© Frank Becker
Dorothea Renckhoff,
geboren 1949 im Ruhrgebiet, arbeitete nach dem Studium als Dramaturgin an verschiedenen deutschen Bühnen. Heute lebt sie als freie Autorin in Köln und hat u. a. Opernlibretti, Hörspiele und Theaterstücke veröffentlicht. »Verfallen« ist ihr erster Roman.
Zum Buch
Die Geheimnisse von Jugend und Alter, von Kunst und Vergänglichkeit
Über Nacht wird Lucille zum Star der Opernbühne, doch sie selbst bleibt von Geheimnissen umgeben. Nur der junge Erzähler weiß, dass sie noch vor kurzem ein unscheinbares Mädchen mit einem schwachen Stimmchen war – und dass ihre Verwandlung mit der Baracke am Rand einer großen Baugrube zu tun haben muss. Doch was verbindet Lucille mit den zwielichtigen Bewohnern dieses Schuppens? Und woher stammen die plötzlichen Zeichen von Alter auf ihrem Gesicht? Zunehmend füllt sich die Realität mit surrealen und phantastischen Erscheinungen. Die elende Baracke scheint Paläste und Wunder zu bergen, aber auch eine Falltür in den Tod …
Verfallen erzählt auf betörende Weise von der Beziehung zwischen Kunst und Vergänglichkeit, von der verzweifelten Suche nach einem Ausweg aus Alltäglichkeit und Mittelmaß – und von einer zeitlosen Freundschaft, die Jugend und Alter übersteigt.
»Ich spürte, was sich da entfaltete, und sah Lucille wie einen Sturm von Leben über diese riesige Bühne gehen.« Schon bei der ersten Premiere der jungen Sängerin erkennt jeder im Publikum, dass er die Geburt einer Jahrhundertstimme miterlebt. Ihr Gesang scheint eine übernatürliche Kraft zu verströmen, die den Zuschauer bannt wie ein Zauber.
Über Nacht wird Lucille zum Star der Opernbühne, doch sie selbst bleibt von Geheimnissen umgeben. Nur der junge Erzähler weiß, dass sie noch vor kurzem ein unscheinbares Mädchen mit einem schwachen Stimmchen war – und dass ihre Verwandlung mit der Baracke am Rand einer großen Baugrube zu tun haben muss. Doch was verbindet die erfolgsverwöhnte Diva mit den zwielichtigen Bewohnern dieses Schuppens? Weshalb weigert sie sich, auf Gastspielreise zu gehen, und woher stammen die plötzlichen Zeichen von Alter auf ihrem Gesicht?
Mit dem Erzähler des Romans wird der Leser hineingezogen in eine magische Welt aus Kunst und Musik, in der sich die Realität immer mehr mit surrealen und phantastischen Erscheinungen füllt. Die elende Baracke scheint Paläste und Wunder zu bergen, aber auch eine Falltür in den Tod …
Dorothea Renckhoff
Roman
Berlin University Press
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Alle Rechte vorbehalten
© by Berlin University Press in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2014
Der Text basiert auf der Ausgabe Berlin University Press, Berlin & Köln 2014
Lektorat: Anna-Maria Valerius
Covergestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH
Hamburg Berlin
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main
ISBN: 978-3-86280-076-6
http://www.verlagshaus-roemerweg.de/Berlin_University_Press/
Inhalt
Verfallen
Ein leises Klingen, die Tür des Fahrstuhls öffnet sich, gleitet lautlos auseinander. Alle Geräusche sind gedämpft in der weiten Hotelhalle, auch meine Schritte auf dem weichen Teppich, der mich so selbstverständlich führt, als wäre ein unsichtbarer Weg in ihn eingezeichnet.
Ein ganz schwacher Geruch von Blumen liegt in der Luft, kaum zu spüren. Kein künstlicher Duft, kein Parfum. Der Hauch geht aus von dem riesigen Strauß in der großen, bauchigen Vase, dicht beim Eingang. Früher schaute ich von der Straße draußen herein und sah sein Schimmern durch die hohe Glastür. Meistens waren es Rosen damals; ihr blutig brennendes Rot war nur durch eine dünne Scheibe von der eisigen Luft und von den fallenden Schneeflocken getrennt. Heute dominieren Lilien, weiß, rosa und violett. Sie sind kurz vor dem Welken; man sieht es nicht, ihr Aussehen ist makellos, aber in ihrem Geruch ist schon etwas Verdorbenes wie eine Ahnung von Kompost.
Der Portier lächelt und grüßt, wie so oft in diesem vergangenen Jahr. In diesem Jahr bin ich sechzehn geworden. Aber das denkt keiner, der mich sieht. Achtzehn, das ist das Mindeste. Die Meisten halten mich für älter als zwanzig. Selbst dieser Portier, mit seinem geschärften Blick für vielerlei Menschen, hat mich auf mindestens neunzehn taxiert, als Lucille ihn fragte.
Heute öffnet er die Tür zum letzten Mal für mich.
Lucille sitzt oben in ihren Zimmern; ich habe gehört, wie sie den Schlüssel hinter meinem Rücken im Schloss drehte; ich habe ihre Schritte gehört, die zu dem blauen Sofa zurückkehrten. Sie waren kaum noch zu vernehmen. Ich hätte so gerne noch einmal ihre Stimme gehört.
Einen winzigen Augenblick bleibe ich auf der Schwelle stehen, dann trete ich auf die Straße, wo man den zarten Blumenduft nicht mehr riecht. Ich weiß nicht, niemand weiß, ob ich jemals wieder ein Luxushotel werde betreten können. Aber eigentlich war ich auch bisher nie selbst Gast in diesem Haus, sondern immer nur Gast von anderen Gästen, einer, der nie wirklich hergehörte, der sich hereingemogelt hatte in den geschützten Raum. Wie ein Hochstapler, der zerrissene Wäsche unter seinem eleganten Anzug trägt und fürchtet, sein Hemd könne einen zerfransten Ärmel unter der Jacke vorschieben.
Auf der Spur von Lucille ist mir das bald gleichgültig geworden; es war so schwer, ihren immer rasenderen Schritten und Sprüngen zu folgen. So schwer, dass ich an die Figur, die ich abgab, nicht mehr denken konnte, und diese Selbstverständlichkeit hat mich hier wohl auch so heimisch wirken lassen. Selbst meine Unfähigkeit, Trinkgelder zu geben, schrieb man bald der Knauserigkeit der sehr Reichen zu.
Nur ganz am Anfang jagte mir dies Hotel mit seinem Anspruch Angst ein. Das war vorbei, sobald ich zum ersten Mal mit Lucille jene merkwürdige Baracke betrat, aus deren schäbiger Enge dann magische Blüten und wunderbar prächtige Vögel wucherten. Doch vorher empfand ich noch, was ich später vergaß, in diesem immer tolleren Wirbel der Ereignisse vergaß – dass ich nicht hergehörte.
Ich empfand es, und die meisten von Annas Gästen ließen es mich deutlich fühlen, als wir ihren Geburtstag in einem der getäfelten Salons feierten. Anna hielt zu mir, dachte ich, Anna liebte mich. Aber sie sah es doch, wenn ihre Mutter unauffällig meinen dunklen Anzug musterte und dann rasch den Blick einem der anderen Herren zuwandte, die alle im Smoking erschienen waren. Diese richtigen Herren hatten Geschenke gebracht, teure Geschenke, das sah man schon an der Verpackung, und Blumen, so erlesen, dass ich ihre Namen nicht kannte. Diese richtigen Herren waren erwachsen, richtig erwachsen, und mit leisem Spott sahen sie auf die rote Rose, die ich für Anna gekauft hatte. Von einem der Ober hatte ich ein Wasserglas erbeten, um sie vor ihr Gedeck zu stellen. Rosen sind teuer im Winter, für mich bedeutete diese eine große Ausgabe, aber man sah sie kaum neben der Tischdekoration.
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