Endlich, am 30. 5. 1017, bei Sonnenuntergang, rief Kalif al-Hakim bi Amrillah den Beginn der neuen Epoche aus, das wahre Zeitalter Allahs. Keiner müsse mehr Angst haben, versprach er großmütig, schraubte plötzlich auch die Demut zurück und erschien, hochgeschaukelt von hocheloquenten Propagandisten, als auf Erden wandelnder Allah. Ins frisch entstandene Drusentum sickerten Inkarnationslehren ein. Flächendeckend weiterlaufende Missionierung hatte ab sofort moderat zu verlaufen. Der mittelalterlich rigorose Machttypus al-Hakim führte sogar relative Glaubensfreiheit ein, schier modern-demokratischfreiheitlich anmutend, was nicht jedem Musulman behagte. Nur vermischte sich das humane, ja moderne Prinzip Freiwilligkeit paradox mit bürokratisch gestarteten Fragebogen- und Bescheinigungsaktionen. Ein hier nicht mitgewachsener, wie gehabt sehr herkömmlich funktionierender türkischer Missionar, Nashtakin al-Darazi, Stifter der Drusen, der die Unterschriften neuer Schäfchen weiterhin mit der Knute eintrieb, nämlich mit al-Hakims alten Methoden, veranlaßte den geläuterten Kalifen, nochmals cholerisch aufzuschäumen, wie vormals täglich, und das kaum erprobte Zeitalter leuchtendster Wahrheit kurz auszusetzen, bis der erfolgreiche, strenge, unbeliebte Glaubensbekenntnis-Werber hingerichtet war und aufs neue die neue herrliche Zeit ausgerufen werden konnte – die kaum lange vorhielt. Denn alsbald fielen al-Hakims Truppen aus unerfindlichem Grund, wohl nur wegen einer Anti-al-Hakim-Flugblattaktion, über die kulturgesättigte Altstadt Fostat her, plünderten, brandschatzten – eine sinnlos amplifizierte Kollektivstrafe, schier Kristallnacht, frei nach dem Legenden-Herodes, alle erreichbaren Nachbarn auszurotten, in der Hoffnung, daß der anonyme Übeltäter mit dabei sein könnte. Alle Einwohner mußten nackt aus den Häusern treten, wurden entweder vergewaltigt oder kastriert. Al-Hakim erschlug, weil sein Eunuchensklave Ali ihn anflehte, die Greuel zu beenden, den Jammerlappen sofort – obwohl er eigentlich kein Blut sehen konnte, wie Heinrich Himmler. Sowohl im Volk wie in der Armee kippte die Stimmung zuungunsten al-Hakims immer deutlicher. In 25 Jahren verschliß er vierzehn Wesire, von denen nur zwei eines natürlichen Todes starben. Man wagte nicht anzudeuten, daß man sich den wahren neuen Äon von der Zeit nach ihm versprach. Seine Untaten erinnerten fatal an die Schleifung, Kastration, Abschlachtung und öffentliche Aushängung des afghanischen Politikers Mohammed Nadschibullah 1996. Zu al-Hakim hätte die Antwort gepaßt, die Hadschdschadsch, der tyrannische Statthalter des Irak, um 710 n.Chr. gab, als man an dessen Gewalttaten litt: „Seht, was ihr für schlechte Menschen seid, daß Allah einen Mann wie mich auf euch losgelassen hat.“
Ein Jahr später kehrte er von einem einsamen nächtlichen Ausritt auf seinem Esel, namens „Mond“, auf den Hügel Mokattam nicht zurück. Sein nicht ganz spurloses Verschwinden löste Gerüchte aus. Zwar fand man den verletzten „Mond“ sowie blutige Kleidung auf, doch gefälschte Indizien gehörten seit der alttestamentarischen Josefs-Geschichte zum Usus. Vier, fünf Theorieversionen kamen sich in der Regenbogenpresse des 11. Jh. in die Quere: Allah habe – laut drusischer Deutung – seinen Knecht wie vormals Henoch in den Himmel gehoben – ein so seltener Vorgang, daß Vorsokratiker Empedokles, ohne Hoffnung auf tatsächliche Himmelfahrt, diese wenigstens vortäuschen wollte. Die zweite, pragmatische Erklärung für al-Hakims mysteriöses Verschwinden: Sitt al-Mulk, Al-Hakims ältere Schwester, habe aus Todesangst vor ihrem unberechenbaren Bruder einige Beduinenscheichs zum Mordanschlag überreden können, um dann selber als Schattenkalifin zu herrschen. Eine weitere Version: Er sei zurückgekehrt und sofort als betrügerischer Doppelgänger entlarvt und hingerichtet worden.
Al-Hakims Tod brachte dem ägyptischen Volk keine Erleichterung. Al-Hakims Sohn Ali, so grausam wie sein Vater, ließ nun umgekehrt alle verfolgen, die sein Vater geschont hatte, und schonte die bis dahin Verfolgten, nach dem altbekannten Entnazifizierungs-Schema und dem ganzen bürokratischen Drumherum aus Verpflichtungsscheinen, Ahnenpässen, Beglaubigungen, Stasi-Akten. Christen, Sunniten und Bagdader Hofhistoriographen schilderten al-Hakim als ungläubiges, nämlich Mars und Saturn anbetendes Monstrum, das sich mit überlangen Fingernägeln sieben Jahre lang nicht wusch, und als eigenhändigen Knabenschlächter: Bei einer Metzgereibesichtigung mit Gefolge erschlug er, hieß es nachträglich, eigenhändig einen seiner Diener, nur um die Beilschärfe zu testen. Spätere Tendenz-Legenden behaupteten sogar, al-Hakim hätte Schuhmachern verboten, Frauenschuhe herzustellen, und unliebsame Konkubinen im Nil versenkt. Die Drusen aber ließen sich nicht hindern, Jahrhundert um Jahrhundert sehnlich auf die Rückkehr al-Hakims zu warten, der dann bald ein Weltreich aufrichten würde, mit den Drusen darin als auserwähltem Volk. Weiterhin blieb’s ein unlösbares welthistorisches Riesenproblem, daß al-Hakim sich – bei allem Zölibat – tatsächlich dauernd wiedergebar, mal als um 500 Jahre verfrühter Calvin, mit mehr oder weniger gebundnen Händen, mal als ein arabischer Girolamo Savonarola des Fatimidenreiches am Nil, frauen- und kunstfeindlicher als Ajatollah Chomeini, mal als ein um tausend Jahre verfrühter Taliban.
Durchbruch verspäteter Spätgotik
Girolamo Savonarola – Bußprediger, Bilderstürmer, Theokrat (1452–1498)
Er trat die Laufbahn eines Arztes an und plötzlich dem dominikanischen Kampfbund gegen Ketzer bei. Düstere Prophezeiungen gingen gespenstisch in Erfüllung, sogar der Blitzschlag in den Dom anno 1492. Aus der Hydra zumeist ziemlich windiger, verpönter Bußprediger, allen voran der haßvolle Bernhardino da Siena, wuchs in Savonarola ein Haupt nach, das mit noch lauterer Stimme von den üblichen Mahnungen und Drohungen kaum abwich: Um seine Donnerworte zu hören – Schwerter, die durch die Seele bohrten – drängten 16.000 Seelen in den Dom. Obwohl Konkurrenzpropheten wie Fra Mariano da Genazzano viel stilvoller und kunstreicher predigten als er, und obwohl Domenico da Ponzo noch viel frappantere Voraussagen losließ, erwies Savonarola sich als durchschlagender und magnetischer. Sein Ziel: der Kurie ihre frühere Macht zurückgeben. Wortgewaltig wetterte er gegen den Jahrmarkt der Vanagloria (Eitelkeit), Sinnlichkeit, Weltzugewandtheit, Putzsucht, Zinswucher, Hochzeitsprunk, Zuchtlosigkeit, Ausschweifung. Wissenschaft wurde von Fra Girolamo als schädlich eingestuft; Ragioni naturali (Vernunftgründe) standen dem Glauben unerfreulich im Weg. Klassische Lektüre lehnte er nicht in Bausch und Bogen ab, wollte sie aber auf Homer, Vergil, Cicero beschränkt sehen, unter Ausschluß von Ovid, Catull, Tibull, Terenz u. a. Den „Heiden Aristoteles“ zitierte er als Eidhelfer seiner Ansicht, man solle keine unpassenden Bilder dulden. Frauen empfahl er, ihre Kinder nicht von Ammen stillen zu lassen, um sie vor deren geringem Geist zu bewahren, der in der Muttermilch stecke (abergläubisch wie Dr. Rudolf Steiner, der Schwangere davor warnte, „Neger“ anzuschauen). Ständig kam er auf den Zorn Gottes zu sprechen, der offenbar in genau demselben Grad zu wecken war wie bei ihm selber. Den Prediger, also sich selbst, setzte er in der Hierarchie der Geister unmittelbar unter den untersten der Engel. Damit ihm aber seine Erfolge als Redner nicht zu Kopf stiegen, nahm er oft einen winzigen Totenkopf aus Elfenbein zur Hand und besah ihn sinnend. Als er auf dem Weg in eine Savonarolianische Theokratie im Herzog Ercole einen glühenden Traumverwirklicher seiner Ideen fand, bestärkte er ihn darin, Ferrara von schlechten Menschen zu reinigen. Er inaugurierte eine Kinderpolizei, die an Engelknaben erinnern sollte: Sie zerfiel in Friedensstifter, Mahner, Schnüffler, Petzer, Einsammler von sog. „Eitelkeiten“ und in Übermaler der Graffiti Andersdenkender. Sobald man den minderjährigen Kontrolleuren, Eintreibern, Beschlagnahmern nicht gehorchte, bekamen sie volljährige Verstärkung. Das Fegefeuer der Eitelkeiten, das anstelle des Karnevals stattfand, auf der Piazza della Signoria: Kunststickerei, Büsten und Gemälde schöner Florentinerinnen, Spieltische, Würfel, Karten, kostbare elfenbeinerne Schachfiguren, Trionfi, Liederbücher, Harfen, Lauten, Cembali, Dudelsäcke, Duftflaschen, Kunsthaar, Tricktracks, Schleier, Salbentöpfe, Spiegel, Puder, Kämme, Larven, Kunstbärte, Karnevalskostüme, Bücher, Pergamentdrucke von Boccacchio, Petrarca: alles bei Glockenklang auf baumförmigen Stufenpyramiden geschichtet (statt christliches Vorbild: Rogus, wo römische Imperatorenleichen verbrannt wurden), ging in Flammen auf. Priester erschienen olivenkranzgeschmückt, also ausgerechnet antik staffiert. (Spätere Parallele: USA-hassende Taliban, die gern Cola trinken.) Gotteslästerern wollte er die Zunge durchbohren, Spielsüchtige lebendig verbrennen. Eiskalt und knallhart forderte er für noch geringere Vergehen die Todesstrafe. Dienern und Sklavinnen, die ihre würfelnden und kartenspielenden Herren denunzierten, versprach er Freiheit und Lohn, was sich als undurchführbar erwies. Gleichwie es der Kirche nie gelungen war, überbordenden Karneval einzudämmen, gelang es Savonarola nicht, der Buhlerei und käuflichen Liebe Herr zu werden. Die in Florenz verbreitete Knabenliebe bekämpfte Savonarola als Sodomie. Die Diktatur der Guten gefiel nicht jedem: Florenz polarisierte sich in Arribiati (Wüteriche), die Unterschriftenlisten kreisen ließen und diese contra Savonarola in Rom einreichten, in Bigi (die Grauen), Tiepidi (Laue) und u. a. in Compagnacci (Kumpane), die seine Kanzel mit Unrat besudelten, so daß diese vor Benutzung erst abgehobelt werden mußte, seine Predigten mit stinkend geschwenkten Eselfellen (Vorform späterer Stinkbomben) und Knüttellärm auf Kästchen störten (wie später Adornos Studenten Vorlesungsboykott betrieben), und in Piagnoni und Frateschi, die gleichfalls Unterschriften sammelten, um seine einzigartige Frömmigkeit zu rühmen und zu bitten, ihn vor Exkommunikation zu bewahren. Hochfinanz, Stadtväter, Obrigkeiten, Zünfte zerrissen sich im aufgepeitschten Hexenkessel und Kompetenzgerangel die Mäuler über den Einpeitscher und Unruhestifter. Eine Einladung des Papstes, scheinbar überfreundlich, sagte er ab, aus gesundheitlichen Gründen, die ihn auch am Predigen hinderten; als er wieder zu predigen anhub, verbot der Papst ihm dies, offiziell aus Sorge um dessen Gesundheit. Er wiederum bezichtigte den Papst, durch die Todsünde der Simonie auf den Stuhl Petri gekommen zu sein und nicht an Gott zu glauben – starker Tobak. Der unerbittliche Ketzerjäger wurde dann selbst genauso unerbittlich als Ketzer widerrechtlich zum Tod verurteilt und auf derselben Piazza hingerichtet, auf der er die Bücher-usw.-Verbrennung inszeniert hatte.
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