Sie hasste ihn seit Samstag noch mehr. Er hatte sie dazu gebracht, Fiona zu verstoßen, was dazu geführt hatte, dass sie sich den Schwarzmagiern angeschlossen hatte. Nur wegen ihm war Fiona so isoliert gewesen, dass sie darin den einzigen Ausweg gesehen hatte. Er hatte sie der Familie entfremdet.
Plötzlich fiel es Zoe wie Schuppen von den Augen. Sie selbst war nur ein Mittel zum Zweck gewesen. Das eigentliche Interesse galt nicht ihr, sondern einzig und allein Fiona. Es waren sicher die Schwarzmagier, die so Fionas Wurzeln hatten kappen wollen. Wieso war ihr das nicht eher klar geworden? Jetzt, wo sie wusste, wozu sich Fiona entwickelt hatte, ergab endlich alles Sinn. Warum hatte sie nur auf die Befehle ihres Erpressers gehört? Sie hätte alles verhindern können!
Sie wollte den Erpresser mit ihrem Verdacht konfrontieren und tippte deshalb:
Hallo, ich habe jetzt eine Frage und will, dass du sie ehrlich beantwortest. Hör mit dem Sarkasmus auf, denn wenn du das bist, was ich denke, geht es dir nicht darum, mich zu demütigen und zu beleidigen. Du hast dein Ziel längst erreicht. Also sei endlich ehrlich zu mir. Bist du ein Schwarzmagier und hast mich instrumentalisiert, damit ich Fiona verrate?
Zoe starrte in der Zeit des Wartens auf die leere Bettseite neben sich. Sie vermisste Thomas. Durch den Erpresser genoss sie in der Familie noch weniger Ansehen. Sie war einsam und verzweifelt. Doch sie hatte Hoffnung, dass der Spuk mit der Erpressung nun ein Ende haben würde. Die Antwort, die sie wenig später erhielt, machte diese jedoch zunichte:
Hey Zoe,
wollte ich, dass Fiona eine Schwarzmagierin wird? Ja! Habe ich dieses Ziel erreicht? Ja! Erfüllt es mich mit Glück? Ebenfalls ja! Bin ich mit dir fertig? Auf keinen Fall!
Wir haben noch viel vor, Süße! Der Weg ist lang und steinig, aber wir werden Spaß haben, ich zumindest.
Mit der Nachricht hatte er nichts verraten. Sie wusste nicht, ob es sich um einen Schwarzmagier handelte. Das Einzige, was sie sagen konnte, war, dass sie es noch nicht überstanden hatte. Er würde sie nicht in Ruhe lassen.
Kapitel 3
Romeo und Julia
Es war mittlerweile eine Woche her, seitdem Fiona verschwunden war und Violetts biologische Familie sie gegen ihren Willen aus dem Haus der Bernauers, die sie als ihre eigentliche Familie betrachtete, verschleppt hatte.
Dennoch ging es Violett nicht besser. Sie konnte sich einfach nicht damit abfinden, dass ihr großer Bruder erneut die volle Kontrolle über sie hatte. Natürlich hatte sie das Training wieder aufnehmen müssen, obwohl sie täglich betonte, dass sie im Falle eines Krieges sowieso auf der anderen Seite stehen würde. Dafür hatte sie eine Reihe wüster Beschimpfungen von ihrem Bruder kassiert, aber sonst hatte sich nichts verändert. Sie musste auf dem Laufband rennen, Sit-ups, Liegestütze und Klimmzüge machen und natürlich Niklas Lieblingsdisziplin absolvieren: Schießübungen.
Violett spürte, dass sie vollkommen außer Form war. Auch dass sie ein halbes Jahr keine Waffe in der Hand gehalten hatte, machte sich bemerkbar. Sie traf kaum. Ihr Bruder ließ sie so lange schießen, bis sie einen Kopfschuss landete. Das war um drei Uhr nachts.
Vollkommen übermüdet fiel sie ins Bett. Schlafen konnte sie jedoch nur kurz, da drei Stunden später bereits ihr Wecker unnachgiebig klingelte. Sie quälte sich hoch und machte sich für die Schule fertig. Es war alles wie früher. Niklas fuhr sie zur Schule und holte sie auch wieder ab. Es fühlte sich ein bisschen wie ein Gefangenentransport an.
»Halt dich von diesen Monstern fern!«, forderte ihr Bruder, als sie aus seinem Wagen stieg.
Sie hatte sich gestern Schreckliches anhören müssen, da zu ihren Eltern gedrungen war, dass sie sich in der Schule nicht von Liam getrennt hatte, sondern die Beziehung ganz offen weiterführte. Sie wusste nicht, wer diese Information an ihre Familie herangetragen hatte, aber es konnte jeder sein. Die Kleinstadt hatte sich in zwei Lager gespalten. Einige standen hinter den Bernauers, doch viele vertraten die Ansicht der Kramers, dass Hexen verabscheuungswürdige, unnatürliche Kreaturen waren.
Violett betrat das Schulhaus. Die Leute starrten sie an. So recht schien niemand auf ihrer Seite zu stehen. Manche beschimpften sie als Hexenjägerin, andere nannten sie eine Verräterin an ihrer Familie. Doch die meisten ignorierten sie, da sie wohl nicht wussten, wie sie mit ihr umgehen sollten.
Wie jeden Tag wartete Liam vor ihrem Klassenraum. Sie fielen sich in die Arme. Sie konnten nur in der Schule miteinander reden, da Violetts Eltern ihr Handy eingezogen hatten. Sie glaubten, so könnten sie den Kontakt zwischen den beiden unterbinden.
»Wie geht es dir? Du siehst müde aus.« Liam betrachtete sie besorgt.
»Mein Bruder hat mich erst schlafen lassen, als ich gut genug geschossen habe. Ich habe zu viel verlernt«, berichtete sie, gähnte demonstrativ und ergriff seine Hand. Es fühlte sich unfassbar gut an, sich an ihm festhalten zu können.
»Ich hasse diesen Arsch. Warum kannst du nicht einfach wieder zurück zu uns kommen?«, beschwerte Liam sich.
Violett verzog das Gesicht. Entweder war er schrecklich naiv oder es handelte sich nur um eine rhetorische Frage. Dennoch entgegnete sie: »Weil meine Familie dumm genug wäre, euch den Krieg zu erklären. Ich weiß, dass ihr gute Chancen gegen die vier hättet, aber mein Vater hat zahlreiche Cousinen und Cousins. Außerdem erwähnte meine Mutter gestern irgendeine Tante, die ich zwar nicht kenne, aber ich zitiere: Sie würde das ganze verdammte Anwesen dem Erdboden gleichmachen und sich Sigmars Kopf als Trophäe in die Vitrine stellen. Frag nicht! Ich verstehe es auch nicht. Das wäre ein blutiger Kampf. Wir sind nicht Romeo und Julia. Ich will nicht, dass wegen unserer Beziehung Menschen sterben.«
Liam nickte traurig. »Ich weiß nicht, was deine Eltern so schlimm an uns finden. Was ist an Hexen auszusetzen? Ich würde es ja verstehen, wenn wir wie Fiona und ihre neuen Freunde wären, aber wir töten doch niemanden. Wir nutzen unsere Magie ausschließlich für Gutes. Wieso können sie das nicht akzeptieren?«
»Weil ihr Weltbild im sechzehnten Jahrhundert stehen geblieben ist. Hast du eigentlich mal wieder etwas von Fiona gehört?«, fragte Violett. Sie war neugierig. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass dieses nette Mädchen sich einfach so einer Gruppe von Serienmördern angeschlossen hatte, ohne an ihre Familie zu denken.
Liam schüttelte den Kopf und wirkte fast etwas traurig. »Ich verstehe nicht, wie das geschehen konnte. Zu Hause gibt es immer wieder Streit, wer schuld ist und wer es hätte sehen müssen. Logan hat mir sogar erzählt, dass sie einen Trank an ihm ausprobiert hat. Ich habe von all dem nichts bemerkt. Wieso bin ich da scheinbar der Einzige?«
Violett lächelte halbherzig. »Du warst wahrscheinlich zu sehr mit mir beschäftigt, aber was hätte es geändert, wenn du es gewusst hättest?«
»Ich hätte es verhindern können«, stellte Liam klar und seine Augen leuchteten voller Tatendrang. Er sprühte vor Motivation und falscher Hoffnung.
Violett lachte bitter auf: »Du glaubst, du hättest das getan? Sei bitte ehrlich zu dir. Was hättest du gemacht, wenn du so ein Buch bei ihr gefunden hättest? Hättest du sie bei Aurora verpetzt?«
»Ja!«, beteuerte Liam, doch von Violetts zweifelnden Blicken durchbohrt gab er zu: »Vermutlich nicht!«
Violett lächelte sanft. »Eure Familie muss endlich aufhören, die Schuld hin und her zu schieben. Ihr könnt nichts dafür! Es ist normal, manchmal die Augen zu verschließen, anstatt bei jeder falschen Handlung sofort das Schlimmste vom Gegenüber zu erwarten. Das ist Selbstschutz!«
»Erzähl das mal Zoe, der blöden Ziege!«, beschwerte sich Liam beinahe etwas trotzig.
Violett drückte seine Hand tröstend. »Sie macht ebenfalls eine schwere Zeit durch. Zeig etwas Nachsicht. Sie und Fiona waren wirklich gute Freundinnen. Sie kann es sicher einfach nicht ertragen!«
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