(17) Caesar nun, welcher bereits mit dem Heer aus der Stadt gezogen und um dessentwillen Clodius das Volk außerhalb der Mauern versammelt hatte, um ihn zum Schiedsrichter über sein Gesetz zu machen, erklärte das Verfahren gegen Lentulus für ungesetzlich, 2 missbilligte aber die darüber vorgeschlagene Strafe. Seine Ansicht über die Sache wüssten alle (er hatte nämlich nicht für ihren Tod gestimmt), jedoch sei es nicht billig, rückwirkend ein solches Gesetz abzufassen. Soweit Caesar. 3 Crassus ließ zwar durch seinen Sohn für Cicero Schritte tun, er selbst aber war aufseiten der Menge. Pompeius versprach ihm Hilfe, machte aber bald diese, bald jene Ausflüchte, war immer verreist und – half ihm nicht. 4 Als nun Cicero sah, wie seine Sache stehe, und für seine eigene Person fürchtete, beschloss er, noch einmal die Waffen zu ergreifen, und schalt jetzt öffentlich sowohl auf andere als auch auf Pompeius. Auf Zureden Catos und Hortensius’ aber, welche einen Bürgerkrieg befürchteten, entwich er mit Schimpf und Schande aus der Stadt, als ob er sich schuldbewusst in freiwillige Verbannung begäbe. 5 Bevor er jedoch die Stadt verließ, ging er aufs Capitol und stellte ein kleines Minervabild mit der Aufschrift »Beschützerin« als Weihgeschenk auf. Er entwich nach Sizilien, wo er früher Statthalter gewesen und große Hoffnung hatte, in den einzelnen Städten, bei Privatpersonen und dem damaligen Prätor ehrenvolle Aufnahme zu finden. 6 Nach seiner Flucht fand das Gesetz nicht nur keinen Widerstand mehr, sondern wurde selbst von denen, die sich als die ersten Verteidiger Ciceros ausgegeben hatten, nun da er einmal aus dem Weg war, aufs Eifrigste unterstützt. Sein Vermögen wurde eingezogen, sein Haus wie das eines Staatsfeindes niedergerissen und das Grundstück zu einem Tempel der Freiheit geweiht. 7 Ihm wurde nun förmlich die Verbannung zuerkannt und der Aufenthalt in Sizilien untersagt; denn er wurde auf 3750 Stadien 115von Rom verwiesen mit dem Zusatz, wofern er sich innerhalb dieses Kreises sehen lasse, so sollten er und die, die ihn aufnahmen, ungestraft getötet werden dürfen.
(18) Er begab sich daher nach Makedonien und lebte dort in tiefstem Kummer. Hier traf ihn ein gewisser Philiscus, der ihn in Athen kennengelernt hatte und jetzt durch Zufall mit ihm zusammenkam. »Schämst du dich nicht, Cicero«, sagte er, »dass du so klagst und dich so empfindlich gebärdest? Nie hätte ich gedacht, dich so schwach zu sehen, der du so viele und vielfache Bildung genossen und so vielen selbst schon geholfen hast.« 2 Cicero entgegnete ihm: »Etwas anderes ist es, Philiscus, für andere zu sprechen, und sich selbst zu raten. Was man für andere spricht, geht aus aufrechtem, unbefangenem Sinn hervor, ist ein Wort zu rechter Zeit. Wenn aber ein Leiden die Seele befängt, dann wird sie getrübt und verfinstert und unfähig, im Augenblick den rechten Punkt zu treffen. Weshalb es sehr richtig heißt: »Es ist leichter, einen anderen zu trösten, als selbst im Unglück standhaft zu sein.« – 3 »Was du da sagst, ist freilich menschlich«, versetzte Philiscus, »ich glaubte aber dich, als einen Mann von solcher Einsicht und Weisheit, auf alle menschlichen Schicksale vorbereitet, damit, wenn dir ein unerwarteter Unfall zustieße, er dich nicht ungewappnet träfe. 4 Da du nun in dieser Lage bist – so ist es dir vielleicht dienlich, wenn ich mich mit dir über manches dich Betreffende unterhalte; damit, wie man anderen ihre Lasten tragen hilft und erleichtert, auch ich dir dein Leiden erträglicher mache, und zwar umso leichter, da ich nicht das Geringste davon selbst übernehme. 5 Du wirst hoffentlich fremden Trost nicht von dir weisen. Denn wenn du dir selbst genügtest, so bedürfte es dieser Worte nicht; nun aber bist du in demselben Fall wie Hippokrates, Demokedes oder ein anderer berühmter Arzt, wenn er in eine gefährliche Krankheit verfiele und der heilenden Hand eines Dritten bedürfte.«
(19) »Wenn deine Rede«, erwiderte Cicero, »mir die Finsternis aus der Seele verbannen und das frühere Licht zurückführen kann – warum sollte ich dir nicht gerne zuhören wollen? Denn wie die Heilmittel, so sind auch die Reden verschieden und besitzen mancherlei Kräfte. Daher wäre es nicht zu verwundern, wenn du mich, der ich im Senat, in den Volksversammlungen und den Gerichten geglänzt habe, mit einem Balsam von Weisheit labtest.« – 2 »Wohlan denn«, sprach Philiscus, »wenn du mich anhören willst, so untersuchen wir vorerst, ob deine Lage wirklich so schlimm ist und wie ihr abgeholfen werden kann. Vor allen Dingen sehe ich dich gesund und bei voller Leibeskraft – das erste Gut, das die Natur dem Menschen schenken kann –; sodann hast du den nötigen Lebensunterhalt, 3 musst nicht hungern, nicht dürsten, nicht frieren und leidest sonst kein leibliches Ungemach: das zweite Gut, das der Mensch von der Natur erhält, denn wenn sich einer körperlich wohlbefindet und sorgenfrei leben kann, so genießt er alles, was zur Glückseligkeit gehört.«
(20) »Dies alles«, entgegnete Cicero, »nützt nichts, wenn Kummer an der Seele nagt. Denn weit mehr drücken mich die Sorgen der Seele, als mich das Wohlsein des Körpers vergnügt. So wie jetzt die leibliche Gesundheit mir nichts gilt, da ich an der Seele erkrankt bin, noch auch der Bedürfnisse Überfluss, da ich so vieles verloren habe.« 2 Philiscus erwiderte: »Und darüber grämst du dich? – Ja, wenn du des Notwendigsten entbehrtest, so hättest du noch einen Grund, über Verluste zu klagen. Wenn du aber die Bedürfnisse des Lebens vollauf hast, was kümmert es dich? Dass du nicht noch mehr besitzest? Alles über das Notwendige hinaus ist überflüssig, und es ist einerlei, ob es da ist oder abgeht. 3 Da du wohl auch früher dich desselben nicht bedientest, so denke dir nun, du habest damals nicht gehabt, wessen du nicht bedurftest, oder du besitzest jetzt noch, was du nicht nötig hast. Denn das meiste davon hast du nicht von deinen Vätern ererbt, dass seine Erhaltung dir teuer sein müsste, sondern durch deine Zunge und deine Reden gewonnen und verloren. 4 Wie kannst du dich also deshalb grämen? – Wie gewonnen, so zerronnen! Auch die Schiffsherren veranschlagen selbst bedeutende Verluste nicht so hoch, weil sie sich vernünftigerweise sagen müssen: Das Meer hat’s gegeben, das Meer hat’s genommen.
(21) Doch darüber genug! Der Mensch, glaube ich, bedarf zu seiner Glückseligkeit nichts, als dass er hat, was er braucht, und dass es seinem Körper an dem Nötigen nicht gebricht. Aller Überfluss erzeugt nur Sorgen, Mühe und Neid. 2 Wenn du aber sagst, dass leibliche Güter keinen Genuss gewähren, wofern nicht auch die Seele sich wohlfühle, so gebe ich dir vollkommen recht, denn wenn diese leidet, so muss der Körper notwendig auch mit ihr leiden; aber ich glaube, dass man die Seele viel leichter als den Körper im Wohlbefinden erhält. 3 Denn dieser, von irdischem Bestand, unterliegt an sich schon vielen Unfällen und bedarf vielfacher Hilfe der Gottheit, jene aber, göttlichen Wesens, wird leicht in Gleichgewicht und Ordnung erhalten. Sehen wir nun, welche Güter der Seele du besitzest und welche Übel dich betroffen haben, die nicht zu beseitigen wären.
(22) Erstens bist du der verständigste Mann, den ich kenne; denn wie oft hast du nicht Senat und Volk zur Befolgung deiner Ratschläge überredet! Wie oft nicht einzelnen Bürgern durch deine Reden aus der Not geholfen! 2 Sodann halte ich dich auch für den Gerechtesten. Du bist jederzeit für Vaterland und Freunde wider ihre Nachsteller in die Schranken getreten und hast selbst deine gegenwärtigen Leiden aus keinem anderen Grund erduldet, als dass du für Gesetze und Staat durch Rede und Tat unablässig gewirkt hast. 3 Dass du aber auch im höchsten Grad mäßig gewesen bist, bestätigt deine ganze Lebensweise; denn unmöglich kann einer, der den sinnlichen Lüsten frönt, immer vor dem Volk erscheinen, auf dem Markt sich umtun und die Taten des Tages zu Zeugen seiner nächtlichen Arbeiten machen. 4 So hielt ich dich auch für den Tapfersten, da du solche Stärke des Geistes, solche Kraft der Rede bewiesen hast. Durch dein unerwartetes und unverdientes Schicksal aber außer Fassung gebracht, hast du von deiner Tapferkeit eingebüßt; doch wirst du dich bald wieder ermannen. Bei solchen Vorzügen, da du nach Geist und Leib dich wohlbefindest, sehe ich nicht ein, was dich also berücken sollte.«
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