Statt Systeme als aus Menschen bestehend zu konzeptualisieren, sucht die Theorie sozialer Systeme also nach einem alternativen Verständnis ihrer psychischen wie sozialen »System-Elemente«. Als Elemente des psychischen Systems gelten Gedanken und Gefühle. Psychische Systeme bestehen aus den Mustern, wie ein Gedanke an den anderen anschließt, von »affektlogischen Vorgängen«, bei denen Denken und Fühlen untrennbar verbunden sind (Ciompi, 2005). Soziale Systeme »bestehen« in dieser Theorie aus der Art und Weise, wie eine Kommunikation (als Element) an andere Kommunikationen anschließt und darauf Kommunikationsmuster als »das System« entstehen.
Was ist der Mehrwert einer solchen Theorie? Die Vorstellung, dass Menschen die »Bestandteile« sozialer Systeme seien, kann dazu verleiten, sich das Verhalten von Menschen durch die Unterstellung von Motiven (»Das hat A gemacht, weil er auf B sauer war!«) oder durch Hypothesen über körperliche oder seelische Zustände zu erklären. Durch den neuen Systembegriff konzentriert sich die Therapie auf das zwischen den Menschen – wie auch immer – entstandene Kommunikationssystem, das mehr und etwas anderes ist als die Zusammenstellung der Bewusstseine der einzelnen Akteure.
Kommen wir zum Ende dieses Abschnitts also zu einer Definition des Chamäleon-Wortes »systemisch«:
Als systemisch bezeichnen wir eine Form des Zugangs zu menschlichen Lebenswelten,
• die physische, psychische und soziale Ebenen unterscheidet,
• die dort beobachtbaren Muster als selbstorganisiert ansieht
• und die bei jedem Phänomen jeweils mögliche Kontextbedingungen in den Blick nimmt, um dieses zu verstehen.
Die Differenz der verschiedenen Perspektiven und Beschreibungen bildet den Ausgangspunkt für die Erarbeitung neuer Sinnstrukturen.
5.3 Geschichte der Praxiskonzepte
5.3.1 Vorbemerkung
Anfang der 1950er Jahre gab es an ganz verschiedenen Orten der Welt erste Ansätze, das bis dahin vertraute Feld der Einzel- oder Gruppenpsychotherapie zu verlassen und mit Paaren und ganzen Familien zu arbeiten. Die Familientherapie entstand und verbreitete sich als ein weitmaschig vernetztes Feld von Personen, Orten und Institutionen, die sich wechselseitig anregten, beeinflussten und oft miteinander konkurrierten. Der Schritt Von der Familientherapie zur systemischen Perspektive (Reiter, Brunner, & Reiter-Theil, 1997, die erste Auflage erschien 1988) markierte dann in den 1980er Jahren den Anspruch, mehr als ein spezielles Therapiesetting zu bieten, sondern eine »angewandte Erkenntnistheorie« therapeutischen Handelns (Levold, 2003). Damit steht auch nicht mehr die Familie als selbstverständliche Einheit im Blick. Eine besondere Rolle weltweit spielte das 1959 von Don Jackson in Palo Alto gegründete »Mental Research Institute«, an dem u. a. Jules Riskin, Virginia Satir, Jay Haley, Paul Watzlawick, John Weakland, Richard Fisch und Carlos Sluzki tätig waren. Zwei Bücher sind hier besonders einflussreich geworden: Das Buch Menschliche Kommunikation (Watzlawick, Beavin, & Jackson, 1969) lässt viele Absonderlichkeiten menschlichen Verhaltens aus den pragmatischen Regeln menschlicher Kommunikation verstehbar werden. Der Therapieansatz dazu wurde im Buch Lösungen (Watzlawick, Weakland, & Fisch, 1974) beschrieben. Kern der Überlegungen ist, dass Probleme, die Menschen zu Psychotherapeuten führen, durch kontinuierliches Verhalten der Klienten im Hier und Jetzt in Interaktion mit anderen aktiv aufrechterhalten werden. Wenn die das Problem aufrechterhaltenden Verhaltensweisen unterbrochen, verändert oder beendet werden, wird auch das Problem gelöst.
5.3.2 Mehrgenerationen- Familientherapie
Der Mehrgenerationenansatz in der Familientherapie ist im psychoanalytischen Denken verwurzelt. Unsichtbare Bindungen und Aufträge, die über die Generationen hinweg weitergegeben wurden, sollen bewusst gemacht und bearbeitet werden. Eine der Gründerfiguren war Ivan Boszormenyi-Nagy (1920–2007). Kern seiner Theorie ist der Blick auf die »Beziehungskonten«, die in Familien geführt und von den Mitgliedern untereinander »verrechnet« werden (Boszormenyi-Nagy & Spark, 1981; Stierlin, 1997, 2005). Wenn langfristig ein »Konten- und Gerechtigkeitsausgleich« versagt bleibt, wenn die Balance von Geben und Nehmen verlorengeht, dann steht die Stabilität von Beziehungen auf dem Spiel. Psychische Störungen werden als Teil von Auseinandersetzungen um Beziehungsgerechtigkeit gesehen.
Die frühen Gründerpersönlichkeiten waren oft mit schweren psychischen Störungen konfrontiert, deren Rätsel sie zu entschlüsseln versuchten. Insbesondere erschienen die schwer einfühlbaren Symptome schizophrener Patienten in ganz anderem Licht, wenn sie in größeren Zusammenhängen gesehen wurden. Beispielhaft sollen hier die Konzepte einiger Pioniere erwähnt werden.
• Murray Bowen (1913–1990) ging davon aus, dass chronische Ängstlichkeit von Einzelnen und in Familien eine Gemengelage von »emotionaler Fusion« und geringer »Differenzierung des Selbst« fördert. Zur Bewältigung ihrer Angst ziehen zwei Menschen oft einen Dritten in ihre angstgeprägte Beziehung mit hinein (sie »triangulieren« ihn), was längerfristig Problemlösungen erschwert. Schizophrenen Symptomen liegt nach Bowen ein mehrgenerationaler Prozess schwacher Selbstdifferenzierung und emotionaler Fusion zu Grunde (Groß, 2012). In der Therapie lernen die Familienmitglieder, »engagiert, aber nüchtern« auf die Fusions- und Differenzierungsprozesse in ihren Beziehungen zu blicken und sich diesen Familienprozessen gut dosiert auszusetzen, ohne sich wieder »triangulieren« zu lassen.
• Theodore Lidz (1910–2001) beschrieb Zusammenhänge zwischen ehelichen Konflikten (eheliche Strukturverschiebung, »marital skew«, sowie Ehespaltung, »marital split«) und den als schizophren diagnostizierten Kindern, die in Loyalitätskonflikten gefangen waren.
• Lyman Wynne (1923–2007) benutzte die Begriffe »Pseudogegenseitigkeit« und »Pseudofeindschaft« als metaphorische Beschreibungen fassadenhafter Kommunikation. Der »Gummizaun« ist eine unsichtbare Barriere, die Familienmitglieder am erfolgreichen Kontakt mit der Außenwelt hindert.
• Wie die vorgenannten Pioniere kam auch der Gründervater deutschsprachiger Familientherapie Helm Stierlin (*1926) von der Psychoanalyse her. Er schließt mit dem »Delegationskonzept« an den Ansatz von Boszormenyi-Nagy an. Für ihn sind die Beziehungsmodi »Bindung« und »Ausstoßung« bedeutsam, durch die die Familie die Balance zwischen Bezogenheit und Individuation finden muss. Bei zu starkem Bindungsmodus wird es für die Familienmitglieder schwer, sich als abgegrenzte und eigenständige Persönlichkeit zu erleben. Zu starke Individuation kann mit Ausstoßung, Isolation und einem fehlenden Zugang zur inneren Welt des jeweils anderen einhergehen. Zwischen diesen ungesunden Extremen liegt die »bezogene Individuation« (Stierlin, 1989, 2001). Delegationen sind über Generationen hinweg fortbestehende elterliche Aufträge, die entgleisen können, wenn sie nicht mit den Fähigkeiten oder Bedürfnissen des Delegierten zusammenpassen.
• Die Bücher des Psychoanalytikers Horst Eberhard Richter (1923–2011) Eltern, Kind und Neurose und Patient Familie wurden in Deutschland in den 1960er und 1970er Jahren stark diskutiert. Sie verstanden kindliche Fehlentwicklungen als symptomatischen Ausdruck unbewusster Konflikte bzw. »narzisstischer Projektionen« der Eltern auf das Kind (Richter, 1963, 1972). Betroffen ist die ganze Familie und das Kind ist nur Indikator des Familienkonfliktes – eine damals durchaus revolutionäre Sicht für eine psychoanalytische Behandlungsmethode.
• Der Göttinger Psychoanalytiker Eckhard Sperling (1925–2007) entwickelte mit Almuth Massing und Günter Reich eine Praxis dreigenerationaler Familientherapie, in der neben Familien- und Paarsitzungen in der Mitte des Therapieverlaufes auch Sitzungen der Eltern mit ihren jeweiligen Eltern stattfinden, um früher Unausgesprochenes thematisieren zu können, Konfliktaustragung und Versöhnung nachträglich zu ermöglichen, der Großelterngeneration mehr »Seelenruhe«, der mittleren Generation mehr erlebte Autonomie zu verschaffen (Reich, Massing & Cierpka, 2007).
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