Für Henri und Charlotte
In Memoriam
Heidemarie Straube
Pia-Lotta
Elissa Grossa
Published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.deCopyright: © 2012 Elissa Grossa ISBN: 978-3-8442-4530-1
Ein warmer Sonnenstrahl fiel durch den schmalen Spalt der Fensterläden in das große Zimmer und kitzelte Pia-Lottas Nasenspitze. Langsam drehte das kleine Mädchen in dem riesigen Himmelbett mit den rosafarbenen Vorhängen, den geblümten Kissen und Decken ihren blonden Kopf zur Seite und kräuselte die Nase. Sie rieb sich verschlafen die Augen und richtete sich langsam auf. Ihre verwuschelten Haare standen zu allen Seiten ab.
Hm, die Sonne scheint, dachte Pia-Lotta, während sie sich noch einmal räkelte. Es würde bestimmt ein herrlicher Tag werden.
Pia-Lotta verbrachte wie jeden Sommer auch in diesem Jahr ihre Ferien auf dem Lande bei ihren Großeltern. Es war ein ganz altes Haus in dem ihre Großeltern seit vielen Jahren lebten. Pia-Lottas Großmutter war schon hier geboren und später, nachdem sie und der Großvater geheiratet hatten, sind sie hier wohnen geblieben. Auch Pia-Lottas Mutter und ihre Geschwister sind hier geboren worden. Aber vor einigen Jahren sind Pia-Lottas Eltern in eine große Stadt gezogen, wo sie in einer kleinen Wohnung leben. Aber Pia-Lotta verbrachte ihre gesamten Ferien bei ihren Großeltern auf dem Lande in dem schönen, großen und alten Haus.
Leises Vogelgezwitscher und Taubengurren erreichten die Ohren des kleinen Mädchens.
Pia-Lotta sprang aus ihrem Bett, lief zum Fenster und stieß die Fensterläden mit einem lauten Krachen weit auf. Einige Tauben, die vor dem Fenster saßen, flatterten erschrocken auf.
Während Pia-Lotta auf den davor liegenden Balkon trat und sich umsah, wurde das Zimmer mit hellem Sonnenlicht durchflutet.
Ein leichter Sommerwind wehte und fuhr unter Pia-Lottas Nachthemdchen. Sie streckte sich nach allen Seiten und atmete die frische Sommerluft tief ein. Ein herrlicher Morgen, dachte Pia-Lotta.
Zu dem großen Haus gehört auch ein großer Garten mit vielen großen und ebenso alten Bäumen. Pia-Lotta kletterte gerne auf diese Bäume und naschte von den vielen Früchten, den Äpfeln, Birnen, Kirschen und Pflaumen. Es war eine herrliche Pracht, wenn die Bäume im Frühjahr zu blühen begannen. Pia-Lottas Großvater hatte ihr im letzten Sommer auf einem dieser Bäume ein Baumhaus gebaut, in das sie mit einer Strickleiter klettern konnte.
Plötzlich hörte Pia-Lotta ein leises Gepiepse und Geschnatter. Es kam von weit her. Vielleicht von dem See, der ganz in der Nähe des Hauses von Pia-Lottas Großeltern war.
`Was ist das nur?´, wollte Pia-Lotta allzu gerne wissen.
Es klopfte an der Tür. Pia-Lottas Großmutter, eine schmale, ältere Dame, öffnete die Tür und steckte ihren Kopf in das Zimmer. Sie hatte ihre weißen Haare zu einem Knoten aufgesteckt und trug eine Kittelschürze.
„Guten Morgen, Pia-Lotta, das Frühstück ist fertig. Kommst du mit in den Garten?“ fragte sie das kleine Mädchen am Fenster.
„Omi, Omi!“ rief Pia-Lotta aufgeregt. „Hast du das Geschnatter da draußen gehört?“
„Kind, du bist ja ganz aufgeregt“, antwortete ihr die Großmutter.
„Was ist das? Woher kommt das? Darf ich gleich hinauslaufen und nachschauen?“
Nun musste Pia-Lottas Großmutter den kleinen Wirbelwind bremsen.
„Du wirst dich erst waschen und anziehen. Und dann zum Frühstücken in den Garten kommen. Opa wartet schon.“
In großer Eile lief Pia-Lotta ins Badezimmer, während ihre Großmutter ihr das geblümte Sommerkleid herauslegte. `Omi ist ja schon manchmal etwas streng´, dachte sich Pia-Lotta grinsend, während sie sich die Zähne putzte.
Wenige Minuten später war Pia-Lotta fertig angezogen im Garten und begrüßte fröhlich ihren Großvater.
„Aber Pia-Lotta, du hast Dir ja noch gar nicht die Haare gekämmt. Geh, lauf zur Oma in die Küche. Sie wird Dir die Haare flechten“, sagte der Großvater lachend zu Pia-Lotta.
Mittlerweile war Pia-Lotta auf den Schoß ihres Großvaters geklettert und hatte ihre Arme um seinen Hals geschlungen.
„Opa!“, sagte sie mit beschwörender Stimme zu ihrem Großvater. „Hast du auch schon das Geschnatter gehört? Es war so laut, dass ich davon aufgewacht bin. Können wir gleich nach dem Frühstück nachsehen, was da so schnattert und piepst?“
„Jetzt gehst du erst mal und lässt dich von der Oma hübsch machen! Sonst fürchten sich die kleinen Entchen, weil sie dich für das neue Teichgespenst halten“, sagte der Großvater lachend und schob das kleine Mädchen sanft von seinem Schoß.
„Entchen, Entchen! Woher weißt Du, dass es Entchen sind?“ wollte Pia-Lotta von ihrem Großvater wissen und versuchte wieder auf den Schoß zu klettern.
„Das werde ich Dir beim Frühstück erzählen“, sagte der Großvater und schickte Pia-Lotta zu ihrer Großmutter in die Küche.
Als Pia-Lotta einige Zeit später mit ihren Großeltern und zwei geflochtenen Zöpfen beim Frühstücken im großen Garten sitzt, lässt sie nicht locker, von ihrem Großvater die Geschichte mit den Entchen zu hören.
„Ich habe heute morgen Lukas, den alten Schuhmacher, beim Bäcker getroffen“, erzählte der Großvater, während er sich Erdbeermarmelade auf sein Brötchen schmierte. Lukas lebt in einem kleinen urgemütlichen Häuschen am See. Pia-Lotta besuchte ihn manchmal, wenn sie Schuhe für ihre Großeltern zum Reparieren zu ihm brachte.
„Er hat mir erzählt, dass heute ganz früh sechs Entchen geschlüpft sind. Wenn du möchtest, können wir nach dem Frühstück zu Lukas hinübergehen und nach den Entchen schauen.“
„Au fein!“ Pia-Lotta jubelte und stopfte sich das Schokoladenbrötchen in den Mund, so dass sie kaum noch kauen konnte.
„Pia-Lotta, iss anständig. Wie sieht das denn aus?“ sagte die Großmutter streng. „Pass bitte auf, dass du Dir nicht das schöne Kleid mit der Schokoladenkrem beschmierst!“
Pia-Lotta schluckte mühsam das Brötchen herunter, trank schnell ihren Kakao aus und wischte sich mit der Hand über den Mund.
„Nimm die Serviette! du hast die Schokolade im ganzen Gesicht verteilt“ Der Großvater reichte Pia-Lotta die Serviette herüber.
„Fertig! Können wir losgehen, Opa?“ Pia-Lotta hatte manchmal ein Tempo drauf, dass es ihren Großeltern fast schwindelig wurde.
„Pia-Lotta!“ sagte jetzt der Großvater streng. „Du musst wirklich etwas geduldiger werden! Lass mich erst noch meinen Kaffee austrinken!“ Ungeduldig zappelte Pia-Lotta auf ihrem Stuhl hin und her. Warum sind die Erwachsenen eigentlich so langsam. Es gibt jetzt doch schließlich Wichtigeres als Kaffee zu trinken und wahrscheinlich gleich auch noch die Zeitung zu lesen. Pia-Lotta legte den Kopf schief und seufzte.
Nach einiger Zeit hatte der Großvater zu Ende gefrühstückt und die Großmutter begann den Tisch abzuräumen. Pia-Lotta wollte ihr helfen, doch ihre Großmutter meinte, dass sie jetzt so geduldig gewartet habe und nun mit dem Großvater nach den Entchen schauen sollte.
Der Großvater nahm Pia-Lotta an die Hand und ging mit ihr durch den großen Garten an den vielen bunten Blumen vorbei. Am Ende des Gartens gingen sie durch eine Pforte hinaus auf einen Sandweg, der sie an einem kleinen blühenden Rapsfeld auf der linken Seite und einer Kuhweide auf der rechten Seite vorbei über eine kleine Brücke zum Haus von Lukas führte. Lukas saß wie immer im Sommer auf einer Bank vor seinem Haus und rauchte seine Pfeife.
„Guten Morgen, Pia-Lotta“, begrüßte Lukas das kleine Mädchen.
„Hallo, Lukas!“ Pia-Lotta hatte bereits die Hand ihres Großvaters losgelassen und war auf Lukas zugelaufen. „Lukas, Lukas! Wo sind denn die Entchen. Opa hat mir erzählt, dass sie heute geschlüpft sind.“
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