, sondern an spezifische Menschen, deren Mitgliedschaft sie berechtigt, zum System dazugezählt zu werden. Nicht jeder »Mensch« ist »Mitglied«. Mitgliedschaft ist nichts Materielles, sondern das Ergebnis sinnhafter Zuschreibungen und der Annahme dieser Zuschreibungen. Dieser Vorgang ist ohne Kommunikation nicht vorstellbar. So ist es konsequent, sich psychische und soziale Systeme nicht materiell vorzustellen, sondern davon auszugehen, »dass soziale Systeme … nicht aus festen Partikeln (ganz zu schweigen von ›Individuen‹) bestehen, sondern nur aus Ereignissen, die, indem sie vorkommen, schon wieder verschwinden« (Luhmann, 2000, S. 152).
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