Gedächtnisformen – deklaratives und prozedurales Gedächtnis
Unterschiedliche Formen des Gedächtnisses lassen sich nicht nur hinsichtlich der Dauer der Speicherung, sondern auch hinsichtlich der Art der Gedächtnisinhalte beschreiben. So unterscheidet man das deklarative und das prozedurale Gedächtnis.
Als deklarativ werden formulierbare Wissensinhalte wie Fakten, sog. theoretisches Wissen, bezeichnet. Prozedurales Wissen dagegen beinhaltet die Ausführung von Prozeduren, z. B. instrumentale Spielbewegungen. Deklarative Gedächtnisinhalte werden eher explizit und schnell erlernt, der Lernprozess erfordert bewusste Kontrolle. Prozedurale Gedächtnisinhalte dagegen werden meist implizit, d. h. weniger bewusst erlernt. Das prozedurale Lernen erfolgt automatisiert. Es geschieht langsam und benötigt viele Wiederholungen. Im prozeduralen Gedächtnis sind alle wiederkehrenden Bewegungen des täglichen Lebens gespeichert sowie die zahllosen Bewegungen von hoch spezialisierten Fertigkeiten – auch diejenigen des Instrumentalspiels. Automatisierte Musizierbewegungen sind Teil des prozeduralen Gedächtnisses. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Bewegungsgedächtnis oder motorischem Gedächtnis. Die bewusste Körper- und Bewegungswahrnehmung liefert wichtige Voraussetzungen für die Ausbildung des motorischen Gedächtnisses.
Auch wenn das prozedurale automatisierte Gedächtnis notwendig ist, um die Komplexität der Musizierbewegungen zu reduzieren und ihre Stabilität zu sichern, sollte beim Musizieren auch das deklarative Wissen einbezogen werden. Aus der Musizierpraxis ist hinlänglich bekannt, dass rein automatisiertes Spielen, ohne zu wissen, was man spielt, bei zusätzlichen Anforderungen, wie sie in der Konzertsituation regelhaft vorkommen, zu Unsicherheiten bis hin zum Blackout führen kann. Es hat sich daher bewährt, sowohl mit dem prozeduralen als auch mit dem deklarativen Gedächtnis zu arbeiten.
Bewegungslernen beim Musizieren
Das Bewegungslernen beim Musizieren verläuft in mehreren Lernphasen:
• Orientierung: Bei Anfängern oder bei ganz neuen Anforderungen übernimmt das Gehör zur Orientierung die Hauptrolle. Das Auge kontrolliert ebenfalls mit. In dieser Phase müssen viele Einzelheiten aufgenommen und mit hoher Aufmerksamkeit während des Spielens überwacht werden.
• Differenzierung: In der nächsten Phase ist die Bewegungskoordination schon besser und es ist weniger hochkonzentrierte Aufmerksamkeit auf die Einzelheiten notwendig. Die Sinneswahrnehmungen Hören und Sehen sind auf das Wesentliche bezogen. Bewegungsunterschiede werden feiner wahrgenommen und korrigiert. Das Bewegungsgefühl spielt dabei eine sehr wichtige Rolle. Insgesamt bleiben die Abläufe beim Spielen noch unsicher und anfällig für Störungen.
• Stabilisierung: Die Bewegungsabläufe werden jetzt so automatisiert, dass sie ohne bewusste Aufmerksamkeit ablaufen können. Damit ist der Spieler freier, auf andere Aspekte wie das musikalische Zusammenspiel, die musikalische Gestaltung etc. zu achten. Es findet dadurch eine Steigerung der Bewegungsqualität statt, so dass Teilbewegungen zu größeren Einheiten zusammengeführt werden und ein hohes Maß an Ökonomie und Stabilität in der Bewegung erreicht wird. Dies vollzieht sich u. a. auch durch das Bündeln größerer Sinneinheiten (»Chunking«).
• Kontextualisierung: In dieser Phase wird das bisher Geübte im Hinblick auf die Konzertsituation weiter stabilisiert und das Bewegungsgefühl unter Kontextbedingungen verankert. Der Spieler lernt hierbei, die Bewegungsabläufe unter besonderen emotionalen Bedingungen und unvorhersehbaren Anforderungen und Störungen stabil zu halten und gleichzeitig flexibel zu gestalten.
Bewegungslernen findet nicht in regelmäßigen Schritten statt, sondern ist Lernsprüngen und zwischenzeitlichen Stagnationen unterworfen. Wenn das individuelle Leistungsniveau erreicht ist, kann weiteres Üben die Bewegungsleistung nicht mehr steigern.
Stagnationen können damit zusammenhängen, dass die gelernte Bewegung erst in komplexeren Zusammenhängen erfasst und abgelegt werden muss. Dies braucht Zeit.
Lernen durch Spiegelneurone
Seit ihrer Erstbeschreibung durch die Arbeitsgruppe um den italienischen Forscher Giacomo Rizzolatti Anfang der 1990er-Jahre wissen wir, dass Spiegelneurone ermöglichen, uns in andere Menschen hineinzuversetzen, und dass sie zu unserer grundlegenden neurophysiologischen Ausstattung gehören (Rizzolatti und Sinigaglia 2008). Spiegelneurone finden sich u. a. in der prämotorischen Hirnrinde. Sie haben auch für das Bewegungslernen eine große Bedeutung, da sie an der Vorstellung und dem Wiedererkennen von Bewegungen beteiligt sind. Zudem steuern sie das Nachahmen von Bewegungen mit. Dies kann erklären, warum im Anschluss an den Konzertbesuch eines exzellenten Künstlers bei einem erfahrenen Musiker eine Verbesserung des eigenen Spiels eintritt.
1Als Grundlage für die anatomischen Beschreibungen in diesem Kapitel wurde das Lehrbuch ANATOMIE von Zilles und Tillmann (2010) verwendet. Der interessierte Leser findet hier weiterführende detaillierte Angaben.
2Als weiterführende Literatur empfehlen wir: Simmel, L.: Tanzmedizin in der Praxis. Anatomie, Prävention, Trainingstipps, Henschel, Leipzig 2014.
3Eine interessante Darstellung hierzu findet sich bei Wilson, F. R.: Die Hand – Geniestreich der Evolution, Klett-Cotta, Stuttgart 2000.
4Für weitere Informationen zu Anatomie und Funktion der Hand ist zu empfehlen: Wehr, M., Weinmann, M. (Hg.): Die Hand. Werkzeug des Geistes, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1999.
5Lesern, die sich für weiterführende Erläuterungen der Anatomie und Physiologie dieser Funktionseinheit interessieren, sei für einen Überblick das Buch DIE STIMME (Richter 2014) empfohlen. Zu den einzelnen Muskeln sei auf die Artikel des Anatomen Bernhard Tillmann im LEXIKON DER GESANGSSTIMME (Mecke et al. 2016) hingewiesen
6Eine ausführliche Darstellung findet sich in: Richter 2014 sowie Mecke et al. 2016.
7Für nähere Ausführungen empfehlen wir die Monografie: Lapatki, B.: The Facial Musculature. Characterisation at a Motor Unit Level, Danders Series, Bd. 33, Ipskamp, Enschede 2010.
8Für Leser, die sich über die genauen biologisch-physiologischen Grundlagen der Atmungsvorgänge in der Lunge informieren wollen, sei auf einschlägige Kapitel in Lehrbüchern der Physiologie verwiesen, wie z. B. das Kapitel »Atmung« in: Pape et al. 2014.
9Diese sind auf der 2013 erschienenen DVD DAS BLASINSTRUMENTENSPIEL: PHYSIOLOGISCHE VORGÄNGE UND EINBLICKE INS KÖRPERINNERE veröffentlicht (Spahn et al. 2013). Die Vorgänge während des Spiels unterschiedlicher Blasinstrumente werden auf dieser DVD in mehr als 130 Filmclips präsentiert. Hierdurch soll allen Bläsern ein umfangreiches und kommentiertes Material zur Verfügung gestellt werden, anhand dessen sie die physiologischen Vorgänge beim Spielen selbst nachvollziehen können.
10Weiterführend interessierten Lesern sei für die Spezifika der Sängeratmung die Lektüre folgender Publikationen empfohlen: DIE STIVVE (Richter 2014), DIE WISSENSCHAFT VON DER SINGSTIMME (Sundberg 2015) und das LEXIKON DER GESANGSSTIMME (Mecke et al. 2016).
11Für Leser, die sich über die genauen biologisch-physiologischen Grundlagen der Signalübertragung am synaptischen Spalt informieren wollen, sei auf einschlägige Lehrbücher der Physiologie verwiesen, z. B. das Kapitel »Synaptische Übertragung« in: Pape et al. 2014.
12Die folgenden Ausführungen lehnen sich an das Kapitel »Hören« im Buch DIE STIMME an (Richter 2014).
13Für ein vertieftes Verständnis der Hörverarbeitung sei dem interessierten Leser die Monografie von Hellbrück und Ellermeier (2004) oder die kompakte Darstellung von Dirk Mürbe im LEXIKON DER GESANGSSTIMME (Mecke et al. 2016) empfohlen.
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