Ich antwortete ihr trotzig auf Französisch. Fließend und akzentfrei. Großvater schien das zu gefallen, denn er rief meiner Mutter zu, dass das französische Blut in meinen Adern dicker wäre als das deutsche. Das ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich versuchte mir vorzustellen, wie zwei verschiedene Sorten Blut in meinem Körper zirkulierten. Das dicke französische und das dünne deutsche Blut. Als ich abends mit Philippe am See saß, wollte ich es genau wissen. Mit meinem Schweizer Taschenmesser, das mir Großvater im Sommer zuvor zum Abschied geschenkt hatte, ritzte ich in meine Fingerkuppe. Neugierig betrachtete ich das Blut, das tröpfchenweise aus meinem Finger herausquoll. Aber es schien doch nur eine Sorte Blut zu sein. Ich versuchte es an einem Finger der anderen Hand. Weder ich noch Philippe konnten einen Unterschied feststellen. Es tropfte nur eine Sorte Blut aus meinen Fingern. Ich fragte mich, ob es die französische oder die deutsche Sorte sei. Philippe wusste es auch nicht. Ich ritzte dann auch seinen Finger auf. Gemeinsam begutachteten wir neugierig den Blutstropfen auf seiner Fingerspitze. Ich hielt meine Fingerspitze zum Vergleich daneben. Wir kamen zu dem Schluss, dass Großvater sich mit den zwei verschiedenen Sorten Blut geirrt haben musste.
Plötzlich breiteten sich andere Bilder in meinem Kopf aus. Statt der zwei kleinen, mit Blutstropfen bedeckten Jungenfinger, nistete sich das Bild eines blutverschmierten Hinterkopfes in meinem Gedächtnis ein. Mit einem Mal begann ich heftig zu atmen. Ich bekam Angst, Schweißtropfen bildeten sich auf meiner Stirn. Ich wollte meine Augen endlich öffnen, doch dazu fehlte mir die Kraft. Immer deutlicher drang das Bild von fließendem Blut in meinen Kopf ein. Mein Herz fing an zu rasen, ich erkannte nur noch vereinzelte Bilder, Bilder ohne Zusammenhang, schreckliche Bilder. Meine Hände waren blutverschmiert. Ich sah zwei Sorten von Blut, die sich miteinander vermischten. Ich wollte die Bilder aus meinem Kopf verbannen. Kalter Schweiß drang mir aus allen Poren, ich zitterte am ganzen Leib. Tief in meinem Inneren vernahm ich gequälte Schreie. Ich wollte das fließende Blut stoppen, doch es floss immer weiter. Machtlos schaute ich auf meine blutverschmierten Hände, dann wurde es dunkel um mich herum. Ich fiel wieder in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Samstag, 29. November 2003, 17:20 Uhr
Es war ein nasskalter, trüber Nachmittag, die ersten weihnachtlichen Melodien hielten bereits überall Einzug. Im Supermarkt herrschte ein heilloses Gedränge zu den festlichen Klängen von Oh du fröhliche Weihnachtszeit, die dezent leise aus den unsichtbaren Lautsprechern ertönten. Siebels schob missmutig seinen Einkaufswagen durch die Gänge. Er hatte keine Lust, bei dem Trubel einzukaufen. Er versuchte sich zu erinnern, warum er überhaupt hier war. Er ärgerte sich, weil er wie immer ohne Einkaufsliste zu der denkbar ungünstigsten Zeit zwischen all den einkaufswütigen Menschen völlig planlos die Regale inspizierte. Mittlerweile hatte er wenigstens ein paar Kleinigkeiten in seinem Wagen, aber irgendetwas hatte ihn heute dazu angetrieben in den Supermarkt zu fahren und dieses irgendetwas fehlte definitiv in seinem Einkaufswagen. Sein Blick wanderte durch die Regale. Wenn er es nur sehen würde, dann wüsste er auch wieder, was ihn dazu veranlasst hatte, seinen kostbaren Samstagmittag in dieser unseligen weihnachtlichen Supermarkt-Hektik zu verbringen. Da sich beim Absuchen der Regale einfach kein Aha-Erlebnis einstellen wollte, änderte er seine Taktik. In Gedanken ging er den Inhalt seines Kühlschrankes durch, doch da war alles an seinem Platz. Er öffnete im Geist alle Schränke und Schubladen in der Küche. Mehl, Zucker, Kaffee, all das war noch vorrätig. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er sich beeilen musste, denn heute wollte er sich zusammen mit Sabine ganz gemütlich die Sportschau ansehen. Die Eintracht kämpfte zurzeit um die zwingend notwendigen Punkte gegen den Abstiegskampf. Mit Till hatte er gewettet, dass die Frankfurter Mannschaft heute endlich wieder mal gewinnen würde. Er war mittlerweile bei den Süßigkeiten angelangt, warf sich noch ein paar Tafeln Schokolade zu dem abgepackten Käse, der Marmelade, den aufbackbaren Brötchen und den zwei Flaschen Mineralwasser und betrachtete wehleidig seinen mickrigen Einkauf. Rings um ihn herum waren die Wagen bis oben hin gefüllt. Die Schlangen an den Kassen bewegten sich nur im Schneckentempo vorwärts. Er fragte sich, warum die Leute sich das alles antaten, und stellte sich hinten an. Mittlerweile verschwendete er keinen Gedanken mehr daran, warum er eigentlich hergekommen war. Er starrte auf die Kassiererin, beobachtete sie, wie sie die Waren auf dem Band über den Scanner zog. Es kam ihm vor, als würde er noch Stunden hier anstehen müssen, ohne zu wissen, warum er eigentlich hier stand. Als er endlich das Band erreichte und seine paar Habseligkeiten unter den mitleidigen Blicken einer robusten Mittfünfzigerin, die auf gleicher Höhe in der Nachbarschlange wartete, auf das schwarze Gummiband beförderte, packte er noch fünf Päckchen Zigaretten dazu.
Erleichtert verließ er den Konsumtempel und schob seinen Einkaufswagen zielstrebig zu seinem BMW. Natürlich hatte er einen Einkaufswagen erwischt, dessen Räder klemmten und eierten. Nur mit Müh und Not gelang es ihm beim Abbiegen, den parkenden Jaguar nicht mit seinem lädierten Einkaufswagen zu rammen. Zu allem Überfluss setzte jetzt auch noch ein Nieselregen ein. Genervt öffnete er den Kofferraumdeckel seines Wagens und kaum hatte er seine Einkäufe verstaut, fiel ihm auch wieder ein, warum er überhaupt hergekommen war. Klopapier, er hatte kein eines Blatt Klopapier mehr.
Zwei Stunden später lag er mit seiner Freundin auf dem Sofa. Sabine hatte Chips und Bier und nach dem Anruf von Siebels auch zwei Rollen Klopapier mitgebracht. Sabine Karlson arbeitete als Kriminalbeamtin bei der Sitte. Siebels hatte sie bei einem Mordfall, den er zu bearbeiten hatte, erst als Kollegin und später auch als Frau zu schätzen gelernt. Seit vier Monaten bildeten die beiden nun ein Paar und in letzter Zeit schmiedeten sie immer häufiger gemeinsame Zukunftspläne. In der Sportschau lief gerade das Spiel der Bayern. Sabine, deren Blut zur Hälfte deutsch und zur anderen Hälfte schwedisch war, war ein begeisterter Anhänger des FC Bayern München. Die Münchner blieben aber unter den Erwartungen und Siebels freute sich diebisch über jeden verlorenen Ball eines Münchner Spielers. Seine Freude wurde jäh unterbrochen, als sein Handy klingelte und er die Stimme von Staatsanwalt Jensen vernahm.
»Guten Abend, Herr Siebels. Ich hoffe, Sie amüsieren sich nicht allzu gut. Ihr freies Wochenende ist nämlich ab sofort gestrichen. Es handelt sich um einen heiklen Fall, ich erwarte Sie schnellstmöglich in Königstein.«
»In Königstein? Warum ich? Es gibt doch diensthabende Beamte, was soll das jetzt, Herr Jensen?« Siebels wanderte unter den neugierigen Blicken seiner Freundin im Wohnzimmer umher. Er schaute zu ihr und verdrehte seine Augen, während er mit dem Staatsanwalt diskutierte. Jensen war allgemein als Nervensäge verschrien. Siebels hoffte noch, dass es sich nur um einen kurzfristigen hysterischen Anfall des immer wieselflinken kleinen Staatsanwaltes handeln würde.
»Wie ich bereits sagte, es ist ein sehr heikler Fall, am Telefon kann ich Ihnen nicht mehr dazu sagen. Ich benötige Sie, weil Sie der Beste sind. Und vorerst kein Wort zu niemandem, außer natürlich zu Ihrem Kollegen Herrn Krüger, den bringen Sie gleich mit.« Jensen beschrieb Siebels den Weg und nannte ihm die Adresse. Bevor Siebels noch einmal widersprechen konnte, hatte Jensen die Verbindung schon unterbrochen.
»Ein sehr heikler Fall, weil Sie der Beste sind, Siebels«, äffte Siebels den eifrigen Staatsanwalt zornig nach, während er sich seine Schuhe anzog.
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