»Wie läuft es eigentlich mit Dr. Prizrak?«, holte sie wie zur Strafe aus und Rubi senkte den Blick. Sie war blindlings in den nächsten Eifer geschlittert, sie hätte es ahnen müssen, und log: »Gut.«
»Gut? Ist das alles?«, frage Raffa enttäuscht.
»Ja«, verabschiedete sich die kleine Schwester endgültig in die Introvertiertheit.
Thilo hatte sich wieder zusammengerissen und eine fröhliche Miene aufgesetzt und kam mit einem knallbunten Dessert zurück an den Tisch getrippelt.
» Organic rawbowl , mit Antioxidanten und Protein, Gojibeeren und einem Hauch Rohrzucker aus Brasilien«, pries er seine Kreation an, »natürlich alles bio«, zwinkerte er und verteilte die Schalen. Dann stellte er sich hinter Raffaela, massierte ihre Schultern und schaute geschwollen in die Runde. Zu seiner eigenen, abschließenden Beglückwünschung wippte sein Kopf vor und zurück. Raffa tätschelte seine Hand.
»Mein Mann!«, zelebrierte die Gattin mit überquellendem Herzen, dass sie sich gegenseitig besaßen: »Ach, was du uns wieder Gutes tust! Nicht wahr, Rubi?«
Von ihrem Platz aus konnte Rubi die Haustüre am Ende des Flurs sehen; gerade schien sie unendlich weit weg.
Sie hatte es nicht erwarten können, nach Hause zu kommen. Der Likör, den es zum Nachtisch gegeben hatte, stieß ihr auf, als sie die Treppen hochrannte. Sie sperrte auf und warf erleichtert ihre Sachen in die Ecke.
Beschwingt machte sie sich ans Werk und bereitete ihr Pult vor. Der Kegel ihrer Tischlampe erhellte ihre Miniaturwerkstatt. Sie kleisterte ein passendes Stück Papier auf den kassettengroßen Styroporblock und steckte die Nadeln, nach Größe sortiert, am Rand auf. Daneben stellte sie die Heißklebepistole, Modelliermasse, die Lackfläschchen und Pinsel. Sie klappte das Ledermäppchen mit ihrem Präparationsbesteck auf, alles war bereit.
Sie stand auf und holte den Käfer aus seinem frostklirrenden Grab zwischen den Erbsen. Vorsichtig ließ sie ihren Blick über ihn schweifen, als könnte schon das zu viel sein für den ungelenken Knirps. Er war tatsächlich ein bisschen unterdimensioniert, aber es würde schon gehen. Zurück am Tisch nahm sie eine der längeren Nadeln zur Hand, stach durch den kleinen Körper und fixierte ihn über dem Styropor schwebend. Sie würde warten, bis er etwas abgetaut war, bevor sie die Beine und Fühler ausrichtete, damit nichts abbrach. Mit weit gespreizten Gliedmaßen würde er beeindruckender aussehen.
Bis dahin konnte sie sich um den Panzer kümmern und studierte dazu die Schautafel im Buch. Mit dem feinen Pinsel trug sie vorsichtig den schwarzen Lack auf den Mantel des Käfers auf, bedacht, dass nichts die Gelenke verkleben würde. Mit der nächsten Farblage musste sie warten, bis er trocken war und eventuell noch das Pygidium nachmodellieren. Als nächstes widmete sie sich den Fühlern. Mit einer Pinzette riss sie den linken aus. Sie musste ihn kürzen und verdicken, damit er richtig aussah.
Sie setzte an, den zweiten Fühler auszurupfen, doch da bewegte sich ebendieser. Rubi hielt den Atem an. Sie war sich sicher, dass sie sich geirrt haben musste und starrte verzagt auf ihr Model hinab. Nichts rührte sich. Sie belächelte sich und hielt den Kunststoffblock dann dicht vor ihre Nase, um genau sehen zu können, wo die Antenne sich lösen würde. Sie drehte die Montage im Licht und plötzlich fingen die strammen, schwarzen Beinchen an in der Luft zu krabbeln.
Vor lauter Entsetzen schleuderte Rubi ihre Schöpfung in die Ecke und die frische Farbe hinterließ einen Fleck auf der Tapete, wo der kostümierte Käfer abgeprallt war. Der Schreck machte sie noch sauer dazu. Sie war zu ungeduldig gewesen, sie hätte ihn länger im Tiefkühlfach lassen müssen, dachte sie zornig; fassungslos, dass er lebendig war und nicht das, was sie wollte.
Der große braune Ledersessel stand dem Fenster hin zugewandt und sie stierte in den hergerichteten Garten. Dr. Prizrak saß ihr auf einem einfachen Stuhl gegenüber, faltete die Hände über seinem Notizblock und wartete geduldig wie die Dämmerung. Durch seine Ohren leuchtete rot die verlegene Sonne und in den Stoppeln seiner getrimmten Halbglatze hing eine Fluse.
Rubi wollte ihn nicht anschauen, davon überzeugt, er würde dann schon nicht merken, dass sie da war. Nach einer Weile räusperte er sich und brach das Schweigen: »Sie sagten, es war eine dumme Idee, dass ihre Schwester Sie zu dieser Therapie überredet hat.« (Nach der dritten Sitzung hatte er ihr das Du angeboten, das sie nachdrücklich abgelehnt hatte. Sie wollte seine Wertschätzung nicht und hielt ihn lieber auf der anderen Seite der Formalie.)
»Gezwungen, nicht überredet«, korrigierte Rubi und zog die Beine an.
Dr. Prizrak überging ihren Einwand und fuhr gelassen fort: »Sehen Sie das immer noch so?«
Sie antwortete nicht, er klappte sein Büchlein auf, machte eine längere Notiz und sie gaffte weiter nach draußen. Dann schnaubte sie, drehte sich ein kleines Stück weiter zu dem Therapeuten und maulte: »Und? Was haben Sie jetzt da reingeschrieben?«
Dr. Prizrak legte den Kopf leicht zur Seite, als erwartete er, dass gleich etwas an ihm vorbeifliegen würde. Sein Antlitz blieb Rubi weiter durch das Gegenlicht verborgen und sie kaute auf ihrer Unterlippe. Er strich mit seiner Hand über die Seite und las ihr mit ruhiger Stimme vor: »Patientin negiert ihr Entwicklungspotenzial.«
»Was soll das heißen?«
»Das heißt erst mal gar nichts. Es bedeutet nur, dass Sie ihre Denkmuster nicht mit mir besprechen wollen. Das ist nichts Schlimmes.«
»Aha«, sagte Rubi und verstand kein Wort. Ihrer Meinung nach waren ihre Denkmuster in einem fabelhaften Zustand. Vielmehr störte sie ihr Instinktdefizit; dass sie immerzu herausfinden sollte, was zu tun war.
Und gleichwohl sie das gar nicht wollte, stolperte sie fast über eine der größten Fragen des Anthropozäns – darüber was genau dieser Anthropode nun eben sei –, die sich ihr quer in den Weg gelegt hatte, wie ein loser Pflasterstein. Sie wand sich darum und bemühte sich, die elende Frage nicht zu fokussieren und stammelte alternativ vor sich hin: »Wollen Sie mir sagen, ich brauche solche Denkmuster?«
»Sie haben Denkmuster«, attestierte Dr. Prizrak versöhnlich, »wir alle haben sie.«
Und schon durchzog sie wieder das Gefühl unlösbarer Materie.
»Und wofür sind die bitteschön gut?«, fragte sie trotzig und äffte: »Fehlgeleitete Willenshandlungen?«
Der Medicus klappte sein Buch zu und schlug die Beine in die andere Richtung übereinander. Er war in einer fließenden Lauerstellung: »Glauben Sie, dass das Ihr Problem ist?«
»Nein.«
Rubi dachte, dass ihr Willenshandlungen jedweder Art fehlten. Damit war sie wie ein Tier, nur gemeinerweise ohne die angeborene Weisheit. Der Therapeut nickte verständnisvoll und klappte das Buch wieder auf. Auf der Wiese flatterte ein Admiral vorbei und grämte sich wohl über die gemähte Monokultur. Sie schwiegen wieder für ein Weile. Mit einem tiefen Atemzug richtete der graue Mann seinen Oberkörper auf und probierte es weiter.
»Haben Sie diese Woche etwas auf Ihre Liste geschrieben?«, fragte er fromm.
Rubi zog die zerknitterte Liste aus ihrer Gesäßtasche und hielt sie ihm hin. Mit einem linden Lächeln nahm er sie entgegen und studierte den kurzen Text eingehend. Er sagte jetzt nichts mehr. Rubi schob ihren Hintern von links nach rechts und hatte vergessen, wie man bequem saß. Nach ein paar Minuten hielt sie es nicht mehr aus.
»Ich habe einen Käfer aus dem Museum getötet«, beichtete sie, um überhaupt was zu sagen und die Sitzung wenigstens mit Gefasel befeuern zu können.
»Warum haben Sie das getan?«, fragte er, ohne eine Tonlage der Wertung anzustimmen.
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