1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 »Gott sei Dank«, sagte Clara, als sie ihre Freundin umarmte. »Wir haben uns solche Sorgen gemacht.«
»Ich nicht«, sagte Gabri, drückte sie aber trotzdem fest an sich. »Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich. »Du siehst beschissen aus.«
»Könnte schlimmer sein.«
»Wo warst du eigentlich?«, fragte Olivier.
Myrna sah keinen Grund, es ihnen nicht zu sagen.
»Bertha Baumgartner?«, sagte Gabri. »Bertha Baumgartner? Echt? In dieser Gegend gab es mal eine Bertha Baumgartner, und ich habe sie nicht gekannt? Wer war sie?«
»Du kennst sie also nicht?«, fragte Myrna. Gabri und Olivier kannten jeden.
»Du etwa auch nicht?«, fragte Clara und folgte ihr zu der Verbindungstür zwischen Bistro und Buchladen.
»Nein. Ich habe keine Ahnung.« Myrna blieb stehen und blickte in erstaunte Gesichter.
»Armand ist auch Testamentsvollstrecker, sagst du?«, fragte Olivier. »Dann muss er sie kennen.«
»Nein. Keiner von uns. Nicht einmal der Notar.«
»Und sie hat hier die Straße runter gewohnt?«, fragte Clara.
»Na ja, ungefähr zwanzig Minuten von hier. Seid ihr sicher, dass euch der Name nichts sagt?«
»Bertha Baumgartner«, wiederholte Gabri, offensichtlich gefiel ihm der Klang.
»Ich warne dich«, sagte Olivier. Er drehte sich zu Clara und Myrna. »Er sucht nach einem Pseudonym, mit dem er die Karnevalseinladung an Premierminister Trudeau unterschreiben kann. Wir haben den Verdacht, dass Gabri Dubeau auf der Sofort-schreddern-Liste steht.«
»Ich habe ihm ein paar Briefe geschickt«, gab Gabri zu. »Und zwei, drei Fotos.«
»Und?«, sagte Olivier.
»Eine Haarlocke. Aber zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass sie von Olivier war.«
»Wie bitte? Du spinnst wohl!« Olivier fasste sich an den Kopf. Jede Strähne seiner dünner werdenden blonden Haare war kostbar.
Als Myrna zwanzig Minuten später in warmen, trockenen Sachen aus ihrem Loft herunterkam, stellte sie fest, dass Gabri und Olivier draußen waren und Wege freischaufelten.
»Sie graben doch nicht etwa Ruth aus?«, sagte sie zu Clara.
Das war, als würde man ein Schreckgespenst freilassen. Nichts, was man leichthin tat. Nicht zuletzt deshalb, weil sie sich nur sehr schwer wieder einfangen ließ.
»Ich fürchte, doch. Und zu essen geben sie ihr auch. Sie haben ihr Suppe in einer Scotchflasche gebracht, in der Hoffnung, dass sie den Unterschied nicht merkt.«
»Ruth vielleicht nicht, aber Rosa schon.«
Die Ente war heikel.
»Wohin gehst du?«, fragte Clara und folgte Myrna zur Tür.
»Zu Armand. Das Testament soll verlesen werden.«
»Kann ich mitkommen?«
»Willst du das wirklich?«
»Klar. Ich laufe lieber durch einen Schneesturm, als mit einem Buch und einem Glas Scotch am Kamin zu sitzen.«
»Dachte ich mir«, sagte Myrna und riss die Tür auf. Sie stemmte sich gegen den Wind und stapfte durch das dichte Schneetreiben.
Sie kannte Bertha nicht, aber sie konnte sie immer weniger leiden.
Armand stand in seinem Arbeitszimmer, das Telefon am Ohr.
Hin und wieder gab eine Lücke zwischen den herumwirbelnden Schneeflocken den Blick auf Myrna frei, die den Dorfanger umrundete und auf sein Haus zukam.
Reine-Marie hatte ihm gesagt, dass die Telefonleitung tot war, aber er wollte sich vergewissern, ob das Telefon inzwischen nicht vielleicht doch wieder funktionierte.
Tat es nicht.
Er sah auf seine Uhr. Erst halb zwei nachmittags, aber es kam ihm vor wie Mitternacht.
Dreieinhalb Stunden, seit er vor Bertha Baumgartners Haus in seinem Auto gesessen und den Anruf erhalten hatte. Dreieinhalb Stunden seit dem scharfen Wortwechsel.
Der Gedanke daran beschwor den Geruch feuchter Wolle herauf, das Geräusch von Schnee, der auf sein Auto fiel.
Er hatte gesagt, er würde sich wieder bei ihnen melden. Ihnen das Versprechen abgenommen, nichts zu unternehmen, bevor sie nicht von ihm hörten. Und jetzt das.
Reine-Marie begrüßte Myrna, und nachdem Armand den stummen Hörer aufgelegt hatte, ging er zu den anderen in die warme Küche, zu Suppe, Sandwiches, Bier und der Verlesung des Testaments.
»Im Radio haben sie gemeldet, dass der Schneesturm den gesamten Süden von Québec erfasst hat«, sagte Myrna und zupfte an ihren von der Mütze zusammengedrückten Haaren herum. »Aber im Lauf der Nacht soll er nachlassen.«
»So weiträumig?«, sagte Armand.
Reine-Marie musterte sein Gesicht. Er wirkte erleichtert statt besorgt.
In der Wohnung von Annie und Jean-Guy in Le Plateau in Montréal flackerte das Licht.
Sie verstummten und blickten zur Deckenlampe.
Sie flackerte. Flackerte.
Dann brannte sie ruhig weiter.
Annie und Jean-Guy wechselten einen Blick und hoben die Augenbrauen, dann nahmen sie ihr Gespräch wieder auf. Jean-Guy berichtete ihr von seinem morgendlichen Treffen mit den internen Ermittlern.
»Solltest du irgendwas unterschreiben?«, fragte Annie.
»Woher weißt du das?«
»Also war es so?«
Er nickte.
»Hast du?«
»Nein.«
»Gut.«
Erneut sah er die Papiere vor sich, die sie ihm über den Tisch zuschoben, und ihre erwartungsvollen Gesichter.
»Du hattest recht. Sie haben etwas vor. Auf deinen Vater könnte mehr zukommen als eine Suspendierung oder sogar eine Entlassung.«
»Zum Beispiel?«
»Kann ich nicht sagen. Sie haben keine Anschuldigungen erhoben, aber sie sind immer wieder auf die Drogen zurückgekommen. Die, die er durchgelassen hat.«
»Das wussten sie doch schon«, sagte Annie. »Er hat es ihnen gleich danach gesagt. In ganz Kanada und bis in die Vereinigten Staaten wurde die Polizei in Alarmbereitschaft versetzt. Die DEA hat das Zeug, das über die Grenze ging, abgefangen, stimmt’s?«
»Mithilfe deines Vaters, ja.«
»Und mit deiner.«
»Ja. Aber es fehlt immer noch eine große Menge. Mehrere Kilo. Hier. Irgendwo in Montréal. Monatelang haben wir danach gesucht. Sämtliche Informanten eingespannt. Nichts. Wenn das Zeug in Umlauf kommt …«
Er hielt inne, unsicher, wie er den Satz beenden sollte.
»Das Zeug ist furchtbar, Annie.«
»Ich weiß.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, das glaubst du nur. Stell dir das Schlimmste vor. Das Allerschlimmste.«
Sie tat es.
»Das wäre das Beste, was passieren könnte«, sagte er.
Annie lächelte, weil sie dachte, er würde sie auf den Arm nehmen. Übertreiben. Doch dann verschwand ihr Lächeln.
So schlimm.
»Sie wissen, dass es einen Shitstorm gibt, sobald es in Umlauf kommt. Sie brauchen also einen Sündenbock.«
»Sie?«
»Die.« Er hob die Hände. »Was weiß ich. Mit diesem politischen Scheiß kenne ich mich nicht aus. Dafür war immer dein Vater zuständig.«
»Ist es denn etwas Politisches?«
»Ich glaube schon. Um die armen Schweine, die das Zeug nehmen, scheint sich jedenfalls keiner groß Sorgen zu machen. Jeder will nur den eigenen Arsch retten.«
»Weiß Dad das?«
»Ich glaube, er vermutet es. Aber er versucht immer noch, das Zeug zurückzubekommen. Was anderes interessiert ihn nicht. Als ich heute Morgen da reinmarschiert bin, dachte ich wirklich, sie würden mir mitteilen, dass sie die Ermittlungen einstellen und deinem Vater seinen Posten zurückgeben.«
»Und jetzt?«, fragte Annie.
»Keine Ahnung«, sagte er und ließ sich schwer zurücksinken. »Ich hab das alles satt, Annie. Ich hab die Schnauze voll.«
»Ich weiß. Es ist zum Kotzen. Ich bin froh, dass du zu Dad hältst.«
Jean-Guy nickte stumm.
Wieder hörte er Marie Janviers beruhigende Stimme. All das geht vorüber, Chief Inspector. Sobald Sie unterschrieben haben. Dann kehrt wieder Normalität ein.
Benedict, Myrna und Armand starrten auf die Seite, die vor ihnen lag.
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