Kate fotografierte alles, machte sich Notizen und inspizierte als Nächstes die Schränke, um Geschirr, Töpfe und Pfannen zu überprüfen. Dann öffnete sie die Tür zur Vorratskammer und machte dort eine Bestandsaufnahme: Cerealien, Konserven, Reis und Pasta, Cracker, Gläser mit Pistazien und Mandeln. Wieder fotografierte sie alles, notierte sich ein paar Dinge.
Auf dem Korkboden des zweiten Schlafzimmers, das in ein zusätzliches Wohnzimmer verwandelt worden war, befanden sich ein paar Trainingsgeräte, darunter einige Hanteln und ein Laufband. Camerons uralter Dell-Computer stand auf dem kleinen Schreibtisch mit der lederbezogenen Platte, den er von Steve Henderson aus dem Einbruchdezernat übernommen hatte, als der nach Dallas gezogen war. Oben auf dem Aktenschrank hinter dem Schreibtisch lag die Akte des Mordfalls Tamara Carter, die Cameron illegal für sich kopiert hatte. Kate machte ein Foto, notierte sich ein paar Dinge.
Sie ging weiter zum Badezimmer. Alle Oberflächen blitzten vor Sauberkeit, der makellose Raum roch nach Putzmittel. Sie öffnete Schubladen und das Schränkchen unter dem Waschbecken, dann das Medizinschränkchen. Sie inspizierte seinen Inhalt, machte ein Foto, notierte sich ein paar Dinge.
Camerons Schlafzimmer, den persönlichsten Raum in seinem Haus wie in jedem anderen, hatte sie sich bewusst bis zum Schluss aufgehoben. Sie hatte es nur ein Mal gesehen, und zwar bei ihrem ersten Besuch, als er ihr stolz gezeigt hatte, was er sich gekauft hatte, nachdem die finanziellen Aspekte seiner Scheidung geregelt gewesen waren.
Bei den meisten der Hausdurchsuchungen im Laufe ihrer Karriere waren entscheidende Beweise in den Schlafzimmern zutage gekommen – in den Räumen, in denen die Menschen ihre persönlichste und oftmals bösartigste Seite zum Ausdruck brachten. Doch nie zuvor hatte sie sich bei einer Durchsuchung moralisch derart im Unrecht gefühlt. Das hier war mehr als bloßes Eindringen in die Privatsphäre eines Freundes. Es war ein Übergriff. Ein neuerlicher Missbrauch des Vertrauens, das Cameron ihr entgegenbrachte.
Wieder straffte sie die Schultern. Sie ließ den Blick von der Tür aus durch den Raum schweifen. Nichts erschien ihr anders als das, was sie drei Jahre zuvor gesehen hatte: das Kingsize-Bett, dem gegenüber die Kommode mit dem alten Panasonic-Fernseher. Dann ging sie direkt zu dem einen Nachtschrank hinüber. Es war leicht zu erraten, welchen Cameron benutzte: Auf dem hier stand der Radiowecker, und seitlich am Kopfende des Bettes war eine Leselampe angebracht.
Sie öffnete die Schublade, musterte den Inhalt, ohne etwas anzufassen, dann machte sie ein Foto und schloss sie wieder. Sie überprüfte auch den zweiten Nachtschrank und warf einen Blick in die Schubladen der Kommode. Sie enthielten nichts, was sie nicht erwartet hätte, Boxershorts und Socken, Sweatshirts und T-Shirts und ein paar Pullover.
Sie ging wieder zum Bett, schlug die braune Steppdecke zurück, kniete sich hin, hob die Matratze an und spähte darunter, bewegte sich auf den Knien um das Bett herum und schaute überall nach. Dann zog sie die Bettdecke wieder zurück und strich sie so glatt, wie sie sie vorgefunden hatte.
Als Nächstes ging sie zu dem begehbaren Schrank und schaute hinein. Sie hielt inne und holte tief Luft, ballte die Hände zu Fäusten. Mit einigen dieser Anzüge und Jacken, die dort hingen, war sie dermaßen vertraut, dass es beinahe war, als wäre Joe Cameron dort bei ihr in dem Raum. Sie nahm sogar einen leichten Duft nach Sandelholz wahr – ein Duft, den Joe manchmal benutzte.
»Joe, ich hoffe, dir geht’s gut, du alter Blödmann«, murmelte sie.
Sie betrat den Kleiderschrank und inspizierte seine gesamte Kleidung, wobei sie darauf achtete, nichts von seinem Platz zu verrücken, und machte sich Notizen – sie registrierte Oberhemden, Freizeithemden und Polohemden, Stoffhosen und Jogginghosen, Jacketts und Blousons, zwei Reihen Schuhe. Es gab keine erkennbare Lücke zwischen den Bügeln und auch nicht in den Schuhreihen. Von der Tür aus machte sie mehrere Fotos.
Nun gab es nur noch eine Sache, die sie sich anschauen musste, und zwar im Garten. Sie ging hinaus und hob den Deckel des Grills. Der Rost war nicht gesäubert worden; verkohlte Reste von etwas, das nach Hackfleisch aussah, klebte an den Streben. Kein Schimmel. Sie schloss den Deckel wieder und kehrte ins Haus zurück.
Sie setzte sich auf einen der Barhocker an der Frühstückstheke, legte ihr Notizbuch vor sich, holte ihr Handy hervor und wählte eine einprogrammierte Nummer.
Der Anruf wurde beim ersten Klingeln entgegengenommen. »Sind Sie drinnen?«
Kate lächelte. »Bin ich, Captain.«
»Fangen Sie mit dem Fazit an.«
»Er ist fort, hat sich aber große Mühe gegeben, den Eindruck zu erwecken, es sei nicht so.«
Ein leichtes Seufzen, gefolgt von Schweigen. Dann sagte Walcott: »Erzählen Sie mir, wie Sie darauf kommen.«
Kate warf einen Blick auf ihre Notizen. »Es liegt keine Post hier. Er hat fünf Zeitschriften-Abos, und die letzten Ausgaben der wöchentlich erscheinenden Magazine sind vierzehn Tage alt. Also wird seine Post im Postamt gelagert. Sein Kühlschrank enthält eine Menge Lebensmittel, aber alles, was nicht in Tuben, Dosen oder Gläsern ist, ist abgepackt oder haltbar oder tiefgefroren. Joe isst zu jeder Mahlzeit außer dem Frühstück Salat. Es gibt nicht das kleinste Blatt Salat hier, nichts, das verderben könnte. Seine Vorratskammer enthält nur haltbare Nahrungsmittel. Sein Grill ist nicht saubergemacht worden – das muss für den pingeligen Joe das Schwerste gewesen sein: ihn so zu lassen. Er nimmt ein cholesterinsenkendes Medikament, Lipitor, glaube ich – das fehlt in seinem Medizinschränkchen. Sein Computer ist hier, aber sein Acer Netbook nicht –«
»Das ist der Grund, warum ich wollte, dass Sie das übernehmen, Kate«, unterbrach Walcott sie. »Ich vermisse Sie, Detective Delafield.«
Kate lächelte. »Ich Sie ebenfalls, Captain. Er hat sich sehr bemüht, seinen Kleiderschrank so erscheinen zu lassen, als hätte er keinerlei Kleidung und auch keine Schuhe mitgenommen, und jemand, der ihn nicht gut kennt, könnte das durchaus glauben. Seine Koffer sind hier, aber sein Rucksack fehlt. Er mag Jeans mit hinten aufgesetzten Taschen, und die mit den knöpfbaren Klappen auf den Taschen ist hier, aber die mit den Reißverschlüssen fehlt –«
»Könnte es nicht sein, dass er sie trägt?«
»Könnte sein. Aber dann würde er nicht die schwarze Trainingshose tragen. Oder die Dockers. Oder drei Paar Shorts. Er könnte seine Nikes anhaben, aber seine Stiefel und seine Sandalen fehlen.«
»Seine Sandalen?«
»Seine Sandalen.«
»Ist Joe womöglich ans andere Ufer gewechselt?« Ein Lächeln lag in Walcotts Stimme.
Kate gluckste. »Nie im Leben. Er ist stockhetero.«
»Kate, was ist mit seiner Dienstwaffe?«
»Ist nicht hier.« Sie erwähnte nicht, dass seine zweite Waffe ebenfalls nicht da war, jedenfalls nicht in seinem Nachtschrank – dem Ort, an dem die meisten Cops, sie selbst eingeschlossen, ihre persönlichen Waffen aufbewahrten. Interessant, dass Walcott von ›Waffe‹ gesprochen hatte, nicht von ›Waffen‹.
»Captain, Sie müssen ein paar Dinge tun, um mir beim nächsten Schritt zu helfen.«
»Als da wären?«
»Ich bin gestern Abend die Fälle durchgegangen, die wir zusammen bearbeitet haben, bin aber nicht fündig geworden. Aber wenn Sie mal wie beiläufig mit Rasmussen sprechen könnten – vielleicht hat Joe irgendjemanden erwähnt, der im Zusammenhang mit einem alten Fall wieder aufgetaucht oder auf Bewährung rausgekommen ist …«
»Kein Problem.«
Sie wollte nur auf Nummer Sicher gehen. Sie glaubte nicht, dass aus dieser Ecke irgendein hilfreicher Hinweis auftauchen würde. Wenn jemand auf der Bildfläche erschienen war, der es auf Cameron abgesehen hatte, dann eher im Zusammenhang mit einer seiner pragmatischen Eskapaden nach Dienstschluss.
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